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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Märleinbuch 1

Peter Kling
Das Märleinbuch für meine lieben Nachbarsleute
Leipzig, Weygandsche Buchhandlung, 1799

Vorrede

Ich hätte es wahrlich nie gewagt, Märlein zu schreiben, sie öffentlich vor der ganzen Welt zu erzählen, und wäre zu empfindlich gewesen, mich rezensieren zu lassen, weil man von einer Jungfer nicht mehr spricht als nach ihrem Hochzeitstag, und die christliche Liebe den Strohkranz der Sünderin lieber sieht als den bräutlichen Myrtenkranz des unschuldigen Mädchens.

Ich habe zwar immer große und kleine Kinder am schönen Sommerabend außen vor meiner Tür versammelt gehabt, und alle zogen mich beim Rock, wenn ich aufstehen wollte und sagte: »Kinder, es wird Nacht, wir wollen auseinandergehen und morgen fortfahren.« Alle sagten darauf hin, sie wollten mir eine ganze Nacht zuhören.

Allein, was nutzt das? Es sind Kinder, die am Wunderbaren Gefallen finden, und keine Philosophen, deren erleuchtete Geister über dergleichen Kleinigkeiten hinwegsehen, Kinder, die für mich eingenommen sind und keine Krückler, die schon das Märlein hassen, weil es nicht der Himmelsweg oder eine lateinische Grammatik ist, und ehe sie mich gehört haben, schon sagen: »Was soll das Gespiele?«

Denke eben, es wird gar viel gespielt und auf dem Himmelsweg so manches Märlein erzählt, und ob das Märlein lateinisch oder deutsch ist, möchte gleichviel sein.

Und weil denn mein Nachbar ein Buchhändler ist und neben mir unter den Kindern gesessen und sein Pfeifchen geraucht hat, und mich gebeten: Soll’s drucken lassen, dass mehrere Kinder mit anhören können, und seine Taler im Sack sich regten, so nehme ich eine Autormiene an und sage in der Vorrede: Ein gutes Märlein sei nichts weniger als verderblich, und nütze mehr, als mancher seichte Roman, befördere einen leichten Schlaf und mache süße Träume.

Und da die Welt nicht bloß wolle belehrt, sondern auch unterhalten sein, da der Geschäftsmann in den Erholungsstunden auch ein StadtMärlein gar zu gerne höre, und die gesamte Damenwelt mit dieser Ware starken Verkehr treibe, so hielt ich es eben für keine Sünde, ein Märleinbuch für meine lieben Nachbarsleute herauszugeben.

Sollte mich freuen, wenn auch außer meiner Nachbarschaft das Buch ein Häuflein fände, das mir gerne zuhörte, und wenn in der Folge zu meinem Buchhändler recht viele Kinder kämen und sagten: Erzähl uns ein Märlein!

Und nun, meine Kinder, immer in der Reihe herumgesetzt und hübsch still sein, ich erzähle!

Erstes Bändchen

Das Märlein

Es war einmal ein Märlein, das reiste durch das ganze Land, ein Kind der Liebe, wie es selbst dem Torwart sagte, ein Freudenmädchen, die es jedermann ungefragt ins Ohr raunte, aber auch jedermann sagte: Sag es nicht weiter!

Da war denn mein Nachbar, der Glockengießer und Säckleinträger und Organist und Trompeter und Pfeifer in meinem Städtlein gewesen, der nichts verschweigen konnte, und sollte es ihm das Leben kosten, und dem der Zeitungsschreiber schon hundert Mal den Text gelesen, sein guter Freund, aber unwillig auf ihn, weil er jede Nachricht, die er bei ihm erfuhr, ehe sie noch gedruckt war, im Wirtshause ausläutete. Dem war das Wörtlein »Sag’s nicht weiter!« ein Klöppel in seine Glocken, und er probierte sie alle nacheinander hin und wieder, klingelte es in der Kirche aus unter der Predigt, machte Variationen auf seiner Orgel und probierte die Strohfiedel vom Turm, dass die Mütter alle herzlich erschracken und Haussuchung anstellten.

Ja er war so keck, da man es nicht merken wollte, das arme Mädchen auf der Straße auszupfeifen und mit den Fingern auf sie zu deuten, wie die Bücherschreiber zuweilen, wenn sie eine Hand neben eine Sottise drucken lassen.

Da wurde das schöne Kind ein Märlein der ganzen Stadt und musste die Stadt meiden, denn es sprachen schon nicht allein alle Herren und Damen von ihr, sondern sogar Kinder auf den Gassen.

Sie schlug die Augen nieder und ging. Und schon am Tor des nächsten Ortes erzählte es der Examinator der Wache und sagte laut: »Da kommt sie!«

Sie blickten ihr scharf unters Gesicht und fragten weder woher noch wohin, dachten, sie ist ohne Pass gekommen, kann ohne Pass wieder gehen, und meinten allerlei und wussten nichts.

»Nun, Mägdlein«, sprach der Wirt, »übernachten?«

Sie antwortete kurz und ging weiter.

»Wolltest du gleich ein ehrliches Mägdlein sein«, sprach sie zu sich, »ehrbar und eingezogen leben, man glaubte dir nicht, weiß alle Welt schon, dass du ein Liebeskind seiest, und haben keinem Glauben an deine Tugend. Die Einsamkeit will ich suchen, das abgelegene Hüttlein am Wald ansprechen, mich aufzunehmen. Da nehmen sie mich an, für das, was ich bin, für ein ehrliches verlassenes Mägdlein.«

Sie ging nun munter ihren Weg, vergaß das Bittere ihrer Reise und hoffte das bald zu finden, was sie suchte.

Da hielt sie ein Pfarrherr an. »Du bist ein Liedeskind«, sprach er, »ein Freudenmädchen, und darfst nicht weiterziehen, du habest denn vorher öffentlich in der Kirche Buße getan.« »Meine Mutter, ehrwürdiger Herr, ist tot. Sie hat gesündigt, sie hat gebüßt!«

Du bist in Sünden empfangen und geboren …«, fuhr er fort.

»… wie wir alle«, unterbrach das Mägdlein seine Rede.

»Mitnichten«, sprach der Pfarrherr, »ich will heute alle Mütter und Pächter warnen, und brauche ein Beispiel.«

Und sie musste in die Kirche, errötete und weinte am Altar, und statt gerührt zu werden, verliebten sich die Jünglinge in sie, und die Mägdlein dachten Arges im Herzen und konnten nicht schlafen.

Kaum war sie weg, so kam der Gerichtsfrohn auf sie zu und sprach: »Deine Mutter hat das Strafgeld ihrer Schande nicht erlegt, und weil du nichts hast, so befiehlt dir die Obrigkeit, dich nimmer sehen zu lassen im Städtlein.«

»Ich bin schon auf dem Weg«, sprach sie leidend und ging.

Des Fürsten Astrolog begegnete ihr. »Nun, habe ich es nicht erraten«, sprach er, indem er mit seinem Tubus sie anblickte. »Es kommen die letzten Zeiten und die Welt liegt im Argen. Hätte ich einen Kometen gesehen, ich wäre nicht so erschrocken über dieses Mädchengesicht, das den Teufel im Auge hat.«

»Ihr seid unter aller Kritik«, sprach der Hofphilosoph und Bücherzensor, »eilt und sucht die Grenze.«

Es war Nacht, das Mägdlein fand keine Herberge, die Leute fürchteten sich vor ihr. Sagten einige, es sei ein Engel und ihre Behausung zu schlecht. Andere sagten: »Geh, du schändest meine Hütte.« Wieder andere: »Ich habe Töchter, die mannbar werden und fürchte das Beispiel.«

Und sie musste unter einem Baum übernachten und hatte fürchterliche Träume, bald von Teufeln, von Geistern und Gespenstern, von Zwergen und Unholden, und konnte kein Auge zutun vor Angst, stand auf und ging, sah sich neben sich gehen, feurige Riesen aus der Erde steigen, um sie zu morden, und sank erschrocken wiederum nieder. Bald kamen goldene Feen, trösteten sie und brachten ihr Geschenke, berührten sie mit ihrem Zauberstab, und sie schlief bis zum Morgen.

Lange wanderte sie herum, ohne eine bleibende Stätte zu finden. Endlich nahm ein Landmann sie auf, und sie blieb bei ihm viele Jahre.

Die Kinder des Mannes waren so gern um sie herum, und sie wusste sie zu unterhalten auf die angenehmste Weise.

Dem gab sie gemalte Tiere, jenem Soldaten, diesem Zwerge, jenem Riesen, der eine bekam ein Trompetchen, der andere eine Pfeife, eine Trommel. Es war ein Lärmen um sie herum, dass die Altten ihre innige Freude hatten. Und wenn sie dann in die Rockenstuben kam, wie es bei der Landjugend gebräuchlich ist, und jedes erzählte, was ihm geträumt, so hörte man niemand lieber als sie, denn sie wusste den Ton zu treffen, der die Menge hinhielt, und träumte schöner als alle Mädchen.

Und ihre Träume gingen von Ort zu Ort, und sie wurde wiederum das Märlein der Gegend.

Der Winter verging angenehm in ihrer Gesellschaft, und alles freute sich darauf. Selbst die Fräulein kamen vom Schloss und hörten ihr zu, und träumten, wie sie sagten, noch einmal so süß, wenn sie das Märlein hatten erzählen hören.

Da wurde der Herr des Ortes krank, und die Nächte wurden ihm so lang. Weil die Untertanen ihn liebten, so wachte eines um das andere, aber als das Märlein kam, ließ er es nimmer von sich.

»Deine Reden«, sprach er, »sind täuschend, deine Sachen sind nie geschehen, aber man hört sie gerne und wird wieder Kind.«

Er bekam seinen Schlummer wieder und wollte ihn alleine dem Märlein verdanken.

Nun erschien die Zeit ihres Glückes. Sie erschien mit ihrem Herrn bei Hofe und wurde eine der ersten Kammerfrauen des Fürsten.

Alle Abende wurde erzählt, und alles bewunderte sie und konnte nicht satt werden, zu hören.

Doch verliest sie die gemeinen Zirkel nicht. Stahl sich von der Tafel in die Versammlungen ihrer alten Gespielinnen und blieb das gemeine gute Mädchen nach wie vor.

Sie machte kleine Reisen, und kein Gerichtfrohn ließ das Freudenmädchen mehr hart an, zog sie zwar öfters ein, aber mit Bitten seinen Kindern zu erzählen. Der Pfarrherr eiferte nimmer auf der Kanzel über sie, war selber zwar in der neuen Welt und versäumte denStudiertag darüber, der Richter hatte keinen Gedanken mehr sie zu verweisen, gab ihr einen feinen Pass, nachdem er sie vorher gut bewirtet hatte, und der Torwart sah er sie von Weitem kommen, nahm sein Mützlein unter den Arm.

Doch blieb sie im Munde der ganzen Stadt, und kleine und große Kinder hören sie noch bis auf diesen Tag mit Wohlgefallen an, die Philosophen verlassen ihren Seelenapparat.

Während andere darüber spotten, ist ihre Antwort: Der Geschmack ist verschieden, und jedes Steekenpferd hat eine andere Farbe. Es gibt Stunden im Leben, wo man gerne träumt, gerne Kind wird.

Da das Märlein ein altes Mütterlein geworden ist, nehmen sich nicht allein Kinder, sondern alle alten Weiber um sie an, und kein moderner Moralist, er schreie, wie er wolle, verjagt das Märlein mehr.