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Die Geschichte vom Werwolf Teil 11

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 11
Der Amtmann Magloire

In dieser abenteuerlichen Stimmung ver1ebte Thibaut, ohne noch einen festen Entschluss gefasst zu haben, die letzten Tage des Jahres. Vermutlich dachte er an die Ausgaben, welche der Neujahrstag für jedermann herbeiführt, und je näher er diesem Zeitabschnitt kam, verlangte er von seinen Lieferanten doppelte Ration Wildbret, wofür er natürlich auch doppelten Nutzen erhielt. Abgesehen daher von einer ziemlich starken brandroten Locke, begann Thibaut das neue Jahr in beträchtlich besseren äußeren Verhältnissen. Sein Gemüt war freilich sehr wund und unruhig. Aber Thibaut war gut gekleidet, hatte ein Dutzend Taler in der Tasche und sah nicht mehr aus wie ein schlichter Handwerker, sondern wie ein wohlhabender Landwirt oder ein behäbiger Bürger, der nur noch zu seinem Vergnügen arbeitet.

In diesem Aufzug begab sich Thibaut zu einem ländlichen Fest. Man fischte die prächtigen Teiche von Berval und Pondron. Das Fischen ist für den Eigentümer oder Pächter eine wichtige Angelegenheit und für die Zuschauer zugleich ein großes Vergnügen. Eine Meile in der Runde strömte die ganze Bevölkerung herbei. Man machte die Fischerei wochenlang vorher bekannt, und da man mehrere Tage braucht, um einen Teich zu leeren, so ruft man die Neugierigen erst für den zweiten, dritten oder vierten Tag zusammen, und es findet sich nicht nur das Volk, sondern auch die elegante Welt der Umgebung zusammen. Je mehr Fische in das Zugnetz kommen, welches durch das in dem abgelassenen Teich zurückgebliebene schlammige Wasser gezogen wird, desto lauter äußert sich die Freude der Zuschauer, denn diese Zuschauer sind nicht wie unser Theaterpublikum. Sie kommen nicht, um ihre Gefühle zu bewältigen und gleichgültig zu erscheinen, nein, sie kommen, um sich wirklich zu unterhalten, und so oft nun ein Netz mit schönen Karpfen, Hechten und Schleien ans Ufer gezogen wird, applaudieren sie nach Herzenslust.

Zu einem solchen Fest begab sich Thibaut, wie so viele Tausend andere Neugierige. Er arbeitete nicht mehr, er fand es bequemer, seine Wölfe für sich arbeiten zu lassen. Er begann schon eine vornehme Miene anzunehmen und sich überall vorzudrängen. Während er sich Platz machte, drückte er das Kleid einer Dame, an deren Seite er Platz zu nehmen suchte. Die Dame hielt etwas auf ihre Kleider, und außerdem mochte sie wohl gewohnt sein, zu gebieten und sich herrisch zu benehmen, denn sie sah sich unwillig um und sagte: »Kann sich der Tölpel nicht vorsehen?«

Aber die Dame war so hübsch, und die beleidigenden Worte kamen aus einem so schönen Mund, dass Thibaut, statt mit einem Schimpfwort von gleichem Kaliber zu antworten, bescheiden zurücktrat und eine Entschuldigung stammelte.

Zu der ganzen Aristokratie nimmt doch die Schönheit immer den höchsten Rang ein. Wäre die Dame alt und hässlich gewesen, so hätte sich Thibaut gewiss nicht auf diese Weise abfertigen lassen. Vielleicht war seine Aufmerksamkeit auch durch das sonderbare Äußere des Begleiters der Dame in Anspruch genommen. Dieser war ein dicker, kleiner Mann von etwa sechzig Jahren, ganz schwarz und äußerst sorgfältig gekleidet. Aber er war so klein, dass sein Kopf kaum bis an den Ellbogen der Dame reichte. Und da diese ihm unmöglich den Arm geben konnte, so lehnte sie sich mit majestätischem Anstand auf seine Schulter.

Der Kleine war wirklich possierlich mit seinen kurzen Beinchen, seinem Schmerbauch, der kaum in den Hosen Platz hatte, seinen runden, fetten Ärmchen, seinen zarten, weißen Händchen, seinem kugelrunden, stark geröteten Gesicht, seinem sorgfältig gepuderten und frisierten Haar und seinem kleinen Zopf, der bei jeder Bewegung des Kopfes auf dem Rockkragen hin und her tanzte. Und dabei war sein Gesicht so heiter und wohlgemut, aus seinen blauen Augen sprach so viel Gutmütigkeit, dass man sich unwillkürlich zu ihm hingezogen fühlte, denn man sah es dem Männchen an, dass er auf angenehmen Zeitvertreib zu sehr bedacht war, als dass er seinen Nebenmenschen etwas hätte zuleide tun mögen.

Als er seine Begleiterin über Thibauts Unhöflichkeit schimpfen hörte, schien der kleine Mann sehr unangenehm berührt zu werden.

»Nur gemach, Madame Magloire. Es ist nicht so arg, Frau Amtmannin«, sagte er, seine Nachbarn durch diese wenigen Worte mit ihrem Namen und Stand bekannt machend. »Sie haben da einem armen Burschen, dem dieses Versehen sehr leidtut, ein hartes Wort gesagt.«

»Sie wünschen wohl gar, Monsieur Magloire«, erwiderte die Dame, »dass ich mich recht schön bei ihm bedanke, weil er mein neues blondes Damastkleid zerdrückt und mich noch dazu auf den Fuß getreten hat?«

»Ich bitte um Verzeihung, meine Dame«, sagte Thibaut. »Als Sie sich umsahen, wurde ich durch den Glanz Ihrer Schönheit geblendet, und sah nicht mehr, wohin ich den Fuß setzte.«

Dies war ein recht wohlgesetztes Kompliment für einen Einsiedler, der seit drei Monaten fast nur mit Wölfen umging. Aber diese Worte machten nur einen schwachen Eindruck auf die schöne Dame, denn sie antwortete nur mit einer höhnischen Miene. Sie hatte mit einem gewissen Feingefühl, das allen Frauen eigen ist, seinen Stand erraten.

Der kleine dicke Mann war nachsichtiger, denn er klatschte in seine Händchen und sagte: »Bravo! Das war gut gegeben! Ihr wisst zu loben, Freund, und mit Damen zu reden. Meine Teure, ich hoffe, Sie wissen das Kompliment ebenfalls zu schätzen. Um Monsieur ebenfalls zu beweisen, dass wir wahre Christen sind und ihm nicht zürnen, wollen wir ihn ersuchen, uns zu begleiten und eine Flasche alten Traubensaftes mit mir auszustechen.«

»Daran erkenne ich Sie, Monsieur Nepomuk«, sagte die Dame höhnisch. »Sie benutzen jede Gelegenheit, einen Zechbruder aufzutreiben. Aber Sie wissen doch, dass Ihnen der Doktor streng verboten hat, zwischen den Mahlzeiten zu trinken.«

»Das ist wahr, Frau Amtmannin«, erwiderte der Kleine. »Aber er hat mir nicht verboten, einem artigen jungen Menschen etwas Angenehmes zu erweisen. Legen Sie daher das finstere Gesicht ab, Susanne. Es steht Ihnen gar nicht schön. Monsieur, der Sie nicht kennt, möchte wohl glauben, wir zankten uns um ein Kleid. Um ihm das Gegenteil zu beweisen, will ich Ihnen das schöne Atlaskleid spenden, das Sie schon so lange wünschen, wenn Sie ihn bereden, uns nach Hause zu begleiten.«

Dieses Versprechen hatte eine magische Wirkung. Madame Magloire wurde auf einmal freundlich, und da der Fischfang bald zu Ende war, so nahm sie ohne großen Widerwillen den Arm, den ihr Thibaut mit ziemlich linkischem Anstand bot.

Thibaut, der aus dem kurzen Gespräch erriet, dass sie die Frau des Amtmannes sei, ging mit stolzer, triumphierender Miene durch die Menge. Der Verlobte der armen Agnelette, der Anbeter der schönen Müllerin sah sich schon im Geist als Liebhaber einer Amtmannin und sann auf den Nutzen, den er von einem so sehnlich gewünschten und zugleich so unerwarteten Glück ziehen könne.

Die schöne Dame schien übrigens sehr nachdenkend und zerstreut. Sie sah sich nach allen Seiten um, als ob sie jemand suchte, und das Gespräch würde sehr einsilbig gewesen sein, wenn der kleine Mann, der bald neben Thibaut, bald neben seiner Susanne trippelte, nicht sehr redselig gewesen wäre.

Während Thibaut berechnete, Susanne träumte und das Amtmännchen schwatzte und sich mit einem feinen Batisttuch den Schweiß von der Stirn wischte, kam die kleine Gesellschaft in das etwa eine halbe Stunde entfernte Dorf Erneville.

In diesem hübschen kleinen Dorf, ganz nah bei dem Schloss Vez, wohnte der Amtmann Magloire.