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Der goldene Fels – Kapitel 10

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Zehntes Kapitel

Burkhardt war in einer furchtbaren Aufregung aus der Villa fortgegangen, als die Zeugen der schrecklichen Szene das Arbeitszimmer des Kommerzienrates verließen. Mit gesenktem Kopf, zum Erdboden gerichteten Blicken war er auf dem Fabrikhof in das kleine, backsteinrote Werkmeisterhaus eingetreten, in dem er wohnte. Dort hatte er sich eingeschlossen, um erst einmal der wild anstürmenden Gedanken Herr zu werden, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen, das in ihm gärte. Mit grausamer Klarheit standen zwei Bilder vor ihm, die nicht weichen und verblassen wollten. Der leblos auf dem Boden ausgestreckte Körper, den er kurz vorher in trotziger Leidenschaft lebendig vor sich gesehen hatte, war das eine der ihn erbarmungslos verfolgenden Schreckbilder. Jener tote Mann, den er im Leben gehasst hatte, dessen Tod er auch jetzt nicht beklagte, nicht beklagen konnte. Marthas Antlitz, ihr geliebtes, verehrtes Antlitz war das andere, das ihn, furchtbar verwandelt, verfolgte. Der Blick, der aus ihren Augen gleich einem scharfen, vergifteten Pfeil in sein Herz gedrungen war, hatte zu seiner Seele mit furchtbarer Beredsamkeit gesprochen. Hätte sie es laut vor den anderen herausgeschrien, die stumm und entsetzt um den Toten herum standen, es hätte nicht gewaltiger in sein Innerstes hineindringen können als dieser stumme, klagende und anklagende Blick, der es ihm entgegenrief: »Du hast ihn getötet!«

Jäh fuhr er zusammen. Es hatte an seinem Fenster geklopft, an seiner Tür, er wusste nicht, wo. Nein, am Fenster war niemand sichtbar, an der Tür musste man geklopft haben. Was wollten die Menschen von ihm? Fingen sie auch an, ihn zu verfolgen, wie die Schattenbilder es taten?

Er öffnete. Aber der Anblick des Menschen, der vor ihm stand, gab ihm plötzlich die Ruhe zurück. Einer von den Vorarbeitern aus der Fabrik war es, der ihn suchte, mit wenigen aufgeregten Worten sagte, was ihn hertrieb.

»Herr Ingenieur, wir haben in der Fabrik einen Kurzschluss gehabt!«

Nun war Burkhardt wieder er selbst. Er machte sich eilig fertig, dem Boten zu folgen. Und als er die regungslosen Maschinen sah, die wie gestorben vor ihm standen, ohne Geräusch, mit stillen, ruhig schimmernden Rädern und Kolben, als das tiefe Schweigen des plötzlich in Schlaf gesunkenen weiten Fabrikraums ihn umfing, da kam das erlösende Gefühl über ihn: »Hier kannst du neues Leben geben, tu es!«

Schöpfungskräftiges Lebensgefühl strömte wieder in warmen Fluten durch seinen Körper.

Als Feldherr stand er nun unter der Heerschar der Arbeiter. Sein Wink lenkte, sein Wille regierte sie. Von seinen Worten angespornt, machten sie sich mit Eifer ans Werk, den lauten Strom des Lebens wieder in die stumm gewordene Fabrik hereinzuführen.

Burkhardt selbst griff zu, wo die Arbeit nicht rasch genug vorwärts ging, stieg auf und nieder an schwanken Leitern, mit ruhiger Sicherheit schwebte seine Herkulesfigur auf gebrechlich leicht erscheinenden Eisenstäben in schwindelerregender Höhe.

Bald war der Schaden beseitigt, neue Sicherungen waren eingefügt worden. Arbeiter, die Burkhardt fortgeschickt hatte, um die ganze Stromleitung bis an das Elektrizitätswerk tief in der Klamm zu untersuchen, meldeten, dass nichts Außergewöhnliches auf der Strecke zu bemerken sei. So konnte die wunder wirkende, fern in Bergestiefen geborene Kraft ihr Werk wieder beginnen im Dienste der Menschen. Ein Zeichen von Burkhardt, und mit einer widerwilligen, feierlichen Langsamkeit fingen die Riesenräder wieder an, sich zu drehen. Die Kolben der Maschinen bewegten sich müde hin und her, der tausendfache Lärm der Fabrik wachte behutsam wieder auf. Bis er dann immer mächtiger anschwoll, bis die glänzenden Eisenteile mit rasender Geschwindigkeit blitzschnell durch die Luft fuhren, bis diese Lust von einem geheimnisvollen Sturm durch tobt, an Haaren und Kleidern der Arbeiter zerrte, sie wehen ließ, als ob ein Frühlingswind in ihnen wühlte.

Dieser Frühlingswind schaffender Kräfte machte dem Ingenieur das Herz wieder frei. Er blieb in der Fabrik den ganzen Tag, obwohl seine nächste Aufgabe schon vor Mittag erfüllt war. Durch einen Arbeiter ließ er sich ein bescheidenes Mittagsmahl holen und vergrub sich mit einem fast kranken Eifer in die hilfreiche, vergessen bringende Tätigkeit.

Bis gegen den Abend wirkte der Zauber der Arbeit. Als aber die Sonne langsam versank, die Flammen der Bogenlampen zuckend sich entzündeten, da packte Unruhe sein Herz verzehrend aufs Neue. Eindringlicher als aller Lärm der Fabrik tönten Marthas Worte jetzt wieder in sein Ohr: »Ich muss dich sprechen, heute Abend.« Sie hatte keine Zeit gehabt, ihm zu sagen, wo sie zusammenkommen wollten zu diesem Alleinsein. Vielleicht sandte sie noch Botschaft, vielleicht wartete sie, wie das vorige Mal in der Eschenallee zwischen Fabrik und Villa. Heißes Verlangen, sie zu sehen, und Furcht vor dieser Aussprache, kämpften in seiner Seele.

Es war der Tag der Lohnzahlung, und Burkhardt musste trotz seiner Ungeduld in der Fabrik bleiben, um dabei zugegen zu sein. Sobald er endlich frei war, ging er hastig und atemlos über den Fabrikhof seinem roten Häuschen zu.

Vor der Tür stand im hellen Licht der Bogenlampe ein Knabe, das erkannte Burkhardt schon von Weitem. Er beschleunigte seine Schritte noch mehr.

Bevor er jedoch ein Wort sagen konnte, zog der Kleine schon seine Mütze mit höflicher Frage: »Sind Sie der Herr Ingenieur Burkhardt?«

»Ja, ja, der bin ich. Du hast eine Botschaft für mich?«

»Ja, Herr Ingenieur.«

»Von wem? Wer hat sie dir gegeben?«

»Eine Dame, Herr Ingenieur, eine schöne Dame.«

»Wo war sie? Wo hat sie mit dir gesprochen?«

»In den Anlagen, zwischen der Stadt und hier.«

Gleich einer lichten Vision stieg der Platz unter den bunten, sonnenvergoldeten Herbstbäumen wieder vor ihm auf, die gesegnete, glückliche Stelle, wo sein Herz die Geliebte der Jugend wiedergefunden hatte. Gleich aber legte sich ein dunkler Schleier über das frohe Bild. War es doch auch der Ort, wo der Verrat Ebisbergs offenbar geworden war.

»Was hat sie dir gesagt?«

»Ich soll den Herrn Ingenieur bitten, dass er heute Abend um halb neun Uhr in die Stadt kommen soll, ins Hotel Bellevue, Zimmer Nummer einundzwanzig.«

»In die Stadt? In das Hotel Bellevue? Du hast genau verstanden, was die Dame gesagt hat?«

»Ganz genau, Herr Ingenieur.«

»Erwartet sie Nachricht von mir?«

»Nein, davon hat sie nichts gesagt. Nur noch: Die Sache wäre wichtig, sie müsste den Herrn Ingenieur auf alle Fälle sprechen.«

»Gewiss, gewiss, ich werde kommen. Hier für deine Mühe.«

Burkhardt gab dem Knaben, der seine Mütze höflich dankend wieder herabriss, ein reichliches Trinkgeld und hieß ihn dann gehen. Er wollte mit sich allein sein, überlegen. Als er aber dann wirklich kurze Zeit in seinem Zimmer allein gewesen war, ergriff ihn die Reue, dass er nicht weiter geforscht, nicht näher gefragt hatte, wie die Dame gekleidet gewesen sei, wie sie ausgesehen habe. Bald aber schalt er sich wieder. Wer konnte solche Botschaft an ihn senden, wenn es nicht Martha war? Sie hatte gesagt, sie müsse mit ihm sprechen an diesem Abend. Ihre Botschaft ergänzte nur ihre Worte.

Burkhardt vermochte es in den engen Räumen seines Hauses nicht auszuhalten. Er riss den Hut vom Nagel und stürzte fort, verschloss nicht einmal die Türen hinter sich. Da noch fast anderthalb Stunden vergehen mussten, bis die festgesetzte Zeit herankam, ging er auf den dunklen, stillen Anlagewegen zur Stadt, sah den Platz, wo Martha neben ihm gesessen hatte, mit schmerzlicher Freude wieder. Dann aß er in der Stadt einsam in einem stillen Restaurant zu Abend, um bald wieder aufzuspringen und unruhig in den alten Lindenalleen des Kurortes umherzulaufen, bis die bestimmte Stunde gekommen war.

Er kannte das Hotel Bellevue, das eines der älteren und weniger eleganten Gasthäuser des Ortes war. Es hatte früher einmal glänzende Zeiten gesehen, war aber jetzt schon lange durch die modernen Prunkhotels überflügelt worden. Immerhin galt es als ein gutes, anständiges Haus, das Martha sehr wohl für solch eine Zusammenkunft gewählt haben könnte. Nicht weit von der Kurpromenade lag es in einer der Seitenstraßen als Eckhaus an dieser und einer anderen, weit schmaleren Gasse. Mit altmodischem Barockornament, hellgrauem Anstrich und hübschen Balkonen an fast allen Fenstern stand es in der abendlichen Beleuchtung einladend und friedlich da.

Burkhardt fragte den Portier nach Numero einundzwanzig, fürchtete jedoch, Martha zu kompromittieren, wenn er sich unter Nennung ihres Namens erkundigte. Der ihm gewordenen Anweisung folgend, stieg er dann die mit Gruppen von Palmen geschmückte Treppe hinauf in das erste Geschoss des Hauses, wandte sich nach links und stand bald vor der gesuchten Zimmernummer. Während er noch in einer plötzlichen Bangigkeit ein paar Atemzüge lang zauderte, war es ihm, als ob er irgendwoher die gedämpften Stimmen zahlreicher Menschen vernehme, doch war das Geräusch offenbar nicht in dem Zimmer vor ihm. So hob er die Hand und klopfte.

Ganz leise tönte von drinnen ein »Herein!«

Rasch trat er in die Tür, tat ein paar Schritte vorwärts in das matt beleuchtete Gemach. Er sah, wie sich eine Frauengestalt aus einem tiefen Sessel erhob, die Baronin Gonderland stand vor ihm!

Burkhardt war so betroffen, so gelähmt vor Überraschung, dass er sie wortlos, bewegungslos anstarrte. Nicht Martha, nicht Martha! Das war alles, was er zunächst empfand. Sie aber ließ ihm keine Zeit, sich zu sammeln. Sie fasste seine Hand, er hatte sie mehr zur Abwehr der unerwarteten Erscheinung als zur Begrüßung ausgestreckt, und sagte leise mit ihrer tiefen, rollenden Stimme: »Sie sind auf meine Bitte gekommen, wie sehr, sehr dankbar bin ich Ihnen.«

Er fand noch immer kein Wort für sein Gefühl der Bestürzung, sie aber zog ihn mit leiser Gewalt an der Hand auf einen Sessel nieder und sprach hastig auf ihn ein.

»Es ist eine wichtige Sache, derentwegen ich Sie zu mir bat. Es handelt sich um das Lebensglück einer Frau.«

Fantastisch unklar flog der Gedanke durch sein Hirn, dass es Martha sei, von der die Baronin sprach. Hatte sie diese Frau gewählt, ihm die Nachricht von ihr zu geben? Er schüttelte den Kopf, er sagte, ganz nur mit einem Gedanken beschäftigt, halblaut vor sich hin: »Es ist ja nicht möglich!«

Sie sah fragend in sein Gesicht. »Was ist nicht möglich? Sie scheinen verwirrt, was ist Ihnen?«

»Verzeihen Sie, Frau Baronin, ich bin so sehr überrascht, ich finde noch keine Worte, mir ist schon so viel Merkwürdiges und Schreckliches geschehen, ich dachte … wollte … nun sehe ich mich plötzlich Ihnen gegenüber!«

»Sie haben also nicht erraten, wer Ihnen die Botschaft sendete? Das ist schmerzlich für mich. Aber Sie sind gekommen. Das ist mir eine so große, große Freude, dass jedes andere Gefühl dem gegenüber schweigt.«

Eine leichte keusche Verwirrung in ihrem Wesen an diesem Abend machte sie noch schöner und reizvoller als bei der ersten Begegnung mit Burkhardt. Er aber sah das verführerische Gesicht kaum, das aus weicher, matt roter Dämmerung hervor ihn anlächelte.

»Ihre Verwirrung sagt mir, Sie sind einer anderen wegen gekommen, haben eine andere zu finden erwartet. Aber wenn diese Frau hier neben uns wäre, wenn sie hören könnte, was ich Ihnen zu sagen habe, glauben Sie mir, in gewissen Dingen sind alle Frauen solidarisch, sie würde meine Partei nehmen, würde Sie mit mir um Rettung und Hilfe für eine Unglückliche bitten.«

Die Berufung auf Martha wirkte mit merkwürdiger Kraft auf Burkhardt. Er wurde ruhiger, das ungeduldige Drängen in ihm, das Gespräch beendet zu sehen, wurde für einen Augenblick still. »Sprechen Sie, Frau Baronin. Meine Zeit ist freilich gerade heute sehr knapp, aber wenn ich wirklich einer Unglücklichen helfen kann, dafür muss ich Zeit haben. Sprechen Sie schnell.«

»Sehen Sie wohl, mein Gefühl von Ihnen hat mich nicht getäuscht. Ich habe in einem bunten Leben viele Menschen kennengelernt, aber nur ein- oder zweimal vorher empfand ich so deutlich wie beim ersten Anblick von Ihnen: Das ist ein Mann! Wenn er irgendeinem Wesen helfen will, er kann’s. Bei Ihnen vereinigen sich Kraft und Güte. Beides ist mir nötig, denn die Frau, von der ich sprechen muss, die unglückliche Frau, bin ich selbst!«

»Sie, Frau Baronin?«

»Sie staunen, und ich begreife das. Denn Sie sehen mich scheinbar von Glanz und Glück umgeben. Aber das alles ist nur eine täuschende Maske, hinter der Finsternis und Elend verborgen sind.«

»Wie kann das möglich sein?«

»Sie müssen die Geschichte meines Lebens hören, um das verstehen zu können. Ich will so kurz wie möglich sein. Sie kennen mich als Baronin Gonderland, ich habe nicht gelogen, als ich mich so nannte, bin aber doch unwahr gewesen. Gonderland ist mein Mädchenname, jetzt bin ich die Frau des Mannes, den Sie neben mir am Spieltisch gesehen haben, dieses Herrn von Dellwitz.«

»Dellwitz?«

»Er ist mein Schicksal geworden, ein Schicksal, so traurig und finster, dass ich die Verdammten in der Hölle fast beneiden könnte. Meine Jugend war glücklich. In Reichtum und Üppigkeit bin ich aufgewachsen. Aber Sie kennen Russland, mein Vater wurde politischer Umtriebe wegen verhaftet und verurteilt, er starb in Sibirien. Wir verarmten, meine Mutter folgte dem Vater bald. Ich blieb allein zurück, allein und arm. Wissen Sie, was das heißt? Ach, ich sehnte mich aus der Dunkelheit wieder zurück ins Licht. Man schmeichelte mir, man sagte mir, ich sei schön, ich fing an zu hoffen, dass eines Mannes Hand mich wieder emporheben würde. Zu jener Zeit, hören Sie mich auch, Herr Burkhardt?«

»Ja, ja, ich höre.«

Sie hatte mit Recht gefragt. Seine Gedanken waren fortschweifend wieder zu Martha gewandert, und eine heiße Furcht war in ihm aufgestiegen, sie warte vielleicht irgendwo vergeblich auf ihn. Doch zwang er sich mühsam zu neuer Aufmerksamkeit.

»Eine Jugendliebe war damals in meinem Herzen, eine törichte, glückliche Liebe. Doch er war arm wie ich selbst. Und ich wollte nicht entbehren, wollte den Glanz und Reichtum wieder haben, in dem ich aufgewachsen war. Damals kreuzte Herr von Dellwitz meinen Weg. Man fabelte von seinem Reichtum, sein Leben schien seinen Ruf zu bestätigen. Er warb um mich, und ich beging die große Sünde meines Lebens, die Sünde gegen den heiligen Geist der Liebe.«

Sie war wunderschön in ihrer leidenschaftlichen Beichte. Mit ihrem gebeugten Haupt, den brennenden Augen, deren Glut von hervorquellenden Tränen halb gelöscht wurde, war sie das leben atmende Bild einer büßenden Magdalena.

»Jawohl, ich habe mich verkauft. Ich habe dem kleinen Offizier, den ich liebte, einen höflichen Abschiedsbrief geschrieben und habe diesen Herrn von Dellwitz geheiratet. Aber es war ein Fehler im Exempel. Sein Reichtum bestand in Spielmarken statt in Goldstücken. Seine Güter, von denen man mir erzählt hatte und von denen er selbst mit Geschick zu sprechen wusste, lagen auf dem Mond. Vom Spiel zu leben, war seit Jahren sein Beruf. Dass er mich heiratete, hatte nur den Zweck, einen hübschen, bunten Lockvogel zu gewinnen, der die Gimpel in den Spielsaal hineinlockte. Das ist mein Leben gewesen! Was habe ich als Frau dieses Mannes alles tun müssen! Ich habe mich anfangs mit aller Kraft meines noch ungebrochenen Temperaments dagegen gewehrt, durch Misshandlungen hat er mich unter seinen Willen gezwungen.«

Sie schwieg einen Augenblick, begierig auf die Wirkung ihrer Worte. Burkhardt hatte jedoch, schon während sie sprach, nach der Seite hinüber gehorcht, wo sich eine geschlossene Flügeltür nach einem Nebenzimmer befand, und fragte jetzt: »Wer ist nebenan?«

»Dort wird heute gespielt. Mein Mann ist es mit seinen Begleitern. Er hat eine Differenz gehabt im Palasthotel. Ich habe mich mühsam für eine Stunde frei gemacht. Ich säße sonst wie gewöhnlich dort an dem grünen Tisch mit seinen Karten und Chips und Goldstücken. Ich spielte heute, wie seit Jahren, die schändliche, niedrige Rolle, die mir beinahe zur Gewohnheit geworden war. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Es ist kein Ding so hässlich, dass die Gewohnheit es nicht erträglich machte. Trotzdem, hinausgesehnt aus meinem beschmutzten Dasein habe ich mich immer, und es hat Stunden gegeben, in denen ich ganz nahe an den dunklen Strom herangetreten bin, auf dem der Tod als Erlöser der Armen und Elenden über die Erde dahinfährt. Aber schwächer und schwächer ist mein Widerstand geworden, mehr und mehr habe ich mich mit meinem elenden, verächtlichen, schmachvollen Leben abgefunden. Bis vor Kurzem!«

Sie schwieg wieder und suchte mit ihren Blicken seine Augen.

Er aber, in seiner angstvollen Unruhe, die mit jeder Minute wuchs, fand nur eine kurze, gleich gültige Frage: »Bis vor Kurzem, weshalb?«

»Weil es über meine Seele gekommen ist wie Frühlingssturm und Frühlingsahnen. Weil ich wieder gelernt habe, zu hoffen. Und weil neues Hoffen schon Erlösung ist für einen Verdammten. Ach, ich kann es Ihnen ja nicht beschreiben, wie mir zumute seit kurzer Zeit ist. Ich habe die Sehnsucht nach dem Guten wieder fühlen gelernt, ich habe mich in meinem Innersten verwandelt und spüre die Kraft, um ein anderes, besseres Leben zu kämpfen. Aber ich bin allein, ich bin eine schwache Frau. Mir fehlt eine hilfreiche, stützende Hand, an der ich sicher in dies neue Leben hineingehen könnte. Verloren bin ich für immer, wenn sie sich mir entzieht. Ich sehe sie vor mir, diese feste Hand. Ich möchte sie fassen und halten.«

»Ich, ich? Was machen Sie, Frau Baronin?«

Sie hatte mit ihren beiden Händen seine Hand ergriffen. Er fühlte, wie Tränen darauf niederfielen.

»Oh, stoßen Sie mich nicht von sich! Lassen Sie mich endlich einmal sein, was ich bin. Eine Frau mit einem warmen, durstigen Herzen, das für ein wenig Güte mit einem unermesslich reichen, jahrelang angesammelten Schatz an Liebe danken würde. Jawohl, an Liebe! Jetzt müssen und sollen Sie alles hören. Die Männer, die mir in diesen Jahren nahe waren, sind mir nur Spielzeug gewesen, das ich zerbrach, wenn sein Zweck erfüllt war. Sie alle! Jetzt aber, es ist noch nicht lange her, jetzt ist ein Tag der Erlösung für mich gekommen. Ich habe Sie gesehen! Unter all den angehalten, zweideutigen Existenzen habe ich Sie gesehen! Einen Menschen von reiner, klarer Männlichkeit, meinen Retter und Helfer, den Schöpfer eines neuen Daseins für mich, wenn er will. Erstaunen Sie nicht über die Raschheit meines Gefühls. Einer Frau, die an leichte Siege gewöhnt ist, dass ich eine solche Frau bin, darf ich ohne Scheu sagen, zwingt es Achtung ab, wenn sie Widerstand findet. So war es bei Ihnen. Ihr Zurückweichen vor mir hat mich zuerst gereizt, Sie nun doch zu besiegen, aber indem ich mich in diesen Gedanken vertiefte, bin ich selbst eine Besiegte geworden. Und nun flehe ich Sie an: Stoßen Sie mich nicht von sich, haben Sie wenigstens Erbarmen mit mir, wenn Sie in Ihrem Herzen kein anderes Gefühl für mich finden können. Der Erste sind Sie …«

Jäh brach sie ab. Im Nebengemach war ein plötzlicher Lärm entstanden. Man hörte das Fallen von Stühlen, am Schloss der Verbindungstür wurde gerüttelt. Aber sie war verschlossen, tat sich nicht auf.

Dann klang in den wüsten Lärm hinein eine laute, befehlende Stimme, die rief: »Im Namen des Gesetzes!«

Die Baronin sprang auf, stürzte zur Tür, horchte hinaus. Gleich aber wandte sie sich wieder um, starrte Burkhardt mit erlöschenden Blicken an und murmelte: »Zu spät …, ich bin verloren.«

»Was ist …, was bedeutet …?«

»Sprechen Sie leise! Die Polizei muss vom wahren Beruf meines Mannes Wind bekommen haben. Nun ist es aus. Aber Sie sollen hier nicht gefunden werden. Kommen Sie schnell, treten Sie hinaus auf diesen Balkon und warten Sie, bis alles ruhig wird. Ich ziehe die Vorhänge zu, man sucht nach mir, nicht nach Ihnen.«

In diesem Augenblick wurde wieder an der Zwischentür gerüttelt, und abermals erklang die laute, befehlende Stimme: »Öffnen, im Namen des Gesetzes!«

Die Baronin drängte Burkhardt hinaus auf den Balkon, während sie kaum vernehmlich flüsterte: »Gehen Sie, gehen Sie. Leben Sie wohl. Haben Sie Dank für Ihr Kommen.« Ihre Stimme brach. In ihren früheren Reden hatte manches theatralisch und berechnet geschienen, in diesen letzten, kurzen, eiligen Worten war ein tiefes, echtes Gefühl.

Tür und Vorhänge schlossen sich hinter Burkhardt. Er hörte gedämpft, wie die Baronin die Verbindungstür öffnete und nun mit merkwürdig ruhiger Stimme sagte: »Was gibt es? Ich bin hier, wenn Sie mich suchen.«

Dann kam eine tiefe Stille, die nur durch den Klang entfernten Wagenrollens unterbrochen wurde. Burkhardt meinte freilich auch, dass er die lauten, aufgeregten Schläge seines Herzens hörte, und begann unwillkürlich, sie zu zählen, als ob er an ihnen die Sekunden und Minuten abmessen könne, die vorüberglitten.

Er spähte nach einer Weile durch einen Spalt in den Vorhängen behutsam in das Gemach hinein. Es war leer. Trotzdem ließ er noch etwa zehn Minuten vergehen, bis er die Tür ganz leise zu öffnen wagte. Niemand hielt ihn auf. Die Tür zum Nebenzimmer, in dem noch dumpfes Gemurmel ertönte, war wieder geschlossen. Auf dem Korridor schien es ruhig, er trat hinaus. Kein Mensch war zu sehen. Auf dem weichen Läufer kam er geräuschlos bis an die Treppe, stieg ungehindert hinab. Unten war kein Zeichen von irgendetwas Außergewöhnlichem zu bemerken. Der Portier grüßte höflich, als er vorüberkam.

Tief atmete Burkhardt auf, als er die Straße betrat, als er das harmlose Geräusch alltäglichen Lebens wieder um sich herum klingen hörte. Dann rief er einen Wagen heran, der eben leer vorüberkam, warf sich in die Polster und fuhr, durstig die kühle Nachtluft mit seinen Lungen trinkend, zur Fabrik hinaus.