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Die Tauscher 3

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 3

Er wusste selbst nicht, womit er gerechnet hatte. Mit ausgebrannten Ruinen möglicherweise. Irgendwo hatte er, sicherlich aus einem schlechten Traum, das Bild von Straßenzügen abgespeichert, an denen die Häuser wie fäulnisschwarze, hohle Zähne standen und aus leeren Fensterhöhlen auf Schuttberge starrten.

Jedenfalls hatte er nicht mit dem riesigen silbernen Zylinder gerechnet, der unter leisem Motorenbrummen direkt über ihm durch die Luft glitt. Der Schatten des Schiffes füllte für einen Moment die Straßenschlucht, aber kaum ein Passant machte sich die Mühe, aufzublicken. Der Verkehr floss unbeirrt weiter – Lastwagen, Limousinen, Fahrradfahrer, Motorräder, Omnibusse mit offenem Oberdeck, die Straßenbahnen, deren Geleise sich als silberne Doppelspur durch das Pflaster zogen.

Florian kniff die Augen zusammen und schaute zu dem Luftschiff, das langsam wendete. In dem silbrigen Rumpf waren große Fenster eingelassen und er konnte deutlich die Passagiere erkennen, die sich dort auf dem Panoramadeck an den Geländern festhielten und auf die Stadt herabschauten.

Nach einigen Sekunden war das Heck des Luftschiffes hinter dem Giebel des gegenüberliegenden Hauses verschwunden. Florian öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Die Straße wurde auf beiden Seiten von mehrstöckigen Häusern begrenzt. Meist waren es fünf oder sechs Geschosse. Manche Häuser hatten kleine Vorgärten, wenig mehr als handtuchgroße Rasenflächen, auf denen sich Bäume erhoben. Die Häuser selbst wirkten teilweise wie kitschige Märchenburgen, mit Spitzbogenfenstern, gotischen Stützbögen, Türmchen und überdachten Veranden. Selbst die Dächer mussten herhalten und trugen eine Zierde von Zinnen, als wollten sich dort im nächsten Moment Ritter zeigen. Andere Gebäude protzten mit Säulen und Pfeilern, über den Fenstern lagen dreieckige Ziergiebel oder wucherten Ornamente und lungerten Statuen. Der Anblick gefiel Florian, aber zugleich war er sicher, dass jeder ihm bekannte Kunstlehrer beim Anblick dieser Häuserzeilen Schreikrämpfe bekommen hätte. Aber vielleicht hätten die drei oder vier Neubauten – höher als die Nachbarhäuser, schnörkellos und mit großen Glasflächen – wieder beruhigend gewirkt.

Auf der rechten Seite überquerte eine zweistöckige gusseiserne Brücke die Straße. Eine Dampflok schoss über die obere Brücke und riss eine Abfolge von roten und beigefarbenen Wagen hinter sich her, die für einige Momente wie verwischte Pinselstriche auftauchten und sofort wieder verschwunden waren. Die weiße Dampfwolke senkte sich über die Gleise. In der Gegenrichtung sauste nun ein Zug über die untere Brücke und verteilte einen blauen Funkenregen aus dem Stromabnehmer.

Das Rollen der Räder mischte sich mit dem anderen Lärm, der zwischen den Häusern flutete – das Dröhnen und Rattern der Motoren, hektisches Hupen, das Klingeln der Straßenbahn, Stimmen und dazwischen, wie Füllmasse, wenn alle anderen Geräusche für eine Sekunde in den Hintergrund traten, das Trappeln zahlloser Schuhe auf dem Gehsteig. Der Geruch von Abgasen lag in der Luft.

Florian beugt sich noch weiter vor und schaute nach links. Die Straße lief geradeaus weiter, bis sich die Häuser in der Ferne zu berühren schienen.

Weiter hinten waren Kuppeln, Türme und Hochhäuser zu erkennen. Ein Doppeldecker schwebte durch den mattblauen Morgenhimmel.

Florian schloss das Fenster. Das Rauschen des Verkehrs verstummte. Jetzt fiel ihm die Zeitung auf, die die Frau auf den Schreibtisch gelegt hatte. Berliner Neueste, Ausgabe vom 16. Juni 1944. Ein Revolverblatt ganz offensichtlich, denn die Balkenüberschrift der Titelseite beschäftigte sich mit einem Raubüberfall in Dresden. Der Vorgang wurde ausführlichst dargestellt, zwischendurch machte der Schreiber seinem moralischen Unmut deutlich Luft, nur um im nächsten Satz wieder liebevoll und in allen Einzelheiten eine weitere Ungeheuerlichkeit zu schildern.

Florian blätterte die Zeitung durch. Luftschiff macht am Spreeturm fest, erfolgreiche Atlantiküberquerung mit Flugschiff, Fußballresultate, das nächste Boxereignis in der Arena Mitte, noch Karten für das große Automobilrennen, Anzeigen, Inserate, ihre Verlobung geben bekannt, für den modebewussten Herrn empfiehlt sich das Haus Schneidereit, Programmwechsel im Lichtspielhaus. Das alles war zugleich erschreckend fremd und seltsam vertraut, als gäbe es in ihm eine Waage, die sich mal zu dieser, mal zu jener Seite neigte.

Das Telefon schepperte. Es klingelte nicht, es gab keinen Signalton von sich, sondern es schepperte, als würde jemand mit dem Hammer auf Milchkannen einschlagen.

Florian zögerte. Er hoffte, dass das grässliche Geräusch von alleine aufhören würde. Der Apparat stand mitten auf dem Schreibtisch, schwarz, gewaltig und mit seiner Gabel, auf der der Hörer lag, wirkte er wie ein unterseeisches Krustentier.

»Hallo?«

Im Hörer knackte es, dann meldete sich eine raue Männerstimme. Ein Akzent. Schwer einzuschätzen. Wahrscheinlich von irgendwo aus dem Osten. Jemand hörte mit, daher das Knacken. Im Hintergrund Stimmengeräusche und Klackern. Billard. Jemand spielte im Hintergrund Billard.

»Hammerstain?«

»Wer sonst?«, grunzte Silwester Hammerstain, »wenn es Ihnen nicht passt, legen Sie wieder auf.«

Aus dem Hörer kam ein Schnaufen. Der Mann war nicht besonders in Form. Übergewicht. Er rauchte, man konnte hören, wie er den Rauch an der Sprechmuschel vorbei ausblies.

»Sonst geht doch immer deine schnuckelige Assistentin dran.«

»Wenn Sie mit ihr poussieren wollen, gebe ich Ihnen die Privatnummer. War es das jetzt?«, raunzte Hammerstain ungnädig.

»Habe gehört, du warst gestern unterwegs?«

Die Stimme bemühte sich darum, uninteressiert zu klingen. Völlig vergeblich. Eher könnte ein Säbelzahntiger Kinderlieder summen.

»Wer hat das gehört?«

»Hammerstain, kennst du deinen alten Freund Wietold nicht mehr?«

Florian blitzte ein Bild durch das Bewusstsein. Ein älterer Mann im Anzug, der sich recht geschickt darum bemühte, die birnenförmige Figur seines Trägers zu kaschieren. Über den Schultern ein beinah dreieckiger Kopf, ein gewaltiges Kinn, unter dem wie geraffte Gardinen noch drei oder vier weitere Kinne hingen und sich mit dem feisten Hals vereinigten. Ein breiter Mund, der dem Gesicht etwas Froschartiges gab, eine Nase, deren ursprüngliche Form durch eine Anzahl von Fausteinschlägen stark verändert worden war, Augen von unbestimmter Farbe, die tief in den Höhlen lagen und permanent unruhig, zugleich gehetzt und lauernd in die Welt blickten, als müsste ihre ständige Alarmbereitschaft die Trägheit eines schweren Körpers ausgleichen. Augenbrauen, die Verwandtschaft mit Kehrbesen hatten, darüber eine niedrige Stirn und eine Unmenge Haare von einem ständig schmuddelig wirkenden Blond. Hagen Wietold.

»Entschuldigung, Hagen«, sagte Hammerstain, »ich glaube, ich habe heute was an den Ohren.«

»Harte Nacht gehabt?«

»Hammerhart. Na ja, nehme ich an. Habe mir die Erinnerung weggesoffen, was ein eindeutiges Indiz ist.«

Der andere kicherte schadenfroh. Der andere Ton war keine Leitungsstörung. Der Kerl, der mithörte, fand das auch enorm witzig. Aber da war noch etwas anderes. Ein hellerer Klang. Eine Frauenstimme. Unterdrücktes Kichern. Sie musste bei dem Kerl, der den zweiten Hörer hatte, mithören.

Eine Vision eines platinblonden Lockenkopfes, der sich an einen Pomade schimmernden Männerschädel drückt, überkam Florian. Die Vorstellung schmerzte, er wusste nicht warum, aber dieses Bild wirkte wie ein Stich in der Herzgegend.

»Und? Noch Rechnungen in der Tasche?«

»Was geht dich das an?«, raunzte Hammerstain.

»Gar nichts. Freundschaftliches Interesse. Dein Zug durch die Gemeinde hat Furore gemacht.«

»Hiermit entschuldige ich mich bei allen, denen ich die Beißleiste demoliert habe und plädiere auf zeitweise Unzurechnungsfähigkeit«, erklärte Silwester Hammerstain. »Allerdings habe ich keine aufgeschürften Handknöchel, also habe ich entweder nur mit der Handkante zugeschlagen oder mich darauf beschränkt, mir selbst die Kante zu geben. Ich bin ja im Grunde ein friedlicher Mensch.«

Wieder das Kichern im Hintergrund. Besonders die Frau schien die Bemerkung ausgesprochen amüsant zu finden.

»Keine Erinnerung?«

Wietold nervte. Er wirkte wie ein aufdringlicher Idiot, aber er verfolgte ein Ziel. Florian merkte, wie seine Hand – seine ihm gänzlich unbekannte Hand – zitterte. Es gab da etwas, was in der letzten Nacht geschehen war. Er musste vorsichtig sein. Er musste der Intuition folgen.

»Ich glaube, ich war zuerst in der neuen Bar im Savoy«, sagte Hammerstain. Seine Stimme zögerte, jeder musste hören, dass er angestrengt nachdachte. »Dann so die übliche Runde. Blauer Flamingo, Rudis, Kai Sieben. Keine Ahnung, ich stand ziemlich schnell neben mir. Kann ja nichts vertragen.« Die letzte Bemerkung löste erneutes Lachen, Kichern und Grunzen aus.

»Es heißt, du hättest dich am Zuckerhaus rumgedrückt.«

»Habe ich? Keine Ahnung. Ich hab ´ne Droschke gesucht, daran kann ich mich noch erinnern. Und dann fuhr dieser ruthenische Drecksack von Fahrer irgendwie durch die Pampa, um den Fahrpreis zu puschen. Und als ich ihn deswegen ansprach, wurde er pampig. Ja, so war das. Ich gab ihm alles Geld, was ich hatte und bin dann losgewankt. Aber dieser Geier hatte mich in der Nähe vom paraphysikalischen Institut rausgeschmissen. Da brannte noch Licht, ich dachte, Professor Grünwang ist vielleicht noch da. Also randalierte ich vor der Tür, Grünwang ließ mich tatsächlich rein und ich durfte in einem leeren Büro schlafen. Irgendwie bin ich dann doch nach Hause gekommen. Denn höret und staunet, ich erwachte zwar nicht in meinem Bett, aber immerhin auf meinem Sofa.«

»War wohl die Levinsohn«, vermutete Wietold.

»Das gute fromme Kind«, grunzte Hammerstain sarkastisch.

»Hör zu!« Das war jetzt eine andere Stimme. Nicht rau. Sanft. Ölig. So klingt der Wolf, wenn er Kreide gefressen hat. Zu der Stimme gab es kein Bild, keine Erinnerung. Aber sie war bekannt.

»Bin ganz Ohr«, sagte Hammerstain.

»Du solltest froh sein, dass du dir gestern dein bisschen Verstand weggesoffen hast. Gedächtnisverlust ist eine Lebensversicherung. Muss ich mehr sagen?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Hammerstain ungerührt, »ich hindere keinen, mir was zu sagen, aber meistens höre ich sowieso nicht zu. War mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern, aber jetzt muss ich los, sonst verpasse ich den Zug.«

»Beruflich?«

»Mitnichten. Vier Wochen Ostsee, für die Gesundheit, habe ich mir verdient.«

»Gute Erholung, sicherlich sehr gesundheitsfördernd, wenn du dich vom Acker machst«, sagte die Stimme.

Das ungewohnte Freizeichen tuckerte in Florians Ohr. Er legte den Hörer auf die Gabel, die unter dem Gewicht mit einem patzigen Klingeln nachgab.

Florian umrundete den Schreibtisch. Das Möbelstück hatte bessere Tage gesehen. Es bestand aus einer breiten, fast zum Halbkreis gebogenen Platte. Auf beiden Seiten waren Unterschränke mit Schubläden, das Ganze ruhte auf kugelförmigen Füßen.

Einst ein prachtvolles Bollwerk, hinter dem sich ein Bankier gegen die Belästigungen durch seine Kunden verschanzt hatte, war die bernsteinfarbene Platte nun an den Rändern mit Kerben übersät, Tintenspuren und die Halbkreise festgeklebter Gläser trübten den Glanz der Politur. Florian setzte sich in den lederbezogenen Schreibtischstuhl.

Die Schubladen waren verschlossen und er hatte keine Idee, wo sich der Schlüssel verstecken konnte. Also hatte ihn Fräulein Levinsohn. Oder zumindest einen Ersatzschlüssel. Oder sie wusste, wo der Schlüssel war. Der Gedanke, sie zu fragen, war unangenehm. Für sie wäre es ein Triumph.

Auf der Platte lag eine rote Schreibunterlage aus Leder, die auch schon einmal besser ausgesehen haben musste. Eine Papierecke ragte unter dem Leder hervor. Florian zog und hielt eine flache Mappe in der Hand.

Eine sorgfältige Handschrift hatte mit Tinte 1/6/44 darauf geschrieben. Das konnte ein Datum sein, es konnte aber auch eine Art Registriernummer sein.

Die Mappe enthielt lediglich Ausschnitte einiger Zeitungen. Bei jedem war das Datum vermerkt oder oben am Rand unterstrichen. In allen Fällen handelte es sich um kurze Notizen, Meldungen von wenigen Zeilen, die von einem Einbruch berichteten.

Florian breitete die Zeitungsausschnitte auf dem Schreibtisch aus. Einbrüche in Berlin. Immer dieselbe Handschrift. Mehrere Täter, geschickter Einsatz der Werkzeuge, die Ziele vorher ausgekundschaftet, kaum Spuren. Die erste Meldung stammte vom Ende April.

Florian spitzte die Lippen und zog an der Zigarette. Der beißende Geschmack in seinem Mund brachte ihn zum Husten. Entgeistert starrte er auf den Glimmstängel in seiner Hand. Ganz offensichtlich hatten sich seine Hände selbständig gemacht und automatisch danach gegriffen. Florian ging ins Bad, spülte die Zigarette durch die Toilette weg und suchte nach einem Mundwasser. Danach ging es ihm besser. Nur an das Gefühl, dass sich seine Lungen weigerten, Luft anzunehmen, konnte er sich nicht gewöhnen.

Er kehrte zu dem Schreibtisch zurück.