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Die Gespenster – Erster Teil – Fünfzehnte Erzählung

Die-GespensterDie Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Erster Teil
Fünfzehnte Erzählung

Von der Wiedererscheinung eines geisteskranken, an der Schwermut gestorbenen Mädchens

Herr Coint, ein in den französischen Religionsverfolgungen des 17. Jahrhunderts aus der Dauphiné nach Deutschland geflüchteter reformierter Prediger hatte in seiner Heimat, in Ermangelung eigener Kinder, seine Nichte an Kindes statt zu sich genommen. Dies überaus liebenswürdige gute Mädchen wurde nach Verlauf einiger Jahre geisteskrank, stürzte in einem Sinn beraubenden Anfall von Schwermut aus einem Fenster ihres Wohnzimmers im zweiten Stockwerk hinaus und gab bald danach auf dem nämlichen Zimmer den Geist auf. Alle Freundinnen und Bekannte der Verunglückten bedauerten sie herzlich und wünschten ihrem Geist die Ruhe, welche ihm im Diesseits nicht zu teil geworden war.

Am untröstlichsten von allen war ihr Oheim, ihr zweiter Vater, in dessen Armen sie starb. Lange schwebte ihm der Anblick der hingestreckten Leiche im weißen, blutigen Kleid schaudererregend vor Augen. Es fehlte wenig, auch ihn hätte das Unglück seiner zärtlich von ihm geliebten Nichte schwermütig gemacht. Er wählte absichtlich ihr Sterbezimmer zu seiner Studierstube und nährte dadurch sehr unweislich die Erinnerung an die Betrauerte. Glücklicherweise sah er endlich selbst ein, dass er sich zerstreuen und erheitern müsse, und fing, wiewohl etwas spät, an, dieser Überzeugung des Besseren gemäß zu leben.

Einst war er einen ganzen Tag von Zuhause abwesend, um teils im Genuss der schönen Natur, teils im Umgang eines Freundes über Land, den er aufsuchte, für die Welt wieder aufzuleben. Als er des Abends im Zwielicht bei der Rückkehr in seine Behausung das Studierzimmer öffnete und in dasselbe eintreten wollte, schauderte er höchst erschrocken zusammen. Zu seinen Füßen lag, lang hingestreckt im blutigen Sterbekleid seine längst vermoderte Nichte. Er erkannte ganz deutlich jede ihrer Gesichtszüge wieder. So sehr er seine Nichte im Leben und Tode liebte, so schauderhaft und schrecklich war ihm doch der mit unverwandten Augen ihn anstarrende Blick der Erblassten. Lange stand er wie angenagelt mit einem Fuß im Zimmer und konnte sein Gesicht nicht von der spukenden Erscheinung losreißen. Ihm schwebten nun die oft wiederholten Sagen derer vor, welche schon längst behauptet hatten, dass diese Selbstmörderin spukend im Haus umhertobe und bald diese, bald jene erschrecke. Immer hatte er bis jetzt diese Sage achselzuckend mit der Versicherung beantwortet: »Mir ist sie nicht erschienen, mir wird sie auch nie erscheinen.«

Gott, dachte er bei sich selbst, wäre es doch möglich! Welch eine sprechende Ähnlichkeit, und doch längst vermodert! Oder täusche ich mich selbst? Die Letzte von diesen Vermutungen war unstreitig die Vernünftigste. Wirklich brachte sie ihn auch zuerst wieder zu sich. Er dachte doch nun wenigstens schon die Möglichkeit einer Selbsttäuschung. So reifte in dem Zitternden allmählich der Entschluss, die Natur der wiedererscheinenden Nichte näher zu untersuchen.

Zwar nicht ganz ruhig, vielweniger mit Unbefangenheit, aber doch kälteren Blutes als vorhin, setzte er nun auch den anderen Fuß in die Stube und näherte sich mit kleinen und langsamen Schritten der Erscheinung. Allein diese verschwand allmählich in eben dem Maße, in welchem er näher hinzutrat. Die deutlich erkannten Gesichtszüge der Verstorbenen wurden nach und nach gleichsam verwischt. Anfangs konnte er keine Nase, keinen Mund und zuletzt sogar keine Augen und keine Blutflecke in ihrem weißen Kleid mehr erkennen. Endlich schwebte einzig das Kleid selbst nur noch seinen Augen vor. Sein Erstaunen über dieses allmähliche Verschwinden des Gespenstes stieg nun aufs Höchste. Indessen so groß es war, so wurden doch in dem folgenden Augenblick seine Beschämung und die Unzufriedenheit mit seinen treulos vorspiegelnden Sehwerkzeugen noch größer. Denn kaum hatte er das vermeintlich blutige Sterbekleid seiner Nichte mit der Hand berührt, so war die ganze Nichte und alle Ähnlichkeit mit ihr durchaus verschwunden. Nichts von dem, was das Gaukelspiel seiner lebhaften Einbildungskraft herbeigezaubert hatte, hielt Stand. Alles, was an dessen Stelle wirklich zurückblieb, war weiße Wäsche, die man während seiner Abwesenheit von Haus getrocknet und fürs Erste hierhin gelegt hatte.

»Es ist wahrlich nichts Leichtes«, sagt Boëtius, »das Falsche immer vom Wahren zu unterscheiden. Ich habe dies Gespenst mit diesen meinen Augen gesehen! Ist etwas, aber sehr wenig gesagt. Wer mag es berechnen, wie auf mancherlei Weise des Menschen Sinne betrogen werden können? Nur gar zu oft betört uns die Fantasie. Wir glauben dies oder jenes zu sehen, zu hören -und dennoch sehen und hören wir etwas ganz anderes.«