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Die Geschichte vom Werwolf Teil 1

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 1

Wer Mocquet war und wie diese Geschichte zur Kenntnis des Erzählers gekommen ist

1.

Warum haben sich meine Erinnerungen in den ersten zwanzig Jahren meines Schriftstellerlebens, d. i. von 1827 bis 1847, so selten in meinen Geburtsort, in die umliegenden Wälder und Dörfer zurückversetzt? Warum schien jene ganze Jugendwelt wie in eine Wolke gehüllt, während die Zukunft, der ich entgegenging, mir klar und rein entgegenstrahlte, wie die Zauberinseln, welche Kolumbus und seine Gefährten für schwimmende Blumenkörbe hielten? Weil man in den ersten zwanzig Jahren die Hoffnung, in den letzten die Wirklichkeit zur Führerin hat.

Von dem Tage an, wo man als müder Wanderer den Stab fallen lässt, den Gürtel löst und sich am Wege niedersetzt, blickt man auf die Straße zurück, die man durchwandert hat, und da die Zukunft dunkel wird, beginnt man den Blick auf die Vergangenheit zu richten. Während man im Begriff ist, die Sandwüste zu betreten, sieht man erstaunt, dass man die herrlichen, grünen, schattigen Oasen, an denen der Weg vorübergeführt, gar nicht beachtet hat. Man ist zu schnell gegangen, man ist immer vorwärts geeilt, einem unbekannten Ziel zu, das man nie erreicht.

Dieses Ziel ist das Glück.

Nun erst bemerkt man, dass man blind und undankbar war. Man nimmt sich vor, in einem grünen, schattigen Hain, den man etwa auf dem weiteren Lebensweg findet, recht lange zu verweilen, vielleicht in demselben eine Hütte zu bauen und seine Tage zu beschließen.

Aber wenn auch der Körper nicht umkehrt, um den zurückgelegten Weg noch einmal zu machen, so durchwandert ihn doch der Geist, die Erinnerung eilt zurück bis zur Lebensquelle, wie die leichten Barken mit den weißen Segeln, die einen Strom hinauffahren. Man wandert weiter, aber ohne geistige Freuden. Der fernere Lebensweg ist eine Nacht ohne Sterne, eine Lampe ohne Flamme.

Körper und Geist nehmen nun entgegengesetzte Wege. Der Körner schreitet aufs Geratewohl fort, dem Unbekannten zu. Die Erinnerung tanzt wie ein schimmerndes Irrlicht über den auf dem Weg hinterlassenen Fußstapfen. Sie allein verirrt sich nie, sie sucht den müden Wanderer von Zeit zu Zeit heim und erzählt ihm mit süßen Tönen, was sie gesehen.

Und bei dieser Erzählung beginnt das Auge des Wanderers zu funkeln, sein Mund lächelt, sein Gesicht erheitert. Er kann nicht zu der Jugend zurückkehren, aber die gütige Vorsehung sendet ihm die Jugend nach. Und was ihm die Erinnerung leise und im Vertrauen erzählt, teilt er gerne mit.

Sollte das Leben rund sein, wie die Erde? Sollte man, ohne es zu bemerken, die Rundreise machen? Sollte man sich, während man dem Grab zuwankt, wieder der Wiege nähern?

2.

Ich weiß es nicht, aber ich lasse meine eigene Erfahrung sprechen. Als ich auf dem Lebensweg zum ersten Mal haltmachte und einen Blick in die Vergangenheit zurückwarf, erzählte ich zuerst die Geschichte Bernards und seines Oheims Berthelin, dann die Geschichte Ange Pitous und seiner Braut und seiner Tante Angélique, dann kamen Conscience und Mariette, Katharine Blum und Watrin an die Reihe.

Heute beginne ich die Geschichte Thibauts, des Wolfs … und des Gutsherrn von Vez.

Wie die Ereignisse, die ich erzählen will, zu meiner Kenntnis gekommen sind? Ich will es gewissenhaft sagen. Wer meine Memoiren gelesen hat, erinnert sich vielleicht eines Waldhüters, namens Mocquet, der in meines Vaters Diensten stand. Wer sie nicht gelesen hat, kennt den Mann natürlich nicht, und viele Leser meiner Memoiren haben ihn vielleicht schon vergessen. Es ist daher notwendig, ihn vorzustellen.

So weit ich in meiner frühesten Jugend zurückdenken kann, bewohnten meine Eltern ein kleines Schloss, Les Fossés genannt, welches an der Grenze des Departements Aisne und Oise, zwischen Haramont und Longpré liegt. Man hatte dem Schlösschen wahrscheinlich wegen seiner breiten, mit Wasser gefüllten Gräben diesen Namen gegeben.

Meine Schwester, die zu Paris in einer Erziehungsanstalt war, kommt hier nicht in Betracht. Wir sahen sie jährlich nur einen Monat in den Ferien bei uns.

Außer meinen Eltern und mir bestand das Hauspersonal:

  1. aus einem großen schwarzen Hund, namens Trusse, der das Vorrecht hatte, überall willkommen zu sein, da ich ihn zu meinem Leibpferd gemacht hatte,
  2. aus einem Gärtner, namens Pierre, der mir Frösche und Schlangen fing und mir dadurch Gelegenheit gab, an diesen meinen Lieblingstieren meine ersten naturwissenschaftlichen Beobachtungen anzustellen,
  3. aus einem höchst naiven, gemütlichen Schwarzen, namens Hippolyt, dem Kammerdiener meines Vaters,
  4. aus einem Waldhüter, namens Mocquet, für den ich eine große Bewunderung hegte, weil er jeden Abend wundersame Geschichten von Gespenstern und Werwölfen erzählte, die aber bei dem Erscheinen des Generals, so pflegte man meinen Vater zu nennen, unterbrochen wurden,
  5. aus einem Küchenmädchen, namens Marie.

Diese Letztere verliert sich für mich völlig in dem Halbdunkel der Erinnerung. Den Namen Marie gab man einer Gestalt, welche, so viel ich mich entsinne, gar nichts Poetisches hatte.

Wir haben es übrigens für jetzt nur mit Mocquet zu tun. Wir wollen daher den Leser mit den physischen und geistigen Eigentümlichkeiten dieses Mannes bekannt machen.

3.

Mocquet war damals etwa vierzig Jahre alt, von untersetztem, gedrungenem Körperbau. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt, seine kleinen, lebhaften Augen waren in beständiger Bewegung, sein Haar begann grau zu werden, aber sein Backenbart war pechschwarz.

Er erscheint mir in meinen Erinnerungen mit einem dreieckigen Hut, einer grünen Jacke mit versilberten Knöpfen, Manchesterhosen, großen ledernen Gamaschen, Waidtasche, Flinte und kurzer Pfeife.

Diese kurze Pfeife, in der Volkssprache Nasenwärmer genannt, war nicht nur ein Bedürfnis, sondern ein Bestandteil des Waldhüters geworden. Kein Mensch konnte behaupten, ihn ohne seine Pfeife gesehen zu haben. Wenn Mocquet sie zufällig nicht im Mund hatte, so hielt er sie in der Hand.

Die Pfeife hatte die Bestimmung, ihn durch das dichteste Gebüsch zu begleiten, und musste den Zweigen und Reisern daher möglichst wenig Widerstand leisten. Sie wäre sonst vernichtet worden, und die Vernichtung der gut angerauchten Pfeife wäre für Mocquet ein erst nach Jahren zu ersetzender Verlust gewesen. Das Rohr des Nasenwärmers war daher nie länger als fünf bis sechs Linien, mit Inbegriff eines drei Linien langen Federkiels.

Diese Gewohnheit, seine Pfeife beständig zwischen dem vierten linken Schneidezahn und dem ersten Backenzahn zu halten, hatte eine andere Gewohnheit zur Folge. Mocquet sprach immer mit zusammengepressten Zähnen, wodurch alles, was er sagte, einen eigentümlich entschiedenen, hartnäckigen Charakter erhielt. Dies wurde noch bemerkbarer, wenn er die Pfeife aus dem Mund nahm. Die Zähne waren dann noch fester aufeinander gepresst, und seine kaum verständlichen Worte waren von einem pfeifenden Ton begleitet.

4.

Eines Morgens trat Mocquet in das Zimmer meines Vaters, der noch im Bett war, und stellte sich gerade wie ein Wegweiser vor ihn hin.

»Nun, Mocquet«, fragte mein Vater, »was gibt es?«

Und was verschafft mir das Vergnügen, dich so früh zu sehen?«

»Herr General«, antwortete Mocquet ernst, »man hat mir’s angetan.«

»Wirklich?«, fragte mein Vater sich aufrichtend, »das ist fatal!«

»Ja, aber es ist so.«

Mocquet nahm seinen Nasenwärmer aus dem Mund, ein Beweis, dass es sich um eine sehr wichtige Sache handelte.

Seit wann hat man es dir angetan, armer Mocquet?«, fragte mein Vater.

»Seit acht Tagen, Herr General.«

»Wer denn?«

»O, ich weiß es wohl«, antwortete Mocquet, »die alte Durand in Haramont. Sie wissen ja, dass sie eine alte Hexe ist.«

»Nein, Mocquet, das habe ich nicht gewusst.

»Aber ich weiß es, ich habe sie auf einem Besen reiten gesehen.«

»Wirklich, Mocquet, du hast sie reiten gesehen?«

»So wie ich Sie sehe, Herr General, und einen alten, schwarzen Bock hatte sie bei sich.«

»Und warum hat sie Dir’s angetan?«

»Aus Rache, weil ich sie überrascht habe, als sie um Mitternacht auf der Heide von Gondeville den Teufelstanz aufführte.«

»Mocquet, das ist eine schwere Beschuldigung, und ehe du laut erzählst, was du mir jetzt im Vertrauen sagst, rate ich dir, einige Beweise zu sammeln.«

»Beweise! Alle Welt weiß ja im Dorf, dass sie in ihrer Jugend die Geliebte des Wolfführes Thibaut war.«

»Der tausend! Das ist eine fatale Geschichte, Mocquet.« »Ja, der alte Maulwurf soll auch dafür büßen.«

Diesen Ausdruck hatte Mocquet von seinem Freund Pierre, dem Gärtner gelernt, welcher keinen größeren Feind als die Maulwürfe hatte und jeden Gegenstand, den er nicht leiden konnte, einen Maulwurf nannte.

5.

Mein Vater kannte die Volksvorurteile, ohne dieselben zu teilen, er wusste, dass der Glaube an Hexerei auf dem Land noch sehr verbreitet ist. Er hatte einige schreckliche Beispiele von Rache wegen vermeinter Zauberei erzählen gehört. Mocquet hatte einen solchen Grimm gegen die vermeintliche Zauberin ausgesprochen, dass mein Vater dem Waldhüter scheinbar recht gab, um sein Vertrauen zu gewinnen. Er setzte daher hinzu: »Aber, lieber Mocquet, du solltest dich zuvor überzeugen, ob du dich des Zaubers nicht entledigen kannst.«

»Nein, Herr General«, antwortete Mocquet zuversichtlich, »das kann ich nicht. Ich habe schon alles getan, was zu tun ist.«

»Was hast du getan?«

»Ich habe einen großen Topf mit heißem Wein vor dem Schlafengehen getrunken.«

»Wer hat dir dieses Mittel geraten? Etwa Herr Leosse?«

Leosse war der renommierteste Arzt in Villers-Cotterêts.

»Herr Leosse«, erwiderte Mocquet, »der versteht nichts von Hexerei.«

»Wer denn?«

»Der Schäfer von Longpré.«

»Aber ein Topf mit heißem Wein! Du musst einen ungeheuren Rausch gehabt haben.«

»Der Schäfer hat die Hälfte getrunken.«

»Nun, dann begreife ich wohl, warum er dieses Mittel verordnet hat. Der heiße Wein hat also nicht gewirkt?« »Nein, Herr General, der Alp hat mich diese Nacht gedrückt, als ob ich gar nichts genommen hätte.«

»Und was hast du noch getan, denn du wirst dich doch nicht auf den heißen Wein beschränkt haben.«

»Ich habe getan, was ich immer tue, wenn ich ein Raubtier fangen will.«

»Und was tust du, wenn du ein Raubtier fangen willst?«, fragte mein Vater.

»Ich stelle eine Falle.«

»Wie, du hast eine Falle gestellt, um die alte Durand zu fangen?«

»Ja, Herr General, ich habe eine Falle gestellt.«

»Wo denn, vor der Tür?«

»Das fehlte noch!«, erwiderte Mocquet. »Sie kommt ja nicht durch meine Tür, die alte Hexe. Sie kommt in meine Stube, ich weiß nicht wie.«

»Vielleicht durch den Schornstein.«

»Es ist kein Schornstein da. Ich sehe sie nur, wenn sie auf mir sitzt.«

»Dun siehst sie?«

»So wie ich Sie sehe, Herr General.«

»Was macht sie denn?«

»O, sie stampft auf meiner Brust herum, dass mir schier der Atem ausgeht.«

»Aber wo hast du die Falle gestellt?«

»Auf meinem Wagen.«

»Und was für eine Falle?«

»Dieselbe, die ich gestellt hatte, um den grauen Wolf zu fangen, der die Schafe des Herrn d’Estournelles erwürgte.«

»Aber deine Falle taugt nicht viel, Mocquet, denn der graue Wolf hat den Köder gefressen, ohne sich fangen zu lassen.«

»Er hat sich nicht fangen lassen. Sie wissen wohl warum, Herr General.«

»Nein, ich weiß es nicht.«

»Er hat sich nicht fangen lassen, weil es der schwarze Wolf war.«

»Das kann nicht sein, Mocquet. Du sagst ja selbst, der Wolf, welcher die Schafe zerriss, sei grau gewesen.« »Jetzt ist er grau, Herr General, aber damals vor dreißig Jahren war er schwarz. Sehen Sie mich nur an, Herr General, vor dreißig Jahren war ich schwarz wie ein Rabe und jetzt bin ich grau wie Ihr Kater.«

»Ja, ich kenne die Geschichte wohl«, erwiderte mein Vater. »Aber wenn der schwarze Wolf der Teufel ist, wie du sagst, so wird er sich nicht verändern.«

»Allerdings, Herr General, aber er wird erst in hundert Jahren ganz weiß, und in jeder Mitternacht des hundertsten Jahres wird er wieder kohlschwarz.«

»Ich will die Sache auf sich beruhen lassen, Mocquet, ich bitte dich nur, meinem Sohn diese schöne Geschichte nicht zu erzählen, bis er mindestens fünfzehn Jahre alt ist.«

»Warum, Herr General?«

»Weil es unnütz ist, den Geist mit solchen Dummheiten vollzustopfen, ehe er reif genug ist, um über weiße und schwarze Wölfe zu lachen.«

»Gut, Herr General, ich werde ihm nichts davon sagen.«

»Weiter.«

»Wo waren wir denn stehen geblieben, Herr General?« »Bei der Falle, die du auf deinen Wagen gestellt hattest. Du meintest, es sei eine famose Falle.«

Ja, das war sie. Sie wog gewiss zehn Pfund, was sage ich, mindestens fünfzehn Pfund mit der Kette, die ich mir um den Arm gelegt hatte. In jener Nacht war es noch schlimmer als sonst. Vorher war die alte Hexe in Pantoffeln gegangen, aber dieses Mal kam sie mit Holzschuhen.«

»Und sie kommt immer noch?«

»Jede Nacht, die Gott werden lässt. Ich werde ganz mager dabei. Sehen Sie nur, Herr General, wie ich zusammengehe. Aber diesen Morgen habe ich meinen Entschluss gefasst.«

»Was für einen Entschluss?

»Ich will ihr eins auf den Pelz brennen.«

»Ein sehr vernünftiger Entschluss.«

»Wann wirst du ihn in Ausführung bringen?«

»Diesen Abend oder morgen.«

»Das ist fatal, ich wollte dich nach Villers-Hellon schicken.«

»Das tut nichts, Herr General. Ist es dringend, was ich dort ausrichten soll?«

»Sehr dringend.«

»Nun, ich kann gehen, es sind nur vier Stunden, wenn man durch den Wald geht. Diesen Abend kann ich wieder da sein. Wir haben ganz andere Jagden gemacht, Herr General.«

Es bleibt dabei, Mocquet. Ich gebe dir einen Brief an Herrn Collard und du gehst fort.

Mein Vater stand auf und schrieb folgenden Brief:

Lieber Collard!

Ich schicke Ihnen meinen Waldhüter, den Sie als einen rechten Einfaltspinsel kennen. Er bildet sich ein, es tanze ein altes Weib jede Nacht auf seiner Brust, und um sich der vermeintlichen Hexe zu entledigen, will er sie totschießen. Da aber die Justiz diese Art, sich selbst vom Albdrücken zu heilen, nicht angemessen finden dürfte, so schicke ich Ihnen den behexten Menschen unter irgendeinem Vorwand. Sie können ihn wieder unter einem beliebigen Vorwand zu Dauré de Vouty schicken, der ihn wieder zu Dulauloy oder, wenn er will, zum Teufel schicken kann.

Kurz, die Wanderung muss mindestens vierzehn Tage dauern. In vierzehn Tagen sind wir ausgezogen und wohnen zu Antilly. Dann ist er nicht mehr in der Nähe von Haramont und aller Wahrscheinlichkeit nach wird er unterwegs sein Albdrücken vergessen. Die alte Durand kann ruhig schlafen, was ich ihr nicht raten würde, wenn Mocquet in der Nähe bliebe.

Er bringt Ihnen ein Dutzend Bekassinen und einen Fasan, den wir gestern geschossen haben.

Viele zärtliche Grüße an Ihre schöne Hermine und tausend Küsse Ihrer lieben kleinen Caroline.

Ihr Freund

Alexander Dumas.

Eine Stunde danach ging Mocquet mit dem Brief fort und drei Wochen nachher fand er sich in Antilly wieder ein.

»Nun, wie geht’s?«, fragte mein Vater, als er ihn frisch und munter wiedersah. »Wie ist’s mit der alten Durand?«

»Sie ist nicht wiedergekommen«, antwortete Mocquet ganz vergnügt. »Sie scheint nur im Kanton ihren Spuk zu treiben.«

6.

Zwölf Jahre waren seit dem Albdrücken des Waldhüters verflossen, ich war fünfzehn Jahre alt. Es war im Winter 1817. Mein Vater war seit zehn Jahren tot, wir hatten keinen Gärtner Pierre, keinen Kammerdiener Hippolyt, keinen Waldhüter Mocquet mehr. Wir wohnten nicht mehr im Schloss Les Fossés, nicht mehr in der Villa zu Antilly, sondern in einem kleinen Haus am Marktplatz zu Villers-Cotterêts, dem Springbrunnen gegenüber, wo meine Mutter einen Tabakladen hatte und daneben Schießpulver, Schrot und Kugeln verkaufte.

Ich war bereits ein leidenschaftlicher Jäger, aber ich hatte nur in Begleitung meines Vetters, des Forstinspektors zu Villers-Cotterêts, Gelegenheit, diese Leidenschaft auf rechtmäßigem Wege zu befriedigen. Außer diesen seltenen Gelegenheiten trieb ich Wilddieberei.

Ich hatte eine sehr hübsche Jagdflinte, welche der Prinzessin Borghese gehört hatte und auf welcher ihr Namenszug eingraviert war. Mein Vater hatte mir diese Flinte geschenkt, als ich noch ein kleiner Knabe war. Bei der Versteigerung, die nach seinem Tod stattfand, hatte ich meine Flinte so dringend verlangt, dass man sie mit den übrigen Gewehren, Pferden und Wagen nicht verkauft hatte.

Die Zeit meiner Freuden war der Winter. Wenn die Erde mit Schnee bedeckt ist und die Vögel keine Nahrung finden, versammeln sie sich da, wo man ihnen Korn streut. Einige alte Freunde meines Vaters, welche große Gärten hatten, erlaubten mir auf ihren Besitzungen Vögel zu schießen. Ich kehrte den Schnee weg, streute Korn und schoss aus einem nahen Versteck zuweilen sechs, acht, zehn Vögel auf einen Schuss.

Wenn der Schnee sehr tief war, so wurde eine Wolfsjagd angestellt. Der Wolf ist ein Feind des Gemeinwohls, ein vogelfrei erklärter Bandit, jedermann kann ihn schießen. Der Winter von 1817 war sehr streng. Der fußhohe Schnee war hart gefroren und gleichwohl hörte man von keinem Wolf.

Eines Nachmittags gegen vier Uhr kam Mocquet, um Pulver zu kaufen. Als er sich entfernte, gab er mir einen Wink. Ich folgte ihm.

»Nun, was gibt’s?«, fragte ich.

»Erraten Sie es nicht, Monsieur Alexander? Wenn ich eine Stunde weit gehe, um hier Pulver zu kaufen, welches auch in Haramont zu haben ist, so können Sie leicht denken, dass ich Ihnen etwas zu sagen habe. Es ist ein Wolf da.«

»Wirklich?«

»Ja, er hat in d’Estournelles diese Nacht ein Schaf geraubt und ich habe seine Spur bis in den Wald verfolgt. Diese Nacht werde ich ihn gewiss wieder sehen, werde ihn umgehen und morgen früh werden wir ihn aufs Korn nehmen.«

»O, welch ein Glück!«

»Aber wir müssen erst die Erlaubnis haben.«

»Von wem?«

»Von Ihrer Frau Mutter.«

»So komm, Mocquet, wir wollen sie um Erlaubnis bitten.«

Meine Mutter betrachtete uns durchs Fenster. Sie ahnte wohl, dass ein Komplott geschmiedet wurde.

Wir gingen wieder hinein.

»Du bist nicht vernünftig, Mocquet«, sagte sie. »Er denkt ohnehin nur zu viel an die Jagd, und du schürst das Feuer noch mehr.«

»Das steckt im Blut, Madame. Es ist wie bei den Hunden von guter Rasse. Sein Vater war ein Jäger, er ist ein Jäger und sein Sohn wird auch ein Jäger werden. Sie müssen gute Miene dazu machen.«

»Und wenn ihm ein Unglück geschieht?«

»Mit mir – ein Unglück? Fürchten Sie nichts, ich stehe für alles. Dem Sohn des Generals sollte ein Unglück geschehen? Nein!«

Meine arme Mutter schüttelte den Kopf. Ich fiel ihr um den Hals.

»Ich bitte dich, Mütterchen!«, sagte ich.

»Aber du musst ihm das Gewehr laden, Mocquet.«

»Fürchten Sie nichts, Madame, sechzig Pulverkörner, nicht mehr und nicht weniger, und eine Kugel, zwanzig auf ein Pfund.«

»Du musst immer bei ihm bleiben.«

»Ich folge ihm wie ein Schatten.«

»Er muss sich an deine Seite stellen.«

»Ich nehme ihn zwischen die Knie.«

»Mocquet, dir allein vertraue ich ihn an.«

»Und ich bringe ihn wieder, wie er hier ist.«

»Jetzt nehmen Sie Ihre sieben Sachen und gehen Sie mit mir, die Frau Mama erlaubt es.«

»Was! Diesen Abend?«

»Allerdings, morgen wäre es zu spät! Den Wolf muss man vor Sonnenaufgang aufsuchen.«

»Fürchtest du denn nicht, dass der Wolf ihn fressen könnte?«

»Ich sage Ihnen ja, dass ich für alles stehe.«

»Aber wo soll der arme Junge schlafen?«

»Natürlich bei mir. Ich lege ihm eine gute Matratze auf die Erde, mit schneeweißem Bettzeug und einer guten warmen Decke. Er wird gewiss den Schnupfen nicht bekommen.«

»O nein, Mütterchen, gib dich nur zufrieden. Ich bin fertig, Mocquet.«

»Und du gibst mir zum Abschied nicht einmal einen Kuss, Alexander?«

»O ja, Mütterchen, zwei für einen.«

Ich fiel meiner Mutter um den Hals und schloss sie zärtlich in meine Arme.

»Wann kommst du wieder?«

»O fürchten Sie nichts, er kommt morgen Abend wieder.«

»Morgen Abend? Du sagtest ja bei Tagesanbruch.«

»Bei Tagesanbruch haben wir’s mit dem Wolf zu tun. Aber wenn wir vielleicht leer ausgehen, so muss er doch ein paar wilde Enten schießen.«

»Aber er wird ertrinken.«

»Tausend Donner!«, sagte Mocquet, »wenn ich nicht die Ehre hätte, mit der Frau meines Generals zu sprechen, so würde ich Ihnen sagen …«

»Nun, was würdest du sagen?«

»Dass Sie aus Ihrem Sohn einen Hasenfuß machen werden. Wenn die Mutter des Generals hinter ihm gestanden und ihn am Rockschoß gehalten hätte, wie Sie hinter Ihrem Söhnlein stehen, so wäre er nicht einmal übers Meer nach Frankreich gekommen.«

»Du hast recht, Mocquet, nimm ihn mit.«

Meine Mutter wandte sich ab, um eine Träne abzuwischen.

Die Träne einer Mutter ist kostbarer als eine Perle von Ophir. Ich sah die Träne fließen.

Ich schmiegte mich an meine Mutter und sagte leise zu ihr: »Wenn du willst, Mütterchen, so bleibe ich.«

»Nein, gehe, mein Kind«, sagte sie entschlossen. »Mocquet hat recht, du musst doch einst ein Mann werden.«

Ich küsste sie noch einmal, dann eilte ich dem Waldhüter nach, der sich schon entfernt hatte.

Hundert Schritte vom Haus sah ich mich um. Meine Mutter war mitten auf die Straße getreten, um mir länger nachzuschauen. Ich wischte eine Träne ab, die an meinen Wimpern zitterte.

»Ich glaube gar«, sagte Mocquet, »Sie weinen auch, Monsieur Alexander?«

»Das kommt von der Kälte.«

Gott, der in mein Herz sah, wusste wohl, dass die Träne mir nicht durch die Kälte entlockt wurde.

7.

Es war stockfinster, als wir in Mocquets Haus kamen.

Unser Abendessen bestand aus Eierkuchen mit Speck und Hasenpfeffer.

Nach dem Essen machte der Waldhüter mein Bett. Er hatte meiner Mutter Wort gehalten. Ich hatte eine gute Matratze, reines Bettzeug und eine warme Decke.

»Jetzt kriechen Sie in Ihr Nest«, sagte Mocquet, »und schlafen Sie. Um vier Uhr Früh müssen wir aufbrechen.«

»Ich stehe auf, wann du willst, Mocquet.«

»Ja, ja, abends haben Sie das große Wort. Aber wenn’s Früh ans Aufstehen geht, muss man dem jungen Herrn einen Krug Wasser über den Kopf schütten, um ihn aus dem Bett zu bringen.«

»Ich erlaube dir’s, Mocquet, wenn du mich zweimal rufen musst.«

»Nun, wir werden sehen.«

»Willst du denn schon schlafen, Mocquet?«

»Was soll ich denn tun?«

»Du könntest mir wohl eine von jenen Geschichten erzählen, die mich so gut unterhielten, als ich klein war.«

»Und wer wird für mich um zwei Uhr aufstehen, wenn ich bis Mitternacht Geschichten erzähle?«

»Du hast recht, Mocquet.«

Ich kleidete mich aus und legte mich schlafen.

Mocquet warf sich in vollen Kleidern aufs Bett. Nach fünf Minuten schnarchte er wie ein Dachs.

Ich warf mich mehr als zwei Stunden im Bett hin und her, ohne einschlafen zu können. Wie viele schlaflose Nächte habe ich vor der Eröffnung der Jagd schon zugebracht!

Endlich gegen Mitternacht siegte die Ermüdung.

Um vier Uhr Früh wurde ich durch ein eigentümliches Gefühl der Kälte geweckt. Ich schlug die Augen auf. Mocquet hatte die Decke zurückgeschlagen und stand völlig gerüstet, mit der Pfeife im Mund, vor meinem Lager. Es war dunkel in der Stube, nur das Feuer der Pfeife warf einen matten rötlichen Schein auf das Gesicht des Waldhüters.

»Ich bin ihm auf der Spur«, sagte Mocquet.

»Wem denn?«, fragte ich.

»Dem Wolf.

»Wirklich? Das ist ja schön.«

»Es ist ein gutmütiger Tropf. Raten Sie, wohin er sich geflüchtet hat … Ich wette hundert, ich wette tausend gegen eins, dass Sie es nicht erraten. Denken Sie sich, er sitzt im Eichenkamp.«

»Im Eichenkamp! Dann ist er also verloren?«

»Ich sage Ihnen, wir haben ihn, Monsieur Alexander!«

Der »Eichenkamp« ist ein etwa zwei Joch großes Gebüsch auf der Feldmark von Largny, etwa fünfzig Schritte vom Wald entfernt.

»Vor dem Wald«, fuhr Mocquet fort, »sind die besten Schützen aufgestellt: Moynat, Mildet, Watrin, Lafeuille. Wir umzingeln das Gebüsch gemeinschaftlich mit Herrn Charpentier von Wallis, Herrn Hochedez von Largny und Herrn d’Estournelles von Les Fossés, dann werden die Hunde losgelassen …«

»Mocquet, du musst mich an einen guten Platz stellen.«

»Ich sage Ihnen ja, dass Sie bei mir stehen sollen … Aber vor allem müssen Sie aufstehen.«

»Du hast recht, Mocquet … Brrrrr!«

»Nun, ich will mich Ihrer Jugend erbarmen und ein Reisigbündel im Kamin anzünden.«

»Ich wollte dich nicht darum bitten, lieber Mocquet, aber es wäre mir sehr lieb.«

Mocquet holte einen Armvoll Holz, warf es in den Kamin und zündete es an.

Das Feuer begann sogleich zu knistern und lustig im Rauchfang emporzulodern.

Ich setzte mich auf den Schemel und kleidete mich an. Mocquet betrachtete mich mit Wohlgefallen und zollte meinem Eifer und meiner Geschwindigkeit das verdiente Lob.

»Jetzt«, sagte er, »ein Tröpfchen Parfait Amour, und dann fort!«

Mocquet füllte zwei Gläschen mit einer gelblichen Flüssigkeit, die ich nicht zu kosten brauchte, um sie zu erkennen.

»Du weißt«, sagte ich, »dass ich nie Branntwein trinke.«

»Gerade wie der Papa … Aber was wollen Sie denn nehmen?«

»Gar nichts.«

»Aber Sie kennen doch das Sprichwort: Ein leeres Haus wird vom Teufel heimgesucht. Sie müssen dem Magen etwas bieten, ich will unterdessen Ihr Gewehr laden, denn ich muss der Frau Mutter mein Wort halten.«

»Nun, dann gib mir ein Stück Brot und ein Glas Pignolet.«

Der Pignolet ist ein schlechter Wein, der auf dem flachen Land wächst. Man nennt ihn scherzweise den »Dreimännerwein«, denn während einer trinkt, müssen ihn zwei andere halten.

Ich war an den Pignolet ziemlich gewöhnt und trank ihn ohne fremde Beihilfe.

Ich aß mein Stück Brot und trank mein Glas Pignolet, während Mocquet mein Gewehr lud.

Ich bemerkte, dass er mit seinem Waidmesser ein Zeichen an meiner Kugel machte.

»Was machst du da, Mocquet?«, fragte ich. »Ich mache ein Kreuz auf Ihre Kugel«, antwortete er. »Da Sie bei mir stehen, werden wir vielleicht zusammen schießen, und wenn der Wolf fällt, ist es gut zu wissen, wer ihn geschossen hat. Ich weiß wohl, dass es Ihnen nicht um das Schussgeld, sondern um die Ehre zu tun ist … Zielen Sie also gut.«

»Ich werde mein Möglichstes tun.«

»Haben Sie Ihr Stück Brot verzehrt?«

»Ja.«

»Und Ihren Pignolet getrunken?«

»Ja.«

»Dann vorwärts, und den Gewehrlauf hoch!«

Ich befolgte den weisen Rat des alten Jägers und wir gingen in die kalte Wintertracht.

8.

Das Stelldichein war auf der Straße zwischen Villers-Cotterêts und Chavigny.

Wir fanden die Waldhüter der Umgebung und einige unserer Jäger.

In zehn Minuten erschienen die noch fehlenden Schützen, sodass wir schon vor fünf Uhr vollzählig waren.

Es wurde verabredet, das Gebüsch im weiten Kreis zu umzingeln und langsam näher zu rücken. Diese Bewegung sollte in aller Stille ausgeführt werden, da die Wölfe bei dem kleinsten Geräusch davonzulaufen pflegen.

Jeder Schütze sollte sorgfältig auf seinen Weg achtgeben, um zu sehen, ob der Wolf immer noch im Gebüsch sei.

Der Kreis zog sich zusammen, ohne dass eine Wolfsfährte bemerkt wurde. Der Feldhüter hielt die Hunde Mocquets am Riemen. Jedermann stellte sich vor dem Gebüsch an der Stelle auf, zu welcher ihn sein Weg führte. Der Zufall wollte, dass ich mit Mocquet am nördlichen, dem Wald zugewandten Saum des Geheges stand. Wir hatten, wie Mocquet gesagt hatte, den besten Platz, denn aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Wolf dem Wald zueilen und folglich auf unserer Seite zum Vorschein kommen.

Wir stellten uns etwa fünfzig Schritte voneinander vor zwei Eschen auf und warteten mit angehaltenem Atem. Die Hunde wurden auf der entgegengesetzten Seite losgelassen, sie begannen zu bellen, schwiegen aber bald. Der Feldhüter ging ihnen nach, schlug mit seinem Stock an die Bäume, lärmte und schrie.

Aber die Hunde standen still, als ob sie am Boden festgewachsen wären, sie waren nicht von der Stelle zu bringen.

»Ei, Mocquet«, rief der Feldhüter, »der Wolf scheint ein Erzgrimmbart zu sein, denn die Hunde wollen nicht vorwärts … Vorwärts, Pluto, Rocador, vorwärts! …«

Mocquet hütete sich wohl zu antworten, denn seine Stimme würde dem Wolf die Richtung angedeutet haben, wo er Feinde finden würde.

Der Feldhüter ging weiter und schlug immerfort an die Bäume.

Die beiden Hunde schlichen ihm vorsichtig und nur leise knurrend nach.

»Ei der Tausend!«, rief der Feldhüter plötzlich, »ich hätte ihn beinahe auf den Schweif getreten! … Der Wolf! Der Wolf! Er kommt, Mocquet!«

Wir hörten wirklich etwas durch das Gebüsch auf uns zukommen.

Der Wolf kam im vollen Lauf gerade zwischen mir und Mocquet aus dem Gebüsch und eilte dem Wald zu. Es war ein sehr großer, altersgrauer, fast weißer Wolf.

Mocquet feuerte beide Läufe auf ihn ab. Ich sah die Kugeln auf dem Schnee abprallen.

»So schießen Sie doch!«, rief er. »Schießen Sie!«

Ich schlug mein Gewehr an, zielte eine Sekunde und schoss.

Der Wolf machte eine Bewegung, als ob er sich in die Schultern beißen wollte.

»Getroffen! Getroffen!«, rief Mocquet. »Der große Räuber muss von der Hand eines Knaben fallen! Gottes Segen ist mit den Unschuldigen!«

Der Wolf wandte sich seitwärts und lief gerade auf Moynat und Mildet, die besten Schützen der Gesellschaft, zu. Beide schossen … und verfehlten.

Dies war unerhört. Ich hatte gesehen, dass Moynat siebzehn Bekassinen nacheinander schoss, ich hatte gesehen, dass Mildet ein von einem Baum zum anderen springendes Eichhörnchen mitten durchschoss.

Die beiden Waldhüter schossen zum zweiten Mal. Ich konnte nicht sehen, ob sie getroffen hatten, denn der Wolf war hinter einer Ecke des Gebüsches bereits verschwunden. Die beiden Waldhüter kamen verdrießlich und kleinlaut auf uns zu.

»Nun, wo ist er?«, fragte Mocquet.

»Er ist bereits zu Taillefontaine«, sagte Mildet, die Hand ausstreckend.

»Zu Taillefontaine!«, erwiderte Mocquet ganz verblüfft. »Ihr habt ihn also verfehlt?«

»Warum nicht? Du hast ihn ja auch nicht getroffen.« Mocquet schüttelte den Kopf. »Es geht nicht mit rechten Dingen zu«, sagte er. »Es ist zu verwundern, dass ich ihn gefehlt habe, aber es ist doch möglich. Aber dass Moynat, dass Mildet zweimal verfehlt haben sollen, das ist nicht wahr.«

»Aber es ist doch so.«

»Übrigens haben Sie ihn getroffen«, sagte Mocquet zu mir.

»Weißt du das gewiss?«

»Es ist eine Schande für uns, aber Sie haben ihn getroffen, so wahr ich Mocquet heiße.«

»Es wird sehr leicht zu ermitteln sein«, erwiderte ich. »Wenn ich ihn getroffen habe, müssen wir die Blutspur auf dem Schnee finden. Komm, Mocquet, geschwind!«

»Nur langsam!«, mahnte der alte Jäger, indem er die Fährte des Wolfes Schritt für Schritt verfolgte.

Die Jäger, welche das Gebüsch umzingelt hatten, kamen nun mit dem Feldhüter, der ihnen erzählte, was vorgegangen war.

Ich verfolgte mit Mocquet die Fährte. Wir kamen an die Stelle, wo ich nach dem Wolf geschossen hatte.

»Siehst du wohl, Mocquet«, sagte ich, »ich habe ihn verfehlt.«

»Warum glauben Sie das?«

»Man sieht ja kein Blut.«

»Dann suchen Sie die Spur Ihrer Kugel auf dem Schnee.«

Ich orientierte mich und suchte in der Richtung, die meine Kugel, wenn sie den Wolf nicht getroffen, hätte nehmen müssen.

So ging ich mehre hundert Schritte fort, ohne etwas zu finden. Endlich kehrte ich um.

Mocquet winkte den übrigen Schützen.

»Ich habe die Kugel nicht gefunden«, sagte ich.

»Dann bin ich erfolgreicher gewesen als Sie. Ich habe sie gefunden.«

»Was! Du hast sie gefunden?«

»Treten Sie zu mir und gehen Sie nicht von der Stelle«, sagte er.

Die übrigen Jäger hatten sich genähert, aber Mocquet deutete ihnen eine Linie an, die sie nicht überschreiten sollten.

»Dass Ihr auf den ersten Schuss nicht getroffen habt«, sagte Mocquet zu den beiden Waldhütern, »habe ich gesehen, aber auf den zweiten Schuss …«

»Auch gefehlt.«

»Wisst Ihr das gewiss?«

»Die beiden Kugeln haben sich in Baumstämmen befunden.«

»Es ist nicht zu glauben«, sagte Watrin.

»Nein, es ist nicht zu glauben«, erwiderte Mocquet, »und gleichwohl will ich Euch etwas noch Unglaublicheres zeigen … Betrachtet den Schnee, was seht Ihr?«

»Ein Wolfsfährte.«

»Und was ist neben seiner rechten Pfote im Schnee?« »Ein kleines Loch.«

»Versteht Ihr’s noch nicht?«

Die Jäger sahen einander erstaunt an.

»Unmöglich!«, sagten sie.

»Es ist aber doch so, und ich will’s Euch beweisen.« Mocquet steckte die Hand in den Schnee, suchte einen Augenblick und zog frohlockend eine platt gedrückte Kugel aus dem Schnee.

»Ei! Das ist ja meine Kugel«, sagte ich.

»Sie erkennen sie also?«

»Allerdings, du hattest sie ja gekennzeichnet.«

»Und was für ein Zeichen hatte ich darauf gemacht?« »Ein Kreuz.«

»Sie sehen, meine Herren«, sagte Mocquet.

»Erkläre uns das Rätsel.«

»O mein Gott! Es ist ja sonnenklar, ich hatte kein Kreuz an meinen Kugeln und du auch nicht, Mildet?«

»Nein.«

»Und du, Moynat?«

»Ich auch nicht.«

»Da haben wir’s. Die gewöhnlichen Kugeln haben ihm nichts anhaben können, aber die mit dem Kreuz gekennzeichnete Kugel des Knaben konnte er nicht abwehren. Sie ist ihm in die Schulter gefahren, ich habe gesehen, wie er den Kopf wandte, als ob er sich beißen wollte.«

»Aber wenn die Kugel in seine Schulter gedrungen ist«, fragte ich ganz erstaunt über das Stillschweigen der anderen, »wie kommt es denn, dass er nicht auf dem Fleck tot geblieben ist?«

»Weil sie weder von Gold noch von Silber war. Nur goldene und silberne Kugeln können dem Teufel in die Haut dringen und denen, die einen Pakt mit ihm gemacht haben, das Lebenslicht ausblasen.«

Die Waldhüter waren ganz erschrocken.

»Mocquet, glaubst du wirklich …«

»Ich würde darauf schwören«, sagte Mocquet.

»So sprich doch«, ereiferte ich mich, »was würdest du beschwören?«

»Ich würde darauf schwören, dass wir’s mit einem Werwolf zu tun haben.«

Die Waldhüter und Jäger sahen einander an. Einige von ihnen bekreuzigten sich. Alle schienen die Meinung Mocquets zu teilen und zu wissen, was er mit dem Werwolf meinte. Ich allein wusste es nicht.

»Was ist’s denn mit dem Werwolf?«, fragte ich.

Mocquet zögerte mit der Antwort. »Ich kann’s Ihnen jetzt wohl sagen«, erwiderte er endlich. »Der General sagte, wenn Sie fünfzehn Jahre alt wären, könnten Sie es schon wissen … und Sie sind jetzt fünfzehn, nicht wahr?«

»Sogar schon sechzehn«, antwortete ich mit Selbstgefühl.

»So will ich’s Ihnen nur sagen, Monsieur Die Waldhüter und Jäger schieden mit schweigendem Händedruck, und jeder ging seines Weges. Ich ging mit Mocquet, der mir die Geschichte erzählte, welche ich dem Leser nun mitteile.

31. Mai 1856

Alex. Dumas