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Der goldene Fels – Kapitel 7

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Siebentes Kapitel

Martha blieb, als Burkhardt sie bis an den Eingang ihres Gartens begleitet hatte, noch einen Augenblick stehen und sah, wie seine Gestalt im Abendnebel verblassend verschwand. Nun trat sie hinein in den Garten und umschritt langsam den großen Rasenplatz vor dem Eingang der Villa. Die schon müde blühenden Blumen auf den Beeten standen erbleichend im sterbenden Licht des Tages.

Aber Martha hatte jetzt keinen Blick für die Natur um sie her. In ihre Seele schaute sie hinein, in das wilde Wogen von Zorn, Schmerz und jubelnder Freude, das dort so gewaltig tote. Doch immer wieder siegte die Freude. Max liebte sie noch, hatte sie geliebt all die Jahre hindurch! Das war ein Glück, wie sie noch keines gefühlt hatte. Vor seinem Glanz versank in wohltätige Dunkelheit alles, was an Sorgen und Konflikten hinter dieser wärmenden, leuchtenden Erkenntnis verborgen war.

Plötzlich fuhr sie zusammen. Fast unmittelbar neben ihr war in der Dämmerung eine Männergestalt aufgetaucht. Sie kam nicht vom Haus her, sondern aus einem der schon tief umdunkelten, dicht umbuschten Seitengang des Parks. Aber sie lächelte gleich darauf über ihr Erschrecken, sie hatte Herrn von Hofen in der unerwarteten Erscheinung erkannt. Er grüßte höflich und blieb mit gezogenem Hut vor ihr stehen.

»Gnädige Frau verzeihen, dass ich ein wenig im Garten hier umhervagiert bin. Ich hatte die Absicht, Ihnen und Ihrem Herrn Vater meinen Besuch zu machen, aber man sagte mir, dass alle fortgegangen wären, auch Ihr Herr Gemahl.«

»Ja, wir waren in der Stadt. Alle, die Herren sind noch dort.«

»Ich bin glücklich, die gnädige Frau wenigstens begrüßen zu dürfen. Meine Neugier belohnt sich. Als ich niemand traf, bin ich so kühn gewesen, ein wenig im Park herumzuspazieren und mir alles anzuschauen. Ein prächtiger Besitz!«

»Wollen Sie nicht mit hinaufkommen?«

»Danke, nein, gnädige Frau. Ich muss jetzt gehen.«

»Dann kommen Sie hoffentlich bald ein anderes Mal.«

»Ich mache gerne von der gütigen Erlaubnis Gebrauch.«

Er küsste Martha die Hand, warf dann einen Blick zu der Villa hinauf, bis an deren Eingang er sie begleitet hatte. »Gnädige Frau wohnen oben?«

»Ja, droben im zweiten Stock. Das heißt, es ist eigentlich ein großer gemeinsamer Haushalt. Wir essen mit Vater zusammen, auch die Gesellschaftsräume im ersten Stock sind gemeinsam. Vater wohnt unten, aber mein Mann hat auch noch ein Arbeitszimmer neben dem seinen.«

»Sehr nett, sehr behaglich. Wollen gnädige Frau die Güte haben, mich den Herren zu empfehlen? Ich werde mir erlauben, bald einmal wieder vorzusprechen.«

»Gewiss. Gute Nacht, Herr von Hofen.«

»Gute Nacht, gnädige Frau.«

Sie hatte die Aufforderung nicht noch einmal wiederholt, mit hinaufzukommen. Sie fühlte Sehnsucht, mit ihren stürmenden Gedanken und Empfindungen allein zu sein. Wohltätig empfing sie beim Eintreten die Stille des großen Hauses, dessen weite Räume scheinbar ganz menschenleer, aber schon hell und warm beleuchtet waren. Während Martha die Treppe zum zweiten Stockwerk langsam hinaufschritt, kam nun aber auch das Gefühl des Gebundenseins, der übernommenen Pflichten wieder lastend über sie, dämpfte den Jubel des Glücks in ihrem Herzen.

Ihr kleiner Salon war leer, und sie ging behutsam gleich in das nebenan gelegene Schlafgemach des Knaben.

Er war schon in sein kleines Bett gebracht worden, und sie schickte das Kinderfräulein, das wachsam daneben saß, hinaus, um selbst ihren Platz einzunehmen.

Lange Zeit blieb sie regungslos und blickte auf ihr schlafendes Kind nieder, um dann ganz leise zu sagen: »Ich will dir eine gute Mutter sein und bleiben.« Gewaltsam lenkte sein Anblick ihr nun auch die Gedanken wieder zu ihrem Gatten zurück. Sie nickte leise, gedankenvoll den Knaben still betrachtend. »Ja, dich liebt er«, flüsterte sie. »Dich allein auf der Welt.«

Endlich stand sie auf, rief das Kinderfräulein zurück und ging in ihr kleines, helles Boudoir. Dort schritt sie lange Zeit auf und nieder, tief in Gedanken. Sie gedachte der Jahre, die zwischen ihrer Kinderzeit und dem Jetzt lagen, in denen sie nichts von ihrem Jugendfreund gehört, nichts von ihm gesehen hatte.

Sie war Mutter geworden und hatte redlich versucht, nicht nur ihr Kind, auch ihren Mann zu lieben. Aber es war immer etwas dagewesen, was ihre Seele von ihm zurückstieß. Anfangs war sie mit sich ins Gericht gegangen und hatte darüber gegrübelt, ob nicht ihr Jugendgefühl für den anderen es war, was zwischen ihnen stand. Langsam aber hatte sie gelernt, sich von dieser Schuld freizusprechen. Aus tausend kleinen Zeichen war es ihr klar geworden, dass auch Karl Georg sie nicht aus Liebe geheiratet hatte, dass nur ihres Vaters Geld es gewesen war, was ihn zu ihr getrieben hatte. Und nun war es ihr ein Gefühl der Befreiung, dass ihr Herz nichts mehr für ihn empfand. Sie freute sich, es ihm gesagt zu haben, bevor sie von Max Burkhardts Liebe Gewissheit erhalten hatte.

Der Diener, der sie zum Abendessen rief, unterbrach ihr tiefes, widerspruchsvolles Grübeln. Ihr Mann war nicht nach Hause gekommen und kam auch jetzt nicht. Martha saß allein im Speisezimmer, aß eine Kleinigkeit und ging wieder hinauf. Sie hörte nach einiger Zeit ihren Vater heimkommen, es war aber zu spät geworden, um noch mit ihm zu reden. Dann kam die tiefe Ruhe der Herbstnacht über das Haus. Martha las noch eine Weile still für sich. Sie hatte Heines Buch der Lieder, das in ihren Mädchenjahren ihre Lieblingslektüre gewesen war, nach langer Zeit einmal wieder hervorgesucht. Ein tiefer Seufzer kam von ihren Lippen, als ihr Blick auf die Verse fiel:

Mein Kind, wir waren Kinder,

Zwei Kinder, jung und froh,

Sie ließ das Buch sinken, starrte mit großen, feuchten Augen vor sich hin und las nicht weiter.

Gleich nach Mitternacht ging Martha schlafen. Und ihres Mannes Fernsein war ihr wie eine Rechtfertigung für ihr sehnsüchtiges Denken an den wiedergefundenen Jugendfreund. Noch in ihre Träume hinein wirkte das Wiedersehen. Sie war in den freundlichen Phantasien der Nacht wieder ein Kind und spielte wie vor Jahren mit Max Burkhardt. Sie hatte sich in die große Hundehütte bei der Fabrik verkrochen und wartete darauf, dass er sie suchen und finden sollte. Und jetzt kam er wirklich, klopfte mit leisem Finger auf das hölzerne Dach. Sie rührte sich nicht, blieb ganz mäuschenstill. Aber Max klopfte noch einmal, heftiger, lauter. Nun fuhr sie plötzlich empor aus dem Schlaf. Es hatte wirklich geklopft, und sie hörte des Dieners wohlbekannte Stimme rufen: »Gnädige Frau! Gnädige Frau!«

Ihr erster Gedanke galt nun doch ihrem Mann. War ihm ein Unglück zugestoßen? Aber nein, der Diener bat im Auftrage ihres Vaters, rasch aufzustehen und zu ihm hinunterzukommen. Eilig warf sie die Kleider über und ging hinaus. Da war auch ihr Vater schon selbst auf der Treppe, nur notdürftig angekleidet. Sein graues Haar umgab den Kopf gleich einem wirren Heiligenschein.

Er sagte flüsternd mit aufgeregter Stimme: »Martha, hast du nichts gehört?«

»Nein. Was denn?«

»Da sieht man, wie du schläfst. Aber unsereiner, du lieber Gott, nicht einmal in der Nacht hat man seine Ruhe! Schlaflos lag ich und hörte die Uhr alle Viertelstunden schlagen. Und jetzt, vor zwanzig Minuten ungefähr, da fing noch ein anderes Geräusch an. Es war wie ein Kratzen an der Wand neben meinem Bett. Na, das war nicht gerade gemütlich, kann ich dir sagen. Eine Gänsehaut nach der anderen lief mir über den Rücken. Das Geräusch hörte zuweilen auf, aber es fing immer wieder an. Zuletzt, ich bin ja doch ein mutiger Kerl, zuletzt habe ich nach dem Diener geklingelt und jetzt wollen wir zusammen einmal nachsehen, ob etwa gar Einbrecher im Haus sind. In der Stadt wurde heute wieder kaum etwas anderes gesprochen als von solchen Gaunerstreichen.«

Sie waren unten im Flur angekommen. Helbig holte sich einen Revolver aus dem Schlafzimmer und gab dem Diener einen alten Säbel, der sonst als Wanddekoration diente, in die Hand. So ausgerüstet begannen alle drei zusammen einen Rundgang durchs Haus. Die Räume des Erdgeschosses wurden zunächst mit Sorgfalt abgesucht, wobei der Diener unter Betten und Sofas kriechen musste, während Martha die Schranktüren öffnete, hinter denen sich ein Mensch verborgen haben konnte. Vergeblich aber war alles Forschen, das Helbig mit Schelten auf seinen Schwiegersohn belebte, der sich wieder einmal in der Stadt herumtrieb, sein gutes Geld vergeudete und unterdessen in der Villa Räuber und Mörder ihr Spiel treiben ließ. Doch fanden sich weder Mörder noch Räuber. Die beiden oberen Geschosse wurden mit gleichem Eifer durchsucht, aber auch vollkommen fruchtlos. Nirgends fand sich eine Spur von irgendetwas Ungewöhnlichem. Haustür und Fensterläden waren fest verschlossen, alle Räume leer und still. Keine Spur von einem Geräusch war zu vernehmen.

»Vater, du hast wohl geträumt?«, sagte Martha lächelnd.

»Unsinn, Kind! Wie kann ich denn träumen, wenn ich nicht schlafe? Aber vielleicht …« Seine großen, vortretenden Augen füllten sich mit raschen Tränen. »… Vielleicht war es der Totenwurm, der mir mein Ende verkündigte. Du lieber Gott, ich bin ja nicht weit von zweiundsechzig. Und auch der Unglücksfels dort hinten soll schon geleuchtet haben. Ach, es ist schauderhaft!«

 

Am nächsten Morgen herrschte Gewitterstimmung in der Villa. Der Kommerzienrat litt an heftigem Rheumatismus, den er sich seiner Ansicht nach bei den zwei nächtlichen Promenaden geholt hatte, weil er dabei zu leicht bekleidet gewesen war. Er hatte sich gleich nach dem Frühstück mühsam die Treppen hinaufgeschleppt und in Marthas Boudoir häuslich eingerichtet, um sich von ihr dort unterhalten zu lassen. Er war ärgerlich über die nächtliche Störung – der Diener hatte bereits in aller Frühe mit einer Anzeige zur Polizei laufen müssen -, über seine Schmerzen, über die Notwendigkeit, sich zu Hause zu halten. Wütend war er vor allem auf Karl Georg. Dass dieser tatsächlich wieder gespielt hatte, war ihm schon am Tag zuvor durch einen von ihm abgeordneten Detektiv berichtet worden, und er sehnte sich danach, ihm seine Meinung darüber gründlich zu sagen. Den ganzen vorigen Tag aber, einen Sonntag ohne Fabrikarbeit, war der Schwiegersohn, als ob er etwas geahnt hätte, nicht nach Hause gekommen. Auch in der Nacht bei der Untersuchung war er fern gewesen, und jetzt lag er noch in seinem Bett und schlief in den Tag hinein. Die zornigen Klagen Helbigs hatten Martha bisher gehindert, ihre Frage nach Burkhardts verlorenem Brief zu tun, die sie so sehr bewegte. Nach dem Frühstück hatte sie gehofft, endlich davon sprechen zu können, aber es kam eine neue Störung. Ein Blick in die Morgenzeitung hatte den Kommerzienrat abermals in Aufregung versetzt.

»Höre nur, Martha«, rief er mit bebender Stimme, »man ist hier wirklich seines Lebens nicht mehr sicher. Gestern schon hat man allerlei gemunkelt in der Stadt, hier steht es ausführlich. Im Excelsiorhotel hat man in vorletzter Nacht einen Engländer um tausend Pfund bestohlen. Und wie haben die Gauner das gemacht? Höre nur, höre nur! Sie haben vom Nebenzimmer aus ein Loch in die Wand gebohrt, an der das Bett von dem Engländer gestanden hat, haben ihm durch eine feine Röhre Chloroform aufs Gesicht gespritzt und ihn so betäubt. Morgens noch hat man das Chloroform ganz deutlich riechen können. Dann haben die Kerle in der sorgfältig verschlossenen Tür den Schlüssel von außen umgedreht, mit einem besonderen Instrument. Uistiti nennen sie hier das Ding, ein komischer Name! So sind sie hineingekommen. Eine schauderhafte Geschichte. Dabei das Geräusch in letzter Nacht, ich könnte darauf schwören, dass es in der Wand über meinem Bett war. Ich habe trotz meiner Schmerzen die Wand noch einmal von allen Seiten untersucht, aber nichts gefunden. Und nun …«

In diesem Augenblick erschien Karl Georg, lächelnd und heiter wie gewöhnlich, aber noch bleicher und starrer im Gesichtsausdruck als an den vorhergehenden Tagen. Er trat mit den Worten herein: »Ich hörte hier Stimmen. Wollte nur Guten Morgen sagen, bevor ich zum Frühstück hinuntergehe.«

»Damit warte gefälligst noch ein wenig«, fuhr sein Schwiegervater ihn an. »Du kommst mir gerade recht. Martha, geh hinaus für ein paar Minuten. Ich habe mit Karl Georg zu sprechen.«

Martha gehorchte, Helbig setzte sich in Positur, soweit sein Rheumatismus es gestattete. »Ich habe neulich schon davon gesprochen, dass ich den Verdacht hätte, du spielst wieder. Und ich habe jetzt auch den Beweis dafür. Du spielst im Palasthotel, wenn du das auch noch hören möchtest.«

»Kann ich vielleicht erfahren, wer mich verpetzt hat?«

»Es fällt mir gar nicht ein, dir das zu sagen. Du hast dein Ehrenwort gebrochen und bist ein Lump in meinen Augen.«

»Du warst neulich schon so freundlich, mir das zu sagen.«

»Aber du wirst es noch öfter hören, sehr oft sogar; du Lump, du Lump, du Lump! Und ich sagte dir auch schon, welche Folgerung ich daraus zu ziehen gedenke. Nächste Woche, wenn ich nur erst wieder kriechen kann, fahre ich nach Köln und ändere mein Testament.«

»Nach Belieben.«

»Aber in dieser Nacht, in der an Schlaf für mich ja nicht zu denken war, ist mir noch etwas anderes eingefallen. Ich werde dich für kreditlos erklären lassen. Ich werde bekanntmachen, öffentlich, in den Zeitungen, dass ich auch nicht einen Pfennig von den Schulden bezahle, die du machst.«

Karl Georg zuckte die Achseln, sagte jedoch kein Wort. Erst nach einem Schweigen von ein paar Augenblicken tat er die Frage: »Kann ich nun gehen? War das der Schluss der Predigt?«

»Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Nun geh, wohin du willst. Ich bin froh, wenn ich dich nicht mehr sehe.«

De la Motte ging mit rascher, elastischer Wendung zur Tür hinaus. Martha kam kurz darauf zurück. Helbig schalt noch ein wenig hinter Karl Georg her, doch besserte seine Laune sich merklich, nachdem er sich den Ärger vom Herzen herunter gesprochen hatte. So hielt es Martha nach einiger Zeit für möglich, ihren Vater endlich nach Burkhardts Brief zu fragen. Sie begann mit einer allgemeinen Erkundigung, um Ebisbergs wahrscheinlichen Anteil an dem Verlust festzustellen.

»Vater, nicht wahr, die Briefe, die für uns kommen, werden alle zuerst in die Fabrik gebracht?«

»Sie werden überhaupt nicht vom Briefträger hergebracht. Ich lasse sie von einem Boten holen. Wir haben ja, wie jedes große Geschäft, unser eigenes Fach auf der Post.«

»Und wenn Privatbriefe dabei sind? Für mich zum Beispiel?«

»Die Briefe werden in der Fabrik sortiert. Was an Privatbriefen darunter ist, wird hierher in die Villa gebracht.«

»Wer tut es?«

»Einer von meinen jungen Leuten, selbstverständlich immer nur ein zuverlässiger Mensch. Wenn ein Volontär vorhanden ist, muss er es tun. Ich sehe dann hier noch einmal alles durch.«

Ein tiefer Atemzug bewegte Marthas Brust. »Also der Volontär«, wiederholte sie halblaut. Nach einem kleinen Schweigen tat sie dann eine direkte Frage nach Burkhardts verlorenem Brief.

»Vor vier Jahren soll das gewesen sein? Ja, liebes Kind, ich kann das nicht ohne Weiteres … von Burkhardt ein Brief an dich? Nein, das wäre mir aufgefallen, ich würde das nicht vergessen haben.«

»Du meinst also sicher, dass dieser Brief niemals in deine Hände gekommen ist?«

»Jawohl, ich kann das positiv behaupten. Sagt er denn, dass er dir geschrieben hat? Und was kann er dir überhaupt geschrieben haben?«

»Ich habe den Brief nicht bekommen, Vater, kann dir also nicht sagen, was darin gestanden hat.«

»Na, dann wird er wohl niemals abgeschickt worden sein. Kannst nun auch ein Buch schreiben: Briefe, die sie nicht erreichten.« Er lachte laut über seinen Witz, endete jedoch mit einem Schmerzensausruf. Ein ungeschicktes Bewegen des kranken Beines hatte den Rheumatismus wieder aufgeweckt. Und er fügte schwermütig mürrisch hinzu: »Lachen darf man also auch nicht mehr! Na, nur zu, nur zu; bin ja den Ärger jetzt schon gewöhnt. Brauchst übrigens nicht so im Zimmer herumzulaufen, das macht mich nervös. Nimm die Zeitung, setz dich her und lies mir daraus vor. Aber keine Räuber- und Mordgeschichten mehr, davon hab ich genug.«

Martha gehorchte und tat alles, was den Vater nur irgend interessieren konnte. Nach der Zeitungslektüre kam anderes an die Reihe. Mitunter wurde sie durch eine Meldung oder Anfrage von der Fabrik her unterbrochen, und so ging der Tag hin. Erst am Abend, als Helbig nach einem Trunk schweren Weines in seinem Lehnstuhl in einen sanften Schlummer verfallen war, konnte Martha sich ihren Gedanken hingeben. Sie trat in ihrem Salon an das Fenster und schaute träumend nach einem einsamen Licht hinüber, das aus dem Werkmeisterhaus bei der Fabrik durch die Baumzweige zu ihr herüber leuchtete. Sie wusste, dort stand ein Mann am Fenster und wartete, die Minuten zählend wie sie selbst, bis die Stunde kam, die das Wiedersehen für sie brachte.

Der Kommerzienrat pflegte zeitig schlafen zu gehen, und er tat es auch an diesem Abend. Um zehn Uhr konnte Martha das Haus verlassen und in den stillen, kühlen Herbstabend hinaustreten. Der Mond war eben im Aufgehen, und eine silberne, wachsende Helle, die vom bergumwehrten Himmel in das Tal hinabströmte, ließ die Masse der Bäume dunkler, die Schatten tiefer und geheimnisvoller scheinen. Die gefallenen Blätter dufteten stark, das Rauschen des Flusses hinter dem Park mit seiner gleichmäßigen, vollen Melodie kam in der Stille der Nacht laut aus der Schlucht herauf.

Martha hatte beim Fortgehen gezaudert und einen Augenblick überlegt, ob sie die hintere Tür zur Brücke hin benutzen sollte, doch wusste sie, dass die Gittertüren an der Treppe dort schon verschlossen waren. Sie hielt es daher für einfacher, vom Hauptportal des Hauses durch den Garten und außen um diesen herum zur Eschenallee zu gehen, wo Burkhardt sie treffen sollte. Sie wunderte sich, ihn dort noch nicht zu finden. War seine Sehnsucht geringer gewesen als die ihre? Sie fragte sich es, indem sie sich fest eingehüllt in ihrem dunklen Abendmantel auf eine der Bänke setzte, die dort im Schatten der Eschenbäume standen. In ihrem ungeduldigen Warten hatte sie kaum einen Blick für die stille, nächtliche Schönheit um sie her, für das wechselnde Spiel von Licht und Schatten, für die zierlichen, vom ersten Frost herab gestreiften Eschenblätter am Boden, die gleich kleinen, vielfingerigen, vom Licht des Mondes versilberten Händen dort lagen. Unruhig sah sie nach links und rechts im Tal hinauf und hinab. Es war mit einer weichen, leicht verschleierten Flut von Licht angefüllt, in der alle Gegenstände deutlich sichtbar waren, zugleich aber ihre körperliche Festigkeit und Schwere verloren.

Am häufigsten blickte Martha zu der Seite hin, wo die Fabrik lag, weil sie Burkhardt von dort erwartete. Dann aber wandte sie sich auch einmal wieder nach links, wo die Brücke hinter ihres Vaters Villa durch die Ferne verkleinert, im hellen Mondlicht gleich einem silbergeschmiedeten Geistersteg über der Schlucht schwebte. Plötzlich fuhr Martha zusammen. Kam der Erwartete von jener Seite? Rasch war eine dunkle Gestalt von den Bergen her über die Brücke hinübergeglitten und im tiefen Schatten, der hinter dem Haus lagerte, verschwunden. Es war viel zu weit entfernt, um die Nachterscheinung in dem kurzen Augenblick eiligen Vorübergleitens erkennen zu können, aber Marthas Gedanken waren zu sehr mit Burkhardt beschäftigt, um irgendeinen anderen Menschen in der mondhellen Einsamkeit zu vermuten. Freilich fuhr ihr die Frage durch den Sinn, wie Max den Schlüssel zu den verschlossenen Gittertüren der Brückentreppe sich verschafft haben könne, doch grübelte sie nicht weiter darüber nach, sondern sprang auf und ging im tiefen Schatten der Baumkronen hastig zu jener Seite.

Sie war aber kaum zwei Minuten weit in der Allee dahingegangen, als unerwartet aus der Dunkelheit hervor eine Männerstimme sie anrief. Schrecken und Freude zugleich machten ihr die Knie beben. Denn es war die Stimme Burkhardts, die zu ihr sprach. Und als ob seine Gestalt aus einem der schwarzen Baumstämme sich losgelöst hätte, so stand er plötzlich neben ihr. Ein Mondstrahl fiel durch eine Lücke der Zweige hell auf sein Gesicht und ließ es in geisterhafter Blässe, wie getrennt vom Körper, der in der undurchleuchteten Finsternis blieb, in der Luft schweben.

»Sie, Max … und hier?«

»Auf der Bank hier habe ich gewartet … seit einer halben Stunde schon. Ich dachte, Sie kämen durch die Hintertür Ihres Hauses.«

Er hatte mit einer Hand nach der Seite gedeutet, wo schattenhaft unter den Bäumen eine Bank in der Dunkelheit stand.

Martha fragte: »Hier haben Sie gesessen? Sind Sie nicht eben über die Brücke dort gegangen?«

»Über die Brücke? Nein. Die Türen sind ja verschlossen.«

»Und Sie haben auch nichts gesehen? Keine Gestalt auf der Brücke dort?«

»Ich habe nichts gesehen.«

»Und auch nichts gehört?«

»Keinen Ton.«

»Sonderbar!«

Sie schwieg einen Augenblick. Es war ihr bei dem Gedanken an die dunkle, vorüber gleitende, nur ihr allein sichtbar gewordene Gestalt seltsam unheimlich zumute. Aber das warme Gefühl von Burkhardts Nähe ließ rasch das leise Grausen verschwinden.

»Vielleicht war es gar eine Vision von mir«, sagte sie mit einem leichten Lachen in der Stimme. »Wir wollen darüber nicht mehr sprechen. Es gibt andere und wichtigere Dinge, die wir zu bereden haben.«

»Sie wollten mir Nachricht bringen …«, begann Burkhardt, brach aber mitten im Satz ab.

»Darüber, was Vater wegen des Briefes gesagt hat, ja.«

»Was ist es?«

»Erst müssen Sie mir etwas versprechen, Max …«

»Und was?«

»Ruhig zu bleiben, was ich Ihnen auch zu sagen habe.«

»Wenn ich es kann.«

»Sie können es, müssen es können, mir zuliebe.«

»Versuchen will ich es. Also, was hat er gesagt?«

»Es ist, wie wir vermuteten. Der Brief ist niemals in meines Vaters Hände gelangt.«

»Unterschlagen also. Der Schuft!«

»Ich bitte Sie, bleiben Sie ruhig.«

»Ruhig bleiben, wenn ich höre, dass ein Schurke mich um das Glück meines Lebens gebracht hat? Jawohl, das hat er! Seit gestern weiß ich es. Ich hätte glücklich werden können. Glücklich, wie noch niemals ein Mensch auf der Welt. Er hat mich bestohlen um dieses Glück. Sie hätten mich lieben können, ich habe das gestern gefühlt. Ich habe die ganze Nacht hindurch schlaflos gelegen und jedes Ihrer Worte durstig hundertmal wieder getrunken. Und ich hätte laut jubeln können und schreien vor Schmerz im selben Augenblick.«

»Um Gottes willen, beruhigen Sie sich Max! Es ist ja doch nur Vermutung, ist nicht erwiesen, dass er es getan hat.«

»Er hat es getan. Mir ist es erwiesen. Und er soll es mir büßen, der Bube!«

»Max, wenn Sie mich lieb haben, ein wenig lieb haben, bezwingen und beherrschen Sie sich. Nicht um dieses Menschen willen bitte ich Sie. Mein Zorn gegen ihn ist so groß wie der Ihre. Nein, um Ihretwillen allein bin ich in Angst und Sorge. Wenn er Ihnen ein Leid zufügte, Sie wissen, er ist selbstsüchtig und brutal, wenn er Sie mir nähme, nachdem ich Sie gerade wiedergefunden habe.«

»Er ist brutal, aber feige. Nur durch Unterschlagung und Lüge hat er sich für den Schlag gerächt, den ich ihm versetzt habe. Damals habe ich von Stunde zu Stunde darauf gewartet, dass er mir seine Zeugen schicken sollte. Sie sind nicht gekommen. Er hat sich dahinter versteckt, ich wäre als ein Werkmeistersohn nicht satisfaktionsfähig. Man hat mir’s erzählt.«

»Und Sie selbst kenne ich, Max, kenne Sie von Jugend auf. Sie sind heftig und jähzornig. Sie könnten sich zu rascher, übereilter Tat hinreißen lassen. Ich bitte Sie, beschwöre Sie, zerstören Sie nicht ein Glück, das hinter diesen jetzigen Kämpfen und Sorgen für uns beide schlummern kann. Sie haben vorhin gesagt, Sie glaubten seit gestern, ich hätte Sie lieben können. Viel zu wenig haben Sie damit gesagt. Ich habe Sie seit meiner Kindheit geliebt, seit ich überhaupt ein Gefühl in meinem Herzen trage. Habe Sie geliebt in Sehnsucht, Schmerz und Verzweiflung, als keine Botschaft von Ihnen aus der Ferne kam. Und ich liebe Sie heute mehr als jemals, weil ich Sie verloren geglaubt und wiedergefunden habe!«

»Martha … Martha …«

»Ja, Max, ich liebe dich. Lass es mich dir wenigstens dieses eine Mal sagen. Ich habe dich niemals vergessen. Mein Herz, meine Gedanken, meine Seele haben dir gehört und gehören dir noch. Ich kenne kein Glück, als durch dich. Aber darum versprich mir auch, dass du das Glück dieses Gefühls nicht in wildem Jähzorn zerstören willst.«

»Alles, alles, Martha, du machst mit mir, was du willst. Wenn ich höre, dass du mich liebst, ich muss doch versuchen, solch einer Liebe würdig zu sein, und wenn du mich bittest, ich verspreche dir, was du von mir verlangst.«

»Und ich danke dir dafür, Max.« Mit einem raschen Schritt trat sie ganz nahe zu Burkhardt heran, umschlang ihn mit ihren Armen und küsste ihn. Von seinen Lippen kam ein wilder Jubellaut. Er fasste sie fest und fester, küsste sie wieder und wieder mit seinen glühenden Lippen, stammelte halb gebrochene Worte der höchsten Wonne. Sie trank seine Küsse, gab sie hundertfach zurück, flüsterte seinen geliebten Namen immer aufs Neue.

Endlich aber löste sie sich mit sanfter Bewegung von dem sinnlos Glücklichen »Wir müssen gehen«, sagte sie leise.

»Nein, bleib. Warum denn gehen? Du sagst, ja doch, dass du mich liebst.«

»Ich will dir sagen, warum. Nicht meines Mannes wegen, er ist mir ein Fremder. Aber vor meinem Jungen will ich nicht erröten müssen.«

»Ich kann dich nicht mehr lassen, ich habe deine Küsse jetzt getrunken. Du musst mein werden, Martha.«

»Wir wollen darum kämpfen, unsere Liebe wird uns Kraft geben. Aber wenn es geschieht, will ich zu dir als ehrbare Frau kommen.«

Mit einem Stöhnen ließ er die Arme sinken. »Ich gehorche dir. Ich tue, was du willst. Aber wir müssen darum kämpfen. Ohne dich kann ich nicht leben.«

»Und ich nicht ohne dich.« Sie nahm seine linke Hand mit sanfter, weicher Bewegung in ihre beiden Hände, zog ihn so mit sich fort.

»Komm, begleite mich noch bis an die Straße«, sagte sie leise.

Verstummend in übermächtigem Glücksgefühl gingen sie still nebeneinander durch den tiefen Schatten der Bäume, durch deren Blätter silberne Lichtperlen auf die beiden herabrieselten.

Wo der Garten mit seiner Ecke die Straße traf, nahmen sie voneinander Abschied. Sie küssten sich nicht mehr, denn das Mondlicht war um sie her gleich einer weißen Flut. Aber sie sahen einander lange stumm in die Augen, die wie die Sterne hoch oben leuchteten.

»Gute Nacht, Martha.«

»Gute Nacht, und vergiss nicht, was du mir versprochen hast.«