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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Freibeuter – Rettung aus Todesgefahr

Der-Freibeuter-Zweiter-TeilDer Freibeuter
Zweiter Teil
Kapitel 8

Der Engländer lag in einem Zustand, der fast der Bewusstlosigkeit gleichkam. Seine Glieder waren kalt und starr, kaum fühlte er noch den leisen Pulsschlag seines Herzens. Doch seine Seele zuckte, von Angst getrieben, ohne dass sie sich selbst hätte klar bewusst werden können. Endlich vernahm er Geräusch und sah beim dürftigen Schneeschein, wie die ihm gegenüberstehende Wand zurückwich. Einen Augenblick darauf vernahm er den Schall zweier Schläge, mit den Mordäxten auf die Schädel der beiden Leichen fast zu gleicher Zeit geführt, und dieser Ton schnitt ihm so durch die Seele, dass ihn die Besinnungskraft verließ. Als er wieder zu sich kam, mochte wohl über eine Stunde verflossen sein, und er hörte einige Stimmen. Ein matter Lichtstrahl von einer trüben Laterne blitzte ihm weither ins Auge.

»Die Kerle sind schon eiskalt, die haben’s kurz gemacht«, sagte eine raue Männerstimme.

»Ich will die beiden Burschen auf mich nehmen«, versetzte eine andere. »Geh, Iwer, nimm du den da drüben. Vor Gestorbenen entsetz’ ich mich, weißt du.«

Damit wurden die beiden Leichen aus dem Bett gezogen.

»Das Geld wird Frau Trude schon selbst suchen«, sprach der Erste lachend. »Darauf versteht sie sich herrlich. Sie hat eine Nase wie ein Spürhund.«

Palmerston wurde von einer starken Faust bei der Brust ergriffen und auf den Rücken des Mannes geworfen. Durch die zurückgeschobene Wand ging es nur ein paar Schritte weiter, und sie waren in der Fleischkammer, wie die Mörder den Ort nannten, wo die Leichen bis zum Entkleiden und Verscharren aufbewahrt wurden. Palmerston wurde abgeworfen, die beiden Leichen kamen über ihn zu liegen. Die Träger verließen nach einigen rohen Scherzen den schauerlichen Ort wieder, wo der Scheintote mit einem Blick noch mehr Leichen gesehen hatte. Ein widriger Totengeruch wehte ihn an, die Schauer des Grabes rieselten durch seine Gebeine. Die eiskalten Glieder der Toten an ihm verursachten ihm einen Schmerz, der fast dem glich, als ob er mit einem glühenden Eisen gebrannt würde. Da lag der Unglückselige, der durch Gesetz und Recht zu einem hohen Los bestimmt gewesen war, unter einem Haufen gemordeter Männer, allein ein Lebender, von menschlicher Hilfe verlassen, krank und elend, an seinem trüben Geschick verzweifelnd und ohne Hoffnung. Das bleiche Licht der Mondssichel, welche unterdessen aufgegangen war und mit kalter Teilnahmslosigkeit durch die Fensterlücke in die Kammer sah, zeigte ihm die Stätte des Grauens, in welche ihn verruchte Hände geschleudert hatten. Und schon fing etwas wie Wahnsinn in seinem Gehirn sich zu regen an. Er griff um sich und stieß die Leichen mit Verwünschungen von sich. Nicht mehr imstande, an Vorsicht zu denken, würde er verloren gewesen sein, wenn nicht die ewige Vorsicht seiner gedacht hätte.

In diesem Augenblick erhob sich vom Hof her ein klägliches Jammergeschrei. Der Hund schlug stark an, dann war er still und winselte zuweilen. Das Geschrei dauerte aber fort. Gleich darauf hörte Palmerston Stimmen im Haus. Man rief auf den Hof hinaus.

»Was ist das? Wer jammert und wehklagt so?«

»Der Barbier! Der Barbier, der gestern Abend gekommen war«, lautete die klägliche Antwort.

Kaum hatten die Mörder die ersten Worte vernommen, als einer rief: »Hab’ ich’s nicht gesagt? Es ist ein Werwolf oder ein Spukgeist! Der Flaxmann galt als ein Zauberer und schwarzer Magier. Der macht den Spuk.« Kaum hatte Palmerston diese Worte vernommen, als er aufsprang, die Leichen in der Kammer polternd übereinander warf und ausrief: »Ja, ja er ist der Zauberer! Er ist von den Toten auferstanden und kommt, um euch die Hälse umzudrehen!«

»Flieht!«, rief der Sprecher – der Spion – in wildem Entsetzen.

Hals über Kopf, einer über den anderen, purzelte die ganze Schar der Tür zu. Wer nicht zur Tür hinaus konnte, sprang zum Fenster hinaus. Eine Minute darauf war das Haus leer, und Palmerston ging frei und ungehindert durch den Hausflur zu der offenen Tür hinaus. Er sah die geängstete Rotte fliehen und wählte den entgegengesetzten Weg. In der Aufregung seiner Lebensgeister und allein mit dem Gedanken an seine Rettung beschäftigt, allein von dem Wunsch beseelt, nur jetzt nicht zu sterben, dachte er über jenem Jammergeschrei, dem er doch eigentlich seine Rettung verdankte, nicht weiter nach, sondern eilte nur so schnell er konnte, von der Stätte des Schreckens. Die frühere Schwäche war von ihm gewichen, die Eiseskälte aus seinen Gliedern verschwunden. Nichts hinderte ihn an der Eile, mit welcher er seinen neuen Lauf begonnen hatte. Und so tastete er auf dem betretenen Weg fort. Als der Morgen dämmerte, sah er einen Ort vor sich liegen. Aber seine Kräfte wichen abermals. Der heftigsten Anspannung folgte nach den Gesetzen der Natur eine verhältnismäßig noch stärkere Abspannung. Noch ehe er den Ort erreichen konnte, sank er aller Kräfte bar und ledig zu Boden. Zwar versuchte er den Schnee zu lecken und sich dadurch wieder etwas zu beleben, aber die Sinne vergingen ihm, er konnte sich der betäubenden Mattigkeit nicht erwehren. Es kam über ihn wie ein süßer Schlummer. Eine leuchtende Engelsgestalt trat mit Christines freundlichen Zügen zu ihm und ließ aus dem Kelch der Lilie, die sie an langem grünem Stängel in der Hand hielt, einen Tropfen duftender Narden in seinen Mund träufeln.

»Es ist der Tod, der Genius des Friedens«, dachte der Unglückliche. »Sei willkommen!«

Das Geschrei im hinteren Hof kam wirklich von dem Kammerdiener Ankarfield. Dieser furchtsame Mann war, nachdem er glücklich im Hof angelangt war, lange Zeit still und in Zittern und Zagen in einem Winkel stehen geblieben und hatte sich aus Furcht, ein Geräusch zu machen und sich zu verraten, nicht getraut, sich zu regen, geschweige denn einen Weg zur Flucht zu suchen. Als die Mörder ihr Bubenstück zu verüben meinten, stand er noch immer in seinem Winkel. Erst als es wieder ruhig geworden war, versuchte er eine Tür zu öffnen. Aber das leiseste Knarren derselben jagte ihm Todesschrecken ein, er stand davon ab und blieb unschlüssig und mit der Marter der Todesangst auf seiner Stelle. Hier hörte er einen Teil des Gesprächs der Mörder, aber auch dies vermochte ihn nicht fortzubringen. Er war wie gebannt.

Als endlich der aufgehende Mond den Hof beleuchtete, entdeckten seine umherirrenden Augen ein kleines Häuschen. Er vermutete, es mochte ein Brunnen sein und täuschte sich nicht. Es war der mit zwei Eimern versehene Ziehbrunnen, von denen der eine an langer Kette unten im Wasser hing. Ankarfield glaubte sich in diesem Brunnen am sichersten verbergen zu können, und er hatte den Gedanken kaum gedacht, als er auch schon begann, mit den Fußspitzen in die Lücken der Mauer zu treten. Mit der einen Hand die Kette, mit der anderen sich an der Mauer haltend, stieg er, von Todesangst getrieben, einige Fuß tief. Da er sich aber allein auf das Gefühl seiner Fußspitzen verlassen musste, so war er nicht sicher, in den Brunnen zu stürzen. Er klammerte sich also nur umso fester an die Kette an. Als er einige Minuten gestanden hatte, wurde es ihm notwendig, seinen Stand zu ändern. Er fühlte mit dem einen Fuß und konnte keine Spalte in der Mauer finden. Da glitt er auch mit dem anderen Fuß aus und rutschte, die Kette im größten Schrecken mit beiden Händen fassend, einige Spannen lang hinab. Nun hing er in dieser verzweiflungsvollen Situation zwischen Himmel und Erde. Die Mauer des Brunnens vermochten seine zitternden Füße kaum mehr zu erreichen, aber so oft er auch daran kam, so wich die Kette zurück. Es war ihm sonach unmöglich, mit der Fußspitze wieder eine Lücke in der Mauer zu entdecken und zu benutzen. Er glaubte den sicheren Tod vor Augen zu haben. Er konnte ja nicht wissen, wie tief der Brunnen war. Schwarz und entsetzlich gähnte ihn sein hohler Schlund von unten herauf an. Es war ihm nicht anders, als zerrte ihn jemand bei den Beinen hinab. In seinem armen Kopf schwindelte es, die Kräfte drohten ihn zu verlassen. Die Kette in seinen krampfhaft zusammengespannten Händen brannte ihn, als ob sie glühend werde. Nun, nun war der Augenblick gekommen, wo die Krone seines Lebens zu schwanken begann. Die Liebe zum Leben verdrängte die Liebe zur Ehre. Er philosophierte kurz so: »Ersäufst du in dem abscheulichen Brunnen, so erhält König Karl das Geld doch nicht, und du giltst bei aller Ehrlichkeit nach deinem Tod doch für einen Schurken. Besser du lebst und gibst das Geld den Mördern. Von der Barmherzigkeit des Brunnens ist nichts zu hoffen, wohl aber noch von der der Menschen. Wenn die Blutzapfer das viele Geld sehen, schenken sie dir wahrscheinlich dein armes Leben.« Und somit fing er denn an, aus vollem Hals so kläglich wie möglich zu schreien und zu winseln. Aber sein dumpf klingendes Geschrei hatte eine ganz andere Wirkung, als er beabsichtigte. Als nun niemand kam, versuchte der Arme mit der letzten Anstrengung seiner Kräfte, sich selbst zu helfen. Im Augenblick der höchsten Gefahr entwickelte er eine riesige Stärke. Und so zog er die Last seines eigenen Leibes mit seinen Händen an der Kette empor und gelangte bis zur Walze, an welcher die Eimer liefen. Noch ein Ruck und er stand wieder im Hof. Die überstandene Angst hatte die frühere vor den Mördern verdrängt. Er schlich an die Hoftür und horchte. Nichts regte sich. Das Haus war wie ausgestorben. Nun wagte er sich in den Hausflur. Alle Glieder schlugen ihm, die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er getraute sich nicht zu atmen. Er hörte nichts. Der Mondschein zeigte ihm die offene Haustür. Er schlich leise wie die Nacht durch den Hausflur und huschte hinaus. Nun stürzte er wie ein vom Jäger verfolgtes Wild davon. Einen anderen Weg als Palmerston einschlagend, gelangte er am anderen Tag an das Ufer des Kattegat. Hier gewann er einen armen Fischer, der ihn in einem Boot an die schwedische Küste übersetzte.