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Der Marone – Ein unerwarteter Gönner

Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 36

Ein unerwarteter Gönner

So hatte eine Kette von eigentümlichen und unberechenbaren Zufällen Herbert Vaughan in die Judenkoppel des Jacob Jessuron und damit zugleich zu einem höchst unerwarteten Schluss seiner Missgeschicke geführt.

Der Gefangene war der Gast des Richters geworden, nachdem er von ihm eigens dazu verurteilt worden war, mit ihm zu Mittag zu essen. Auch fand jener die Strafe keineswegs hart, wie sein Wirt geäußert hatte. Im Gegenteil, der junge Engländer befand sich vor einer viel besser besetzten Tafel, als er vielleicht bisher je gewesen hatte, einer Tafel, die fast eben so reich war, als die, welche er in Willkommenberg gefunden haben würde, wäre es ihm gestattet gewesen, dort zu speisen.

Ein gutes Mittagsessen war übrigens keine Seltenheit auf dem Speisetische des Jacob Jessuron. Obwohl dieser westindische Israelit geldgierig und geizig war und auch sein Äußeres vernachlässigte, so war er doch keineswegs einem guten, ja selbst üppigen Leben abhold und liebte deshalb, vielleicht mit weniger Schaustellung, gut zu essen und zu trinken, ganz wie der Besitzer von Willkommenberg.

Auch verschmähte er in seinem Haus den Schmuck durchaus nicht gänzlich. Seine Einrichtung war sauber und bequem, seine Dienerschaft zahlreich und wohl gekleidet, in den letzten Jahren noch mehr als früher, im Verhältnis, wie er an Reichtum und gesellschaftlicher Stellung höher gestiegen war.

Deshalb aß Herbert vortrefflich zu Mittag und war über die unerwartete, ihm von Jessuron erwiesene Gastfreundschaft nicht wenig erfreut, um so mehr, wenn er sie mit dem knickerigen Betragen seines eigenen Onkels verglich.

Er sah es dabei für sicher an, dass es nur seines Onkels Namen sei, dem er die ihm erzeigten Ehren zu verdanken habe – lediglich nachbarliche Rücksichten des Koppelhalters für den großen Zuckerpflanzer.

Sie sind Freunde, dachte Herbert, und diese Güte für mich ist die Folge ihrer Freundschaft.

Diese Erwägung war ihm keineswegs angenehm.

Er fühlte sich in einer zweideutigen, unbequemen Lage, denn er genoss eine Gastfreundschaft, die ihm selbst eigentlich nicht zugedacht war, sondern die ihm nur eines Mannes wegen erwiesen wurde, der ihn beleidigt hatte und den er, obwohl er sein naher Verwandter war, nun doch als seinen Feind betrachten musste.

Wäre dieser Gedanke schon früher bei ihm aufgestiegen, er würde wahrhaftig jede Einladung zum Mittagsessen sofort abgelehnt haben, selbst auf die Gefahr hin, anzustoßen. Aber die Einladung war ihm so unerwartet gekommen, dass er gar nicht an die eigentümliche Lage gedacht hatte, in die er sich durch deren Annahme in Bezug auf seinen Onkel versetzen würde.

Jetzt wurde dieser Gedanke lebendig in ihm und beunruhigte ihn sehr. Sein Onkel würde unzweifelhaft davon hören und ihn dann beschuldigen können, Vorteil aus seinem Namen gezogen zu haben. Diese Vorstellung erweckte bei Herbert ein höchst unangenehmes und peinliches Gefühl.

Vielleicht würde er sich auch hierüber nicht gerade so sehr gequält haben, hätte außer seinem Onkel nicht noch jemand anderes etwas von seiner jetzigen falschen Lage erfahren. Aber dies musste notwendigerweise eintreten. Sein kurzer und unruhiger Besuch auf Willkommenberg hatte Herbert Vaughan dort mit einem Wesen bekannt gemacht, dessen Erinnerung auf lange Zeit einen mächtigen Einfluss auf alle seine Gedanken ausüben sollte, selbst wenn auch eben so frische Lippen und vielleicht ebenso strahlende Augen ihm jetzt freundlich entgegen lächelten.

Ein zartes Erinnern an seine Cousine Käthchen beherrschte ihn noch vollständig, ihre sanfte, süße Stimme klang noch in seinem Ohr und die milde Glut ihrer jungfräulichen Holdseligkeit erfüllte sein Herz. Dies drängte ihn, den früheren heldenmütigen Charakter ungeschmälert zu bewahren, wäre es auch nur, um nicht in ihrer Achtung zu sinken.

Von solchen Erwägungen geleitet, beschloss er, die Maske, welche ihm die Umstände für den Augenblick verliehen hatten, abzulegen und das wahre Verhältnis, in welchem er zu seinem stolzen Verwandten stand, auseinanderzusetzen.

Aber erst nach dem Schluss des Mittagsessens, nachdem die Tochter seines Wirtes sich freundlich von der Mittagstafel entfernt hatte, vermochte der junge Engländer sich auszusprechen. Dann freilich, vielleicht auch ein wenig von dem genossenen Wein erregt, legte er ein vollständiges Geständnis des unangenehmen, zwischen ihm und dem Herrn von Willkommenberg bestehenden Verhältnisses ab. War es etwa der ihm höchst freigebig dargebotene Wein, der ihn verhinderte, das Missvergnügen, welches diese Mitteilung bei seinem Zuhörer hervorbringen musste, zu bemerken? Herbert vermochte kein solches zu entdecken.

Hätte aber der junge Mann auch wirklich genau und richtig beobachtet, er hätte immer nur eine ganz entgegengesetzte Wirkung wahrnehmen müssen. Hinter der grünen Brille hätte er alsdann bei der ihm gemachten Enthüllung die tiefdunklen jüdischen Augen von einer höllischen Freude erglühen sehen können.

Obwohl Herbert so etwas nun keineswegs bemerkte, so musste er sich doch selbst sagen, dass sein Geständnis ihm in den Augen seines Gastgebers nicht gerade großen Schaden getan habe. Jacob Jessuron war durchaus nicht weniger höflich als zuvor, sondern nur noch verschwenderischer mit den Beweisen seiner Gastfreundschaft. In der Tat, bevor noch eine weitere Stunde verfloss, sollte der heimatlose Abenteurer erkennen, dass er in seinem Wirt, in demselben Richter, der noch kurz zuvor die Untersuchung gegen ihn wegen eines schweren Vergehens geführt hatte, nur einen mitfühlenden Freund gefunden habe, auf alle Fälle mindestens einen Gönner und Beschützer.

Der junge Engländer musste hiervon durch die nachfolgende Unterhaltung und die daraus hervorgehenden Folgen überzeugt werden.

»Das tut mir wirklich sehr leid, junger Herr Vaughan«, sagte der Jude, nachdem Herbert seine Eröffnungen beendet hatte, »außerordentlich leid, muss ich sagen, zu hören, dass Sie und Ihr Onkel sich nicht gut miteinander stehen. Aber wir müssen das Beste hoffen, und da ich die Ehre habe, einer von Herrn Vaughans Freunden zu sein, so mag es mir vielleicht möglich werden, Ihren kleinen Streit beizulegen. Wollen Sie nicht nach Willkommenberg zurückkehren?«

»Niemals! Nach dem, was vorgefallen ist, niemals!«

»Aber Sie müssen nicht zu rachsüchtig sein. Herr Vaughan ist ein stolzer Mann, und ich muss selbst sagen, er hat schlecht, sehr schlecht gehandelt; aber er ist doch immer Ihr Onkel.«

»Er hat nicht als ein solcher gehandelt.«

»Das ist wahr, sehr wahr. Der feine Herr, von dem Sie gesprochen haben, das ist kein Grund, warum Herr Vaughan seinen eigenen Neffen so lumpig behandelt. Je, es tut mir wirklich leid, außerordentlich leid. Aber, Herr Herbert«, fuhr der Jude mit augenscheinlichem Interesse fort, seinen Gast zu befragen, »was beabsichtigen Sie nun zu tun? Ich hoffe, Sie haben genug Geld?«

»Leider habe ich gar nichts, Herr Jessuron, nicht das Geringste.«

»Gar kein Geld?«

»Nicht einen Heller«, bestätigte Herbert mit sorglosem Lächeln.

»Das ist schlimm. Wo wollen Sie denn hingehen, da Sie sagen, Sie wollen nicht nach Willkommenberg hingehen?«

»Ja«, sagte Herbert, der sein spaßhaftes Aussehen bemerkte, »ich wollte nach dem Hafen zurückkehren, als Ihr würdiger Aufseher und sein Freund mich auffischten. Glücklicherweise, möchte ich wohl sagen, denn ohne ihre Dazwischenkunft wäre ich heute gewiss ganz ohne Mittagsessen geblieben, jedenfalls aber hätte ich nicht so prächtig gespeist.«

»Ein lumpiges Essen, Herr Vaughan, ein jämmerliches Mittagessen, verglichen mit dem, was Ihr Onkel Ihnen hätte vorsetzen können. Ich bin nur ein armer niedriger Mann gegen den Custos, aber was ich habe, ist jeder Zeit in Ihren Diensten.«

»Danke!«, sagte Herbert, »ich weiß wirklich gar nicht, wie ich Ihnen jemals Ihre Gastfreundlichkeit vergelten soll. Auch darf ich Sie nicht länger in Anspruch nehmen, denn ich sehe es deutlich an der Sonne, es ist Zeit, dass ich zur Bay aufbreche.«

Als Herbert so gesprochen hatte, wollte er ausstehen, um Abschied zu nehmen.

»Halt, halt!«, rief sein Wirt und drückte ihn wieder in seinen Stuhl zurück. »Nicht heute Nacht, Herr Vaughan, nicht diese Nacht. Freilich kann ich Ihnen kein so schönes Bett, wie Sie vielleicht zu Willkommenberg haben möchten, versprechen, aber ein besseres hoffe ich Ihnen doch geben zu können, wie dieses, worauf Sie in der letzten Nacht geschlafen haben, ha, ha, ha! Sie müssen diese Nacht durchaus bei uns bleiben und Judith macht uns etwas Musik. Sagen Sie nur kein Wort, ich nehme gar keinen Abschlag an.«

Das Anerbieten war verlockend und nach einigem weiteren Drängen willigte Herbert ein. Teilweise wurde er hierzu wohl durch die trübselige Aussicht auf eine armselige Wohnung in der Bay bewogen, teilweise vielleicht auch ein wenig durch das Verlangen, die versprochene Musik zu hören.

Die Unterhaltung ward dadurch fortgeführt, dass sein Wirt einige weitere Fragen stellte. In welcher Art Herbert sich in der Bay zu beschäftigen denke? Welche Aussicht er zu einer Anstellung habe, und in welchem Fach?

»Ich fürchte fast, in keinem einzigen Fach«, erwiderte der junge Mann, beide Fragen zugleich in einem Ton sarkastischer Verzweiflung beantwortend.

»Haben Sie nicht irgendeinen Beruf oder ein Gewerbe?«

»Leider nicht«, versetzte Herbert. »Wohl war meines Vaters Absicht, ich solle etwas ergreifen, aber er starb, bevor meine Erziehung noch vollendet war, und auf der hohen Schule hat man mich, wie dies nur zu oft der Fall ist, wenig mehr als einige tote Sprachen gelehrt.«

»Nichts Nützliches? Gar nichts Nützliches?«, wiederholte der erfahrene Israelit.

»Ich kann eine Landschaft zeichnen«, fuhr der junge Mann bescheiden fort, »oder ein erträgliches Porträt malen. Mein Vater selbst lehrte mich diese Fertigkeiten«

»Ah, Herr Vaughan! Beides ist von gar keinem Nutzen hier auf Jamaika. Wenn Sie ein Haus ausmalen oder einen Wagen anpinseln könnten, das würde Ihnen mehr Geld einbringen, als wenn Sie jedes Gesicht auf der ganzen Insel malen. Was sagen Sie aber zu einer Stelle als Buchhalter?«

»Unglücklicherweise weiß ich von Rechnungen gar nichts. Die höchst nützliche Kenntnis des Buchführens, sowohl des einfachen, als auch des doppelten, hat man mir leider nicht gelehrt.«

»Ha, ha, ha!«, erwiderte Jessuron mit ermunterndem Gelächter. »Sie sind wahrhaftig, was wir auf Jamaika ›grün‹ nennen, Herr Vaughan. Sie müssen wissen, dass ein Buchhalter hier keine Bücher zu halten hat, weder Tagebücher noch Hauptbücher. Der setzt nicht einmal eine Feder auf das Papier!«

»Wie ist das, Herr Jessuron? Ich habe schon so etwas gehört, konnte aber nicht begreifen, was damit gemeint sei.«

»Dann muss ich Ihnen dies erklären, Herr Vaughan. Hier ist ein Gesetz, das zwingt alle Sklavenbesitzer, auf je fünfzig Schwarze einen weißen Mann auf ihrem Gut zu halten. Ein sehr dummes Gesetz ist es, aber es ist Gesetz. Diese weißen Überzähligen werden Buchhalter genannt, obgleich, wie ich Ihnen gesagt habe, sie gar keine Bücher führen. Verstehen Sie nun die Bedeutung?«

»Was für Geschäfte haben sie dann zu tun?«

»Oh, das hängt alles von Umständen ab. Einige sehen nach den Sklaven, einige tun dies und andere das. Nun hören Sie wohl, Herr Vaughan! Ich habe selbst einen Buchhalter nötig. Ich habe just einen Haufen Schwarzer gekauft und ich darf das Gesetz nicht übertreten. Ich gebe gewöhnlich meinen Buchhaltern fünfzig Pfund jährlich, aber wenn Sie solch eine Stellung annehmen wollten, so würde ich das Gehalt, in Rücksicht auf Ihren Onkel, auf hundert Pfund jährlich erhöhen. Was sagen Sie dazu, Herr Vaughan?«

Der gänzlich unerwartete Vorschlag machte den jungen Engländer zögernd und nachdenkend. Freilich nicht lange. Seine verlassene, hilf- und heimatlose Lage stellte sich seinem Geist zu offensichtlich dringend dar, um ihn lange in Zweifel zu lassen, welche Antwort er geben solle.

Hundert Pfund jährlich war sicherlich mehr, wie er sonst irgendwo bekommen konnte, weit mehr, als er erwartet hatte. Und dafür schienen keine sehr schwierigen Pflichten zu übernehmen zu sein. Freilich wusste er gar nichts von dem Mann, der ihn anstellen wollte. Auch hatte er ganz wohl sein jüdisches und etwas abschreckendes Gesicht bemerkt, doch nach der bereits erfahrenen freundlichen Behandlung des Mannes konnte er nichts Übles von ihm erwarten.

Was kam es übrigens darauf an, wer sein Herr war, ob ein Jude oder ein Christ? Er war ja durchaus nicht in der Lage, es so genau damit zu nehmen, wessen Brot er esse.

Diese Gründe und Erwägungen drängten sich mit größter Schnelligkeit seinem Geist auf und trieben ihn zur Annahme des ihm von seinem Wirt gemachten Vorschlages.

Noch eine andere Erwägung trieb ihn ebenfalls, und obwohl sie so höchst unbestimmt und schwankend war, dass er sich selbst ihrer wohl kaum ganz bewusst wurde, so war diese doch ein triftigerer Grund seines Bleibens, als alles andere, denn dieser allein würde ihn zu einer bejahenden Antwort bestimmt haben.

Nach einigen weiteren Hin- und Herreden über die gestellten Bedingungen, die Herbert für nur zu günstig hielt, nahm er die ihm angebotene Stellung an, und von diesem Augenblick an wurde das »glückliche Tal« seine neue Heimat.