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Stille

Stille

Die Stille ist ein Raum der Erkenntnis. Wenn du hineingehst, wird dir die Einsicht nicht erspart bleiben zu erfahren, wer du bist. Und es wird dir die Einsicht nicht vorenthalten werden, wer du sein könntest.

Keine Bewegung, kein Geräusch. Lautlosigkeit, Abwesenheit, Bewegungslosigkeit, Leere. Tod? Nichts? Und doch ist da etwas. Etwas, was im Verborgenen lauert, auf den Impuls wartend, emporschnellen zu können. An die Oberfläche aufzusteigen, unsere Sinne zu kitzeln,  anzuregen, zu strapazieren. Aus einem Mangel an Reizen und Wahrnehmungen entfaltet sich ein Sturm von Gefühlen und Spannungen, der uns etwas erahnen lässt. Stille bedeutet nichts Langweiliges, sondern auch etwas Verheißungsvolles. Was geschieht um uns herum, wenn es ruhig ist? Solche und andere Fragen in Bezug auf das Thema Stille greifen 30 Autoren in der im Verlag Torsten Low publizierten Kurzgeschichtensammlung anlässlich der Storyolympiade 2013/2014 auf.

Das Buch

Martin Witzgall, Felic Woitkowski (Hrsg.)
Stille
Die besten Geschichten der Storyolympiade 2013/2014
Kurzgeschichtensammlung, Taschenbuch, Verlag Torsten Low, Meitingen/Erlingen, Oktober 2014, 330 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 9783940036285, Umschlaggestaltung: Chris Schlicht
Kurzinhalt:
In unserer Welt aus täglichem Krach und nächtlichem Lärm wird Stille zu einer Macht, die Welten sprengt, die Zauber wirkt und Sinne schärft. Sie herrscht bereits, wo noch nichts ist, und wartet dort auf das Ende aller Dinge.
Die 29 Siegergeschichten der Storyolympiade 2013/2014 erkunden Orte, in die Geräusche keinen Einzug erhalten. Still sind sie dabei aber gewiss nicht.

Die Storys

  • Günter Wirtz – Namu (1. Platz)
  • Daniel Schlegel – Verbindungsabbruch (2. Platz)
  • Vanessa Kaiser & Thomas Lohwasser – Der Gesang der Engel (3. Platz)
  • Christian  J. Meier – Orthan entdeckt die Stille
  • Corinna Schattauer – Die Ruhe vor dem Sturm
  • Joachim Tabaczek – Ohne Worte
  • Arndt Waßmann – Tage der Stille, Tage des Klangs
  • Sebastian Illigens – Das lautlose Lied
  • Michael Edelbrock – Von Äpfeln und Feen
  • Thomas Heidemann – Helfen Sie der Vigilanz!
  • Victor Boden – Lärm
  • Marc Suter – Allein
  • Günther Kienle – Die schwebenden Mönche
  • Frank Tischmann – Ihr Schweigen
  • Die Stille und das Licht
  • Ute Walenski
  • Marco Ansing – Die Stimme aus der Stille
  • S.A. Benz – Erinnerungen an meinen Körper
  • Markus Cremer – Archibald Leach und der Angriff der Stille
  • Dahlia von Dohlenburg – Der Ruf der Stille
  • Manfred Voita – Ausgehorcht
  • Sibylle Biedermann – Ich bin immer da
  • Kristina Kesselring – In der Spinne
  • Tina Stäbler – Todesstille
  • Raphael Dagen – Die Gabe der Vorhersehung
  • Susann Obando Amendt – Der Wassermann vom schwarzen Weiher
  • Claudia Heyder – Stillleben
  • Markus Unger – Die Maschine
  • Regine Schineis – Der Preis der Stille
  • Martina Schiller-Rau – Die Schaukel

Leseprobe aus Das lautlose Lied von Sebastian Illigens

»Sie sind …?«

Dort hängen sie in der Luft, diese drei Punkte, die dem vielversprechend angefangenen Satz ein unrühmliches vorzeitiges Ende bereiten. Ich habe mich an sie gewöhnt, sie sind mir zu treuen Gefährten geworden. Jene Menschen, die mich beauftragen, schließen ihre Sätze stets auf diese Weise. Es ist ihre Art, mich auf Distanz zu halten. Ich bin ihre letzte Hoffnung, doch gleichzeitig wollen sie mich verachten und für einen Scharlatan halten, denn die Alternative wäre zu absurd, zu beängstigend, um sie ernsthaft zu Ende zu denken – oder gar auszusprechen.

Andere könnten es für eine Beleidigung halten, aber ich genieße dieses Schweigen. Immerhin ist es mein Beruf, die Stille zu bewahren, wer wäre ich also, wenn ich sie nicht zu schätzen wüsste?

Wie so oft finde ich mich auch diesmal auf der Türschwelle eines uralten Gemäuers wieder, das von Spinnenplagen heimgesucht wird und mit seinen weitläufigen, vernetzten Korridoren selbst einem Spinnennetz ähnelt. Jene Art von Anwesen, das der unbedarfte Käufer so lange für ein Schnäppchen hält, bis er einzieht und feststellt, dass es sich bei dem erhofften Märchenschloss allenfalls um eine Burgruine handelt und dringend der Renovierung bedarf. Ich schultere meine Tasche und trete ein.

Gemusterte Teppiche, über die meine Schritte hinweg gleiten, kaschieren gekonnt den verlotterten Fußboden. An den Wänden hängen dieselben Gemälde wie vor hundert Jahren und zeigen blühende Landschaften, die sich in Wirklichkeit vermutlich längst in Hochhäuser und Autobahnen verwandelt haben, während das Haus selbst in der Zeit stehen geblieben ist. Manchmal schwingen noch heimelige Kronleuchter von der Decke, die freilich ihre Wachskerzen im Laufe der Zeit verloren haben wie eine Eiche ihr Herbstlaub, sodass stattdessen Energiesparlampen erblühen. Unauslöschlich klebt der Geschmack von Staub in der trockenen Zimmerluft. Gebäude wie dieses sind gemacht für die würdevolle Ruhe eines langen Winterschlafs, das gesetzte Schweigen menschenleerer Bibliotheken, in denen nicht einmal das leise Rascheln vergilbter Buchseiten zu hören ist.

Doch jene Häuser, die ich besuche, sind nie still. Deshalb bin ich hier.

»Wissen Sie, Sie wirken gar nicht wie …« Die Dame des Hauses ist selbst ein Relikt eines anderen Zeitalters, gehüllt in Lagen aus Runzeln, Erinnerungen und schwarzem Stoff. Ihr kritischer Blick streift mich wie Flutlicht und sucht nach all den Details, die offensichtlich fehlen: tiefschwarze Kleidung, Pentagramme, Kruzifix, die erhabene Aura einer gesegneten Seele, irgendetwas. Ich habe es schon lange aufgegeben, diese Erwartungen erfüllen zu wollen. Wir leben in der Ära Hollywood – heutzutage wollen die Menschen nicht nur von dem Bösen erlöst werden, sie wollen dabei auch noch gut unterhalten werden.

»Jonathan, mein Mann, er war ja dagegen, Sie anzurufen«, fährt die Frau fort, ohne sich von meinem Schweigen verunsichern zu lassen. »Er glaubt nicht an … nun ja, Dinge, wissen Sie. Redet immer von natürlichen Erklärungen. Kakerlaken. Ratten, was weiß ich. Wir haben schon den Kammerjäger gerufen, aber der hat selbstverständlich nichts gefunden. Natürliche Erklärungen! Er hat gut reden, verstehen Sie. Mein Mann, meine ich. Ist ja den ganzen Tag auf Arbeit, ständig auf Geschäftsreise, fliegt in der Welt herum, und ich …«

Ich messe ihrer auf- und abschwellenden Stimme keine Bedeutung zu. Stattdessen lausche ich einer ganz anderen, lausche dem, was das Haus mir erzählt. Ich habe meine Schuhe nicht ausgezogen, und jeder mit Bedacht gesetzte Schritt bringt die Holzdielen wohlig zum Erzittern. Irgendwo tief unter unseren Füßen rumort eine Zentralheizung, doch mein Blick ist nach oben gerichtet, folgt dem blank polierten Geländer einer breitstufigen Treppe aufwärts in den ersten Stock. Ein leises Kratzen ist dort zu hören, als würde sich eine Katze ausgelassen an einer Schranktür zu schaffen machen. Dann und wann ertönt ein Heulen, nicht auffällig oder gar schaurig; nein, es scheint bloß der Herbstwind zu sein, der ein offenes Fenster gesucht und gefunden hat. Argwöhnisch schaue ich aus dem Fenster in den Vorgarten, den ein schlanker Ahornbaum ziert, der sein Laub noch nicht abgeworfen hat. Nicht eines seiner Blätter zittert. Vermutlich würde die Dame des Hauses mir, wenn ich sie fragte, hoch und heilig versichern, dass sich keine Katze im Haus befindet.

Also greife ich nach dem Tragegurt meiner Tasche und lenke meine Schritte in Richtung der Treppe. Ihr Ächzen unter meinem Gewicht scheint mir nicht als Kompliment gemeint zu sein, aber für Eitelkeiten ist jetzt nicht die rechte Zeit. Bedächtig streiche ich mit den Fingern über das Geländer, erahne die alten Geschichten, die sich in dieses Holz eingegraben haben, reich an Schätzen wie an Schrecken. Heute werde ich diese Balance ein wenig verschieben, denn das ist meine Aufgabe.

»Kann ich mit rauf?«, ruft die Dame des Hauses mir hinterher und ist so frei, mein Schweigen schon vorab in ihrem Sinne zu interpretieren.

»Sie haben es wohl gemerkt«, keucht sie, als wir oben ankommen. »Die Geräusche, nicht wahr? Ist ja auch schwer zu überhören. Den ganzen Tag geht das so. Meistens so wie jetzt, irgendwie im Hintergrund, aber manchmal, da haben wir das reinste Trommelkonzert hier oben, und ich trau mich dann nicht mehr hier hoch, verstehen Sie? Sogar unser Zimmermädchen hat gekündigt. Ungeziefer? Ungeziefer? Das können Sie wem anders erzählen, das sag ich Ihnen aber. Ich weiß ja, was ich gehört hab. Bin ja nicht verrückt oder so. Auch wenn mein Mann da vielleicht anderer Meinung ist, aber der ist schließlich in Stockholm, also hat er hier gar nichts zu melden. Sagen Sie, was suchen Sie denn eigentlich?«

Natürlich kann sie nicht orten, von woher die Geräusche nun genau kommen. Das Stockwerk, sicher. Aber den Raum? Es sind immerhin keine Geräusche im eigentlichen Sinne, mit einer klar erkennbaren Quelle, die Schallwellen in alle Richtungen sendet. Nein, das Heulen und Kratzen, Klopfen und Knarren wogt durch die in beigefarbene Tapete gehüllten Flure wie plötzlich aufkommender Nebel, ist an allen Orten zugleich, überall in der gleichen Lautstärke. Das menschliche Gehör ist alles andere als ein perfekt ausgefeilter Mechanismus; es lässt sich leicht und gerne in die Irre führen. Es bräuchte ein Gehör mit einer übermenschlichen Leistungsfähigkeit, um die Quelle auszumachen.

Ein stummes, dennoch unprofessionelles Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, als ich stehen bleibe und der Dame des Hauses bedeute, den Mund zu halten. Dann schließe ich die Augen, reguliere meine Atmung, sacht und gleichmäßig. Aus Gewohnheit wird mein Puls langsamer. Auch meine Umgebung scheint sich zu verlangsamen. Erst unterschwellig, dann immer deutlicher nehme ich das leise Knarren in den Holzwänden wahr, wo Bretter aneinander reiben, das Knistern trockener Zimmerpflanzen. Irgendwo summt eine Fliege. Jedes Geräusch berührt für einen Sekundenbruchteil meine Aufmerksamkeit, wird von meinem Verstand eingefangen, von allen Seiten be- gutachtet und wieder in die Freiheit entlassen. Wie tausend Stürme fliegen sie um mich herum. Leiseste Nuancen werden von meinen hypersensiblen Ohren verarbeitet, durch das Mittelohr zur Gehörschnecke weitergeleitet, die sie in Nervensignale umwandelt und in Richtung Gehirn weiterschickt.

Dann fliegen meine Augenlider auf, die Spannung kehrt in meinen Körper zurück. Ich laufe zum Ende des Ganges, achte nicht auf die Dame, die mir etwas hinterher ruft. Biege nach links ab, einen kürzeren Flur entlang, dort hinten, die Kammer zur rechten, ich reiße die Tür auf: ein unbenutztes Schlafzimmer, das Bett nicht bezogen, die Kommode verstaubt. Sofort erfüllt die Präsenz mein Bewusstsein. In der schalen Luft das Heulen, das Trippeln und Zupfen, das nervenzehrende Kratzen an unsichtbaren Wänden – es ist hier nicht wirklich lauter als anderswo, doch es fühlt sich dichter an.

»Ist es hier?«, keucht es hinter mir, als die Dame in den Raum stürzt.

Anstatt zu antworten, stelle ich meine Tasche ab, öffne den Reißverschluss und greife nach meiner Waffe, der einzigen, die ich benötige. Die schmale, hölzerne Flöte fühlt sich wie immer fremdartig in meinen Händen an, obwohl sich meine geübten Finger längst an sie gewöhnt haben. Ohne Hast führe ich das Mundstück an meine Lippen und blase hinein.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

(wb)