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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Geheimnis zweier Ozeane 20

Zweites Buch
Achtes Kapitel
Lordkipanidses Qualen

Die Wissenschaftler arbeiteten nun schon den vierten Tag auf der neuen Tiefseestation. Der Eifrigste von allen war Schelawin. Außer den üblichen Arbeiten zur Erforschung der physikalischen und chemischen Eigenschaften der unteren Wasserschichten, ihrer Temperatur, Dichte, chemischen Zusammensetzung und ihres Gas- und Salzgehaltes, befasste er sich noch mit einer Untersuchung, die er schon im Sargassomeer begonnen hatte und die er damals wegen der Bombardierung seines Forschungsgebietes hatte unterbrechen müssen. Diese Untersuchung betraf die Erforschung des Grundwassers unter dem Meeresboden, seiner Eigenschaften und Zusammensetzung; sie erforderte viel Mühe, Zeit und die Aufstellung von Spezialbohrmaschinen und -pumpen, die unter durchsichtigen und zugleich drucksicheren Hauben arbeiteten.

Eng verknüpft mit dieser Untersuchung war auch eine andere Aufgabe, die sich Schelawin gestellt hatte: die Erforschung der elektrischen Ströme, die in den Ablagerungsschichten des Meeresbodens entstehen und zum ersten Mal von sowjetischen Geologen in der Arktis entdeckt worden waren.

Schelawin ging ganz in seiner Arbeit auf. Nicht einmal Skworeschnjas und Matwejews tatkräftige Hilfe genügte ihm. Der Kapitän teilte ihm noch zwei Mann von der Schiffsbesatzung zu, und doch fand er kaum Zeit, sich die geringste Ruhepause zu gönnen.

Kaum hatte er gefrühstückt, trieb er schon seine Helfer zur Eile an, wurde bei der kleinsten Verzögerung ungeduldig und beruhigte sich erst wieder, wenn er das U-Boot verlassen hatte und sich seinen geliebten Maschinen und Geräten widmen konnte. Zum Mittagessen erschien er nur nach wiederholter Aufforderung, und jedes Mal brummte er dann etwas über die »empörende Störung der wissenschaftlichen Arbeit« in den Bart.

Der Zoologe hatte ebenfalls ein großes Arbeitsprogramm für diese Tiefseestation. Neben der üblichen Jagd nach unbekannten Tieren für seine Sammlungen wollte er sich hauptsächlich mit der Erforschung der Lebensgewohnheiten von Tiefseeorganismen befassen. Ihr Verhalten, die Art und Weise, wie sie ihre Beute jagten, ihre Nahrung, der Bau und die Anordnung ihrer Leuchtorgane – dies alles sollte genau erforscht werden. Schon lange vor Errichtung dieser Station hatte sich der Zoologe auf seine Arbeit gefreut und bereitete sich eifrig vor.

Alle erwarteten daher, dass er jetzt mit Eifer an die Arbeit gehen würde. Aber merkwürdigerweise war das Gegenteil der Fall. Mit dem Zoologen war eine seltsame Wandlung vor sich gegangen. Der ganzen Schiffsbesatzung fiel seine Apathie auf. Jedes Mal, wenn er das U-Boot verlassen sollte, schien er es nur widerstrebend zu tun, und saß später in Gedanken versunken lange vor dem ersten besten Einsiedlerkrebs.

Die Frage, was geschehen war, wollte ihm nicht aus dem Kopf. Alles schien doch so gut anzulaufen. Die Untersuchungen der toten Meerechsen hatten zu glänzenden Ergebnissen geführt. Diese Tiere waren offenbar Arten zugehörig, die einstmals, vor vielen Jahrmillionen, die Herren der vorzeitlichen Ozeane gewesen waren. Das Leben der Umwelt, die Natur, das Klima, Pflanzen und Tiere hatten sich geändert. Die Riesenechsen waren allmählich neuen, anpassungsfähigeren und höher entwickelten Tieren gewichen. Die Wissenschaft glaubte, sie seien vollständig verschwunden, und nur ihre riesigen Knochengerüste in den paläontologischen Museen rufen heute bei den Besuchern maßloses Erstaunen hervor. Und nun stellte es sich heraus, dass sich eine Saurierart in der Tiefe des Ozeans erhalten hatte. Diese urzeitlichen Tiere hatten sich der neuen Umwelt mehr und mehr angepasst, hielten den ungeheuren Wasserdruck aus, atmeten mit Kiemen und erzeugten Licht durch die phosphoreszierende Schleimhaut, die ihren Körper bedeckte. Allein schon diese Entdeckung konnte den Namen des Zoologen in der Geschichte der Wissenschaft verewigen. Und dann die neue Lammelibranchiata, die als Einzige ihrer Art einen Kopf hatte! Diese Molluske, die seinen Namen trug, würde eine Umwälzung in den Anschauungen über die Ana tomie der Weichtiere auslösen. Dann das Gold im Blute dieser Molluske. Solche Entdeckungen vermochten das Herz eines Wissenschaftlers mit Freude und Begeisterung zu erfüllen, mit Dankbarkeit auch für die Heimat, die ihm die einzigartige Möglichkeit gab, die bisher unzugänglichen Meerestiefen exakt zu erforschen.

Warum war er dennoch deprimiert? Warum verlor dies alles plötzlich seine Anziehungskraft?

Der Zoologe machte eine abwehrende Handbewegung, als scheuche er etwas Lästiges fort … Nein, nein! Das waren ja Zwangsvorstellungen! Dumm war das, lächerlich …

Er zuckte mit den Achseln.

Ganz richtig … er hätte es nicht machen sollen. Er war ein alter Schwätzer! Jawohl, ein Schwätzer! In diesem Augenblick verachtete er sich. Mit dem Fuß schleuderte er eine Holothurie fort, die friedlich Schlamm fraß und die er eigentlich beobachten wollte.

Zugegeben – er hatte einen Fehler gemacht. Das war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Aber was war schon so Schlimmes dabei? Man durfte nicht die Ruhe verlieren. Er hatte doch sein Geheimnis nicht dem ersten besten preisgegeben … Gorelow war ja nicht irgendwer, er war Ingenieur an Bord des U-Bootes! Der Verantwortliche für die Maschinen eines in der Welt einzigartigen Kriegsschiffes! – Das war doch keine Kleinigkeit! Natürlich war Gorelow ein zuverlässiger, oft überprüfter Offizier – zudem ein wortkarger, ungeselliger und verschlossener Mensch. Für ihn konnte man doch die Hand ins Feuer legen …

Was war es also? Woher kam nun diese Unzufriedenheit? Eine Lüge! Das war es!

Niemals zuvor hatte er so etwas getan. Die Lüge war seinem ganzen Wesen fremd. Sie war ihm zuwider. Und wen hatte er belogen? Seinen eigenen Kapitän, der die ganze Last der Verantwortung für das kostbare Schiff und für die Sicherheit der ihm anvertrauten Männer trägt. Sollte er ihm alles erzählen? Offenherzig gestehen? Unsinn! Wem würde das schon nützen?

Die Stunden vergingen. Nichts konnte den Zoologen von seinen düsteren Gedanken ablenken. Plötzlich fuhr er zusammen, wie aus einem bösen Traum erwachend, und begriff, dass ihn das U-Boot anrief.

»Arsen Dawidowitsch!«, hörte er die Stimme Leutnant Krawzows. »Warum melden Sie sich nicht! Alle sind schon in der Messe. Sogar Iwan Stepanowitsch ist da … Nur Sie fehlen! Beeilen Sie sich!«

Beim Mittagessen schwieg der Zoologe und starrte auf seinen Teller. Der Kapitän sprach wenig mit ihm. Nur ab und zu schaute er ihn voller Sorge mit seinen klaren blauen Augen an.

Nachmittags war es noch schlimmer … Man konnte denken, Zoi habe beschlossen, dem Zoologen den Rest zu geben! Beharrlich fragte er ihn über seine Gesundheit, seinen Appetit aus; dann ereiferte er sich des langen und breiten über seine Untersuchungen der Mollusken. Zois Hypothese der natürlichen Goldträchtigkeit des Weichtieres wurde immer mehr durch die exakte und mühselige Kleinarbeit im Laboratorium bestätigt. Es unterlag keinem Zweifel mehr – diese Molluske entzog dem Meerwasser das in ihm aufgelöste Gold und konzentrierte es in unwahrscheinlichen Mengen in seinem Blut. Zoi glaubte sogar, ein Organ gefunden zu haben, mit dessen Hilfe das Gold in den Geweben des Weichtieres angereichert wurde. Dieses Organ bestand vermutlich aus einer Anhäufung von Drüsen an den Rändern des Mantels, die irgendein Sekret von unbekannter Zusammensetzung ausschieden.

Zoi behauptete, diese Entdeckung könnte, falls sie sich wissenschaftlich beweisen ließe, eine große praktische Bedeutung erlangen. Man würde dann vielleicht Marats Projekt verwirklichen können. Marat hatte vorgeschlagen, die Mollusken in den sowjetischen Meeren zu akklimatisieren und zu züchten, ähnlich wie es die Japaner mit der Perlmuschel machen.

Das würden tatsächlich Goldfabriken sein. Zoi wollte darüber die Meinung des Professors hören.

Der Zoologe zwang sich, Zoi aufmerksam zuzuhören, sich zu freuen und Hinweise zur Fortführung der Untersuchungen zu geben. Er war froh, als Gorelow erschien und vorschlug, zu zweit eine Tiefsee-Exkursion zu unternehmen. Er, Gorelow, habe bis Mittag in den Düsenräumen zu tun gehabt, jetzt sei er aber frei und wolle dem Zoologen eine Stelle mit interessanten Seelilien zeigen. Ihm stünden nur drei Stunden zur Verfügung, und der Gelehrte müsse sich beeilen, falls er mitkommen wolle.

Man sah, dass Gorelow tatsächlich Eile hatte. Er schaute des Öfteren auf die Uhr, bemerkte beiläufig, bis zu den Seelilien sei es ziemlich weit und man brauche viel Zeit, um sie zu erreichen.

Der Zoologe war sofort einverstanden und bat den Ingenieur, die Passierscheine zu besorgen.

»Vielleicht können Sie das dieses Mal selbst erledigen, Arsen Dawidowitsch«, antwortete dieser etwas verlegen und strich sich mit der Handfläche über den kahlen Schädel. »Ich habe bei mir in der Kajüte noch einiges zu tun und erwarte Sie dann in der Druckkammer. Machen Sie das? Aber es muss schnell gehen!«

Er schaute wieder auf seine Uhr.

»Die Zeit ist knapp, ich werde mich ebenfalls beeilen!«, fügte er noch hinzu und stürzte aus dem Laboratorium.

Den Gang durchschritt er ohne Hast; aber in seiner Kajüte, hinter verschlossener Tür, begann er eine fieberhafte Tätigkeit. Er öffnete einige Fächer seines Schreibtisches, nahm Geld, Papiere und Briefe heraus und stopfte alles in die Taschen.

Dann schloss er den Schreibtisch, richtete sich auf und sah sich, wie zum letzten Mal, in der Kajüte um. Sein Blick streifte das Bildnis der jungen Frau, das an der Wand hing. In seinem Gesicht zuckte es; dann drehte er sich um und nahm das Bild vom Schreibtisch und verwahrte es sorgfältig in der Brusttasche. Ohne sich noch einmal umzuschauen, ging er aus der Kajüte, verschloss die Tür und begab sich zur Druckkammer.

Der Zoologe war noch nicht da. Gorelow warf einen Blick auf die Uhr und zuckte nervös mit den Achseln.

»Was für Sauerstoff ist im Taucheranzug?«, fragte er Matwejew hastig.

»Komprimierter, Genosse Maschineningenieur.« »Umfüllen!«, befahl Gorelow. »Mit flüssigem.«

»Sofort! Nach der Geschichte mit der Verschüttung verlangen jetzt die meisten flüssigen. Ist ja auch besser, wenn …«

»Klar!«, unterbrach ihn Gorelow scharf. »Und die Akkus? Kompletter Satz?«

»Jawohl!«

»Zeigen Sie mal … Was ist in der Thermosflasche?«

»Heißer Kakao.«

»Kann ich mal sehen? – Bis zum Rande füllen!«

Gorelow war mit seinen Vorbereitungen schon fast fertig. Er wollte gerade den Helm befestigen, als der Zoologe erschien. Mit einer müden Handbewegung zeigte dieser Matwejew zwei Passierscheine vor. Gorelow fieberte vor Ungeduld und bemerkte unwirsch: »Aber Arsen Dawidowitsch! Warum hat es denn so lange gedauert? Ich sagte Ihnen doch, unsere Zeit sei sehr knapp bemessen. Ich muss pünktlich wieder an Bord zurück sein!«

Kaum standen beide auf der Absprungplattform, als Gorelow kommandierte:

»Höchste Geschwindigkeit! Los!«

Nach dem Absprung klappte die Plattform zurück, das U-Boot setzte sich in Bewegung und nahm in immer schnellerer Fahrt Kurs nach Süd. Als Gorelow sich nach einer Minute umschaute, war die Pionier nicht mehr zu sehen.

Noch vor dieser Tiefseestation hatte der Kapitän der Schiffsbesatzung bekannt gegeben, dass das U-Boot dort nicht an einer Stelle stehen, sondern hin und her kreuzen würde. Wollte jemand, der von Bord gegangen war, zurückkehren, musste er erst mit dem Steuerraum Funkverbindung aufnehmen. Nach dem seltsamen Zwischenfall im Sargassomeer begriffen alle nur zu gut die Notwendigkeit dieser Vorsichtsmaßnahme. Sie wussten auch, dass zwei Infrarot-Aufklärer ständig das U-Boot begleiteten – einer an der Oberfläche, der andere in tieferen Wasserschichten.

In fast horizontaler Lage entfernten sich Gorelow und der Zoologe vom U-Boot. Beide schwiegen. Die Nacht der Tiefsee umhüllte sie wie ein dichter Schleier. Nur ab und zu überholten sie die wie leuchtende Nebelflecke aussehenden Tiefseebewohner. Gorelow gab die Richtung an, der Zoologe folgte ihm. So jagten sie fast eine Stunde dahin, immer nach Norden und ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Zuweilen blickte Gorelow auf die Uhr, schaute sich unruhig um oder spähte angespannt in die Ferne, als wolle er das violette Zwielicht am Ende des blauen Lichtstrahles seiner Stirnlaterne mit seinem Blick durchdringen. Gedankenverloren folgte der Zoologe dem Ingenieur, ohne seine Umgebung zu beachten. Nur einmal hob er den Kopf, schaute um sich und wollte seinen Begleiter etwas fragen, schwieg aber, wieder ganz von seinen düsteren Gedanken beherrscht.