Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der eiserne Turm

Der eiserne Turm

I

Pepas war vor kurzer Zeit dreißig Jahre alt geworden. Er lebte zusammen mit seiner Frau Moja, die gerade sein Kind erwartete, in einem kleinen Häuschen, das er sich mit harter Arbeit selber verdient hatte.

An diesem Abend stürmte und regnete es draußen, sodass Pepas früh zu Bett ging, was ihm gemütlicher erschien, als in der Wohnküche zu lesen, wie es Moja tat. Er lag kaum zehn Minuten unter seiner warmen Decke, als er schon einschlief.

Er träumte zu Anfang der Nacht etwas wirr. Später aber erschien ihm in seinem Traum eine schöne Frau mit langen, braunen Haaren, braunen Augen und einem wunderschönen, roten Mund. Sie sagte zu ihm, sie werde ihn jetzt küssen. Er aber werde von diesem Augenblick an jeden Tag um ein ganzes Jahr älter werden. Nur dann, wenn er sie suche und finde und von ihrem Leid erlöse, indem er ihr diesen Kuss zurückgebe, werde er wieder so jung werden, wie er es vor ihrem Kuss gewesen sei.

Nachdem die Schöne dies gesagt hatte, drückte sie ihm ihren Kuss auf den Mund, obwohl er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte.

»Was ist denn mit dir?«, fragte Moja. »Hast du schlecht geträumt?«

Er sah in ihr Gesicht, als er die Augen aufschlug. Sie hatte ihn offensichtlich gerade wachgeküsst.

»Du hast wie wild um dich geschlagen, als ich dich gerade geküsst habe!«

»Ach, es ist nichts!«, sagte Pepas. »Nur ein Traum. Nicht der Rede wert.«

Dann stand er auf, gab seiner Frau den Kuss zurück und kleidete sich an, um mit ihr gemeinsam zu frühstücken.

II

Pepas erzählte Moja nichts von seinem sonderbaren Traum. Als er jedoch drei Wochen später in den Spiegel sah, bemerkte er, dass er bereits ganz graue Haare bekommen hatte. Auch war seine Haltung nicht mehr so kerzengerade, wie vor seinem Traum, sondern sein Rücken war etwas krumm geworden. Er fühlte auch von Tag zu Tag mehr, dass ihn seine Kräfte verließen und dass ihn seine Glieder mehr und mehr schmerzten, auch wenn er sie nur wenig belastete.

»Die Schöne hat mich durch ihren Kuss tatsächlich verzaubert!«, dachte er bei sich. »Ich werde mit jedem Tag wahrhaftig um ein Jahr älter!«

Er ging zu Moja, der die Veränderung ihres Liebsten nicht entgangen war, die sich seine rasche Alterung aber ganz und gar nicht erklären konnte.

»Mir ist im Traum eine schöne Frau erschienen und hat mich verzaubert, sodass ich mit jedem Tag, der ins Land zieht, um ein ganzes Jahr altere«, sagte er zu ihr. »Wenn ich nicht in den nächsten Wochen sterben will, muss ich diese Frau finden und dazu bewegen, ihren Zauber zurückzunehmen.«

»Hoffentlich hast du Erfolg!«, sagte Moja und gab ihm zum Abschied einen Kuss. »Sonst wird unserem Kind der Vater genommen, kaum dass es einige Wochen auf der Welt ist!«

»Ich werde schon Glück haben!«, sagte Pepas mit hoffnungsvollem Tonfall, obwohl ihm selbst gar nicht so zumute war.

Dann holte er sein Pferd aus dem Stall und ritt hinaus ins Land.

III

Drei Wochen ritt Pepas durch das Land und fand die Schöne nicht. Er wurde dabei älter und älter und konnte sich am Ende kaum noch auf dem Rücken seines Pferdes halten. In nur wenigen Tagen wäre er so alt, dass er in jeder Minute mit seinem Tod rechnen müsste!

Während er diesen trüben Gedanken nachhing, traf er eine alte Frau, die am Wegesrand entlang wanderte und einen Korb mit Esswaren trug.

»Wohin des Weges, alter Mann?«, fragte die Alte, als sie Pepas kommen sah. »Und wie ist Euer Name?«

»Ich heiße Pepas, und ich suche eine junge Frau, die mich verzaubert hat. Ich muss die Schöne finden und küssen, um nicht mit jedem Tag noch ein Jahr älter zu werden und sehr bald zu sterben!«

»Könnt Ihr malen?«, fragte die Alte, deren Name Rana war.

»Ein wenig,« entgegnete dieser. »Im Zeichnen von Gesichtern bin ich recht geübt. Man kann erkennen, wen ich darstellen wollte.«

»Dann kommt mit mir zum eisernen Turm, zwei Stunden von hier!«, sagte Rana. »Es geht die Sage, dass man dort denjenigen malen muss, den man sucht. Tut man dies, so wird einem dort geholfen!«

Pepas stieg von seinem Pferd herab, nahm es am Zügel und folgte Rana, die voranging, um ihm den Weg zu zeigen. Wie sie gesagt hatte, erreichten sie zwei Stunden später einen Turm, der allein in der Landschaft stand und ganz aus Eisen gebaut war. Die Tür war offen. Pepas band sein Pferd an einem Pflock fest, den er in seiner Satteltasche gehabt und in den Boden gerammt hatte, und folgte dann der Alten durch die Tür die Treppe hinauf zum Turmzimmerchen, dessen Fenster er von unten hatte sehen können.

IV

»Da sind wir!«, sagte Rana, nachdem sie das Turmzimmer betreten hatten.

Pepas sah sich um. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Tisch. An der einen Seite des Tisches befand sich ein Sofa, an der anderen Seite ein riesiger Sessel. Über dem Sessel an der Wand hing das Bildnis einer ihm fremden Frau in einem vergoldeten Rahmen.

Pepas setzte sich auf das Sofa, während Rana im Kamin in der Ecke das Feuer entzündete, denn es war kalt in dem Zimmerchen. Anschließend nahm die alte Frau im Sessel Platz und nötigte Pepas, nun die Schöne zu zeichnen, die ihn verzaubert hatte. Pepas zog ein Blatt Papier und einen Stift aus der Jacke, Utensilien, die er immer bei sich trug. Dann malte er aus dem Gedächtnis das Gesicht der Schönen aus seinem Traum auf das Papier. Kaum aber hatte er seine Zeichnung beendet, da verschwand diese vom Papier. Als er erstaunt aufschaute, sah er, dass sich seine Zeichnung nun im vergoldeten Rahmen über dem Sessel befand, genau an der Stelle, wo sich zuvor das Bildnis der Unbekannten befunden hatte.

Er betrachtete vom Sofa aus seine Zeichnung und schaute der Schönen, die er gemalt hatte, in die Augen. Diese aber zogen ihn auf der Stelle in ihren Bann, und er konnte seinen Blick nicht mehr von ihnen wenden, wurde schläfrig und schlief schließlich ein.

Als Pepas einige Zeit später wieder aufwachte, beugte Rana sich gerade über ihn. Sie sagte, er sei plötzlich eingeschlafen und habe während seines Schlafes mehrmals den Namen »Bertoni« gemurmelt.

Pepas richtete sich auf. Als aber sein Blick auf das Bildnis an der Wand über dem Sessel fiel, war an der Stelle seiner Zeichnung, die nun völlig verschwunden war, das Bildnis der ihm unbekannten Frau zu sehen, das zuerst dort gehangen hatte.

»Die Bertonis sind eine reiche Familie, die ein Schloss nicht weit von hier im Osten bewohnt«, sagte Rana. »Einst hielt ein Zauberer um die Hand der jüngsten Tochter der Familie an. Diese aber wies ihn ab. Da verwandelte er sie in einen Säugling zurück, der sie bis heute geblieben ist. Es geht die Sage, wenn sie dereinst ein alter Mann aus Farfala küsst, wird sie wieder zu der jungen Frau werden, die sie gewesen ist und dann ein normales Leben führen.«

Pepas war wie elektrisiert. Die Schöne aus seinem Traum hatte gesagt, er müsse ihr den Kuss zurückgeben, den sie ihm gegeben habe! Und außerdem war er nun ein alter Mann und kam aus der Region Farfala! Er musste sofort das Schloss der Bertonis aufsuchen!

Er dankte Rana für ihre Hilfe und verließ den eisernen Turm. Draußen bestieg er sein Pferd und ritt eilig ostwärts davon.

V

»Was begehrt Ihr?«, fragte Vater Bertoni, als er Pepas das Tor seines Schlosses geöffnet hatte und ihn zum Salon geleitete.

Pepas gab Mutter Bertoni die Hand, die die beiden dort erwartete. Dann sagte er: »Eure Tochter ist mir im Traum erschienen und hat mich geküsst. Sie verlangte, dass ich sie aufsuchte und ihr diesen Kuss zurückgäbe. Damit würde ich sie von ihrem Leid erlösen und selber wieder zu dem jungen Mann werden, der ich noch vor sechs Wochen gewesen bin.«

»Seid Ihr aus Farfala?«, fragte Mutter Bertoni.

»Ja!«, erwiderte Pepas.

»Dann ist alles so, wie es uns überliefert wurde. Ihr seid der, der unsere Tochter erlösen kann!«

»Ich weiß nicht, ob das alles so richtig ist!«, sagte Vater Bertoni.

»Papperlapapp!«, sagte seine Frau und winkte Pepas. »Kommt mit mir zum Zimmer unserer Tochter Agla!«

Sie führte Pepas die Treppe hinauf zu einem hellen Zimmer, in welchem eine Wiege stand. Darin lag ein Säugling und lächelte Pepas an. Mutter Bertoni hob das Kind auf und hielt es ihm entgegen. Pepas zögerte nicht und küsste Agla auf den Mund.

Im selben Moment stand die erwachsene, junge Agla im Zimmer und fiel ihrer Mutter um den Hals. Pepas aber bemerkte sofort, dass es sich bei der jungen Frau um die Schöne aus seinem Traum handelte. Die Bertonis bedankten sich bei ihm, und Vater Bertoni schenkte ihm tausend Dukaten, eine in der damaligen Zeit nicht unerhebliche Summe. Agla aber versicherte ihm, er werde nun mit jedem Tag um ein Jahr jünger werden, bis er wieder dreißig Jahre alt sei. Dann verabschiedete sich Pepas herzlich von den Bertonis, um zu seiner Frau Moja zurückzukehren.

Als er wieder zu Hause ankam, war er schon merklich jünger geworden, und just an dem Tag, an welchem Moja ihr Kind bekam, war er wieder so alt, wie zuvor.

Er und seine kleine Familie führten fortan dank der tausend Dukaten von Vater Bertoni ein sorgenfreies Leben, und sie wurden alle glücklich und erreichten ein hohes Alter.

(hb)