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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Geheimnis zweier Ozeane 09

Im Tangdschungel

Die riesige Schildkröte hatte komische, schwarze Glotzaugen, die wie große Glasperlen aussahen. Erschrocken bewegte sie ihren Kopf auf dem langen Hals hin und her; sie tauchte zum Meeresboden, schoss wieder empor und versuchte, mit ihren Flossenfüßen verzweifelt rudernd, zu entkommen.

Pawlik jagte hinter ihr her, griff nach ihr, überholte sie und schien dann auf ihrem buckligen, harten Rücken, der aus ovalen dunklen Hornplatten bestand, zu reiten.

Blaugestreifte Lotsenfische, bunte Lippfische und Seepapageien flohen nach allen Seiten; plumpe Stachelgroppen stiegen auf und ließen sich wieder auf den Meeresboden fallen; blitzschnell durcheilten prächtige goldflimmernde Doraden das Wasser. Einige große blassbraune Seeaale suchten das Weite. Ein erschreckter Igelfisch arbeitete sich unbeholfen zur Oberfläche empor. Hier schnappte er mit seinem schnabelförmigen Maul nach Luft, blies sich zu einer stachelstarrenden Kugel auf und ließ sich in Rückenlage auf dem Meere treiben.

Schließlich packte Pawlik die Schildkröte am Schwanz und zog sie hinter sich her zu einem in der Nähe aufragenden Tangdickicht. Voller Angst sperrte die Schildkröte ihr glänzendbraunes horniges Maul auf und ruderte wild mit den Flossenfüßen. Doch alles war vergebens, denn mit der ganzen Kraft seines winzigen, aber fünfzig PS starken Elektromotors zog Pawlik sie in das Dickicht hinein.

Sein plötzliches Eindringen verursachte unter den Bewohnern des Meeresdschungels einen panischen Schrecken. Myriaden von Garnelen, kleinen Krebsen, Würmern, Seespinnen und Krabben stoben nach allen Seiten auseinander. Große und kleine Fische verschwanden blitzschnell im Tanggewirr. Aber Pawlik hatte kaum Zeit, dies alles zu sehen.

Er hatte gar nicht bedacht, welche Gefahr diese brüchigen und schlüpfrigen, zu neunzig Prozent aus Wasser bestehenden Pflanzen bedeuteten, wenn sie in Massen wuchsen. Bald waren der Körper und die Flossenfüße der Schildkröte von Stängeln und Blättern umwunden; sie konnte sich kaum mehr bewegen. Aber Pawlik ging es auch nicht besser. Obgleich er seine Arme und Beine noch frei hatte, war die Schraube seines Taucheranzuges im Tang verfahren, und Pawlik befand sich in der gleichen hilflosen Lage wie die Schildkröte. Er ließ seine Beute los und versuchte vergebens, die Schraube freizubekommen.

So ein Pech, dachte er voller Unruhe. Allein komme hier nicht heraus. Ich muss um Hilfe bitten.

Und er sagte laut: »Arsen Dawidowitsch!«

»Was willst du, Jungchen? Wo bist du?«, hörte er die kannte Stimme antworten.

»Mir ist etwas Unangenehmes passiert. Ich bin zwischen Tang geraten, und meine Schraube hat sich darin verhaspelt.«

»Und du kommst nicht vom Fleck?«

»Nein, und die Schildkröte auch nicht.«

»Was für eine Schildkröte?«

»Eine große – ich habe sie gefangen und wollte sie zu Ihnen schleppen.«

»Bist du verrückt geworden, Kleiner?« Der Zoologe lachte. »Wie wolltest du sie denn herbringen?«

»Am Schwanz …«

Pawlik hörte, wie der Zoologe, Skworeschnja und Zoi in ein lautes Gelächter ausbrachen.

»Wo steckst du denn?«, fragte der Zoologe schließlich.

»Im Tangdickicht … Gleich hinter den Felsen … in nordöstlicher Richtung von Ihnen.«

»Klar«, sagte Skworeschnja, »Ist es dort tief?«

»Achtundsiebzig Meter«, antwortete Pawlik mit einem Blick auf den Tiefenmesser.

»Gut, Jungchen. Rühr dich nicht vom Fleck. Gleich bin ich bei dir. Wenn ich mich melde, dann gib ein Peilzeichen.«

»Gut, Arsen Dawidowitsch.«

Pawlik war verlegen. Seine Freunde hatten zu tun, und er störte sie. Nur seine Ungeschicklichkeit war daran schuld.

Weshalb musste er sich auch durch das Dickicht hindurchzwängen.

Pawlik betrachtete neugierig die Tange. Sie umgaben ihn von allen Seiten; hochwüchsig, reglos und wie zu einem Gefängnisgitter ineinander verflochten. Ihre braunen, orangefarbenen und Gold schimmernden runden Schäfte hatten lange, gezahnte oder großlappige Blätter. Andere Schäfte trugen kleine Blätter und verzweigten sich zu zahllosen Rispen. Aber sie alle waren mit großen und kleinen Luftblasen übersät, die wie Kirschen an dünnen Stängeln saßen. An Tangschäften und -blättern sah Pawlik weiße, moosähnliche Flecke. Er wusste bereits, dass es nicht Moose, sondern die Kolonien seltsamer Lebewesen – winziger Moostierchen – waren, die wie ein feines Spitzengewebe aussahen.

Pawlik konnte sich nicht sattsehen an ihrer unaufdringlichen Schönheit. Sie erinnerten ihn an ein altes chinesisches Elfenbeinkästchen von kunstvoller, durchbrochener Arbeit, das er vor längerer Zeit seinem Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Bei dieser Erinnerung durchfuhr ihn ein Schreck. Heute, am 26. Mai, war ja der Geburtstag seines Vaters! Pawlik hatte früher diesen Tag mit großer Ungeduld erwartet. Welch schöner Tag das immer war! Und jetzt hatte er ihn fast vergessen!

Der 26. Mai – der Gedanke an seinen Vater machte ihn traurig. Aber dann musste er an etwas anderes denken. Der 26. Mai … irgendwie spielte doch dieses Datum auch noch aus einem ganz anderen Grund eine Rolle. Der 26. Mai … plötzlich zeigte sich vor ihm auf einem großen flachen Tangblatt etwas Grauweißes, Winziges, streckte Beinchen und Fühler hervor und bewegte kleine Scheren. Noch einen Augenblick, und eine olivenbraune kleine Krabbe, mit einem weißen Pünktchen auf dem Rückenschild, lief schnell über das Blatt; sie wich geschickt zierlichen Korallentierchen aus, die sich in einer kleinen Kolonie auf dem Blatt angesiedelt hatten. Am Blattrand streckte gerade ein kleines Würmchen seinen Körper aus einer gewundenen Muschel. Bevor es sich wieder verbergen konnte, packte die Krabbe es mit der Schere, zog es ganz aus der Muschel heraus und steckte es in ihre Mundöffnung.

Das durch Pawlik und seine Schildkröte aufgeschreckte Meeresgetier verließ nun seine Verstecke und belebte bald wieder das Tangdickicht.

Entzückt beobachtete der Knabe das ungewöhnliche Schauspiel um sich herum. Die weißen Flecke begannen sich zu bewegen; mal saßen sie auf dem Rücken einer dunkelgrünen Garnele oder einer olivenfarbenen Krabbe, dann wieder entpuppten sie sich als Kranz hellgrauer Fühler auf einer kleinen Gold schimmernden oder orangefarbenen Seeanemone.

»Die sind aber schlau«, sagte Pawlik staunend. »Wie sie sich verstellen.«

»Wer ist schlau, Jungchen?« hörte er plötzlich die Stimme des Zoologen. »Und wer verstellt sich?«

Pawlik, in seine Beobachtungen versunken, dass er alles um sich herum vergessen hatte, antwortete nun sofort:

»Hier leben eine Menge Tiere auf den Wasserpflanzen, und alle sehen sie wie Moostierchen aus. Ich konnte sie zuerst gar nicht unterscheiden.«

»Ach so … das nennt man Mimikry: die Anpassung in Form und Farbe an andere Tiere und an ihre Umgebung. Es ist eine Schutzeinrichtung. So schützen sich die Tiere vor ihren Feinden.«

Überall sah Pawlik jetzt seltsame Lebewesen, die er zuerst gar nicht bemerkt hatte. Sie waren nicht sehr groß – fünfzehn bis zwanzig Zentimeter lang – und hielten sich im Wasser in vertikaler Lage. Ihre Köpfe sahen Pferdeköpfen verblüffend ähnlich, nur dass ihr Maul zu einem Röhrchen geformt war. Auf dem Röhrchen ragten zwei lange knorpelartige Auswüchse nach oben. Am Hals sträubte sich eine schüttere Mähne. Der stark zusammengedrückte Rumpf endete in einem spiralförmigen Greifschwanz, verziert mit Höckern und buschigen Fäden. Gleich hinter dem Hals stand, wie ein ausgebreiteter Fächer, die Rückenflosse. Die Färbung dieser merkwürdigen Tiere war ein blasses Aschbraun, das ins Blaue und Grünliche schimmerte.

Wie Schachspringer mit Schwänzen, dachte Pawlik.

Es waren Seepferdchen, lustig anzuschauende Geschöpfe. In ganzen Schwärmen durcheilten sie den Tangwald, ihren Pferdekopf stolz erhoben und den Schwanz wie eine winzige Schiffsschraube bewegend.

Pawlik beobachtete mit verhaltenem Atem diese komischen Tierchen. Plötzlich hing vor ihm unbeweglich ein Seepferdchen mit einem dicken Bäuchlein. Es glotzte, die kleine Mähne gesträubt, auf Pawlik. Die Haut auf der unteren Bauchhälfte des Seepferdchens bewegte sich kaum merklich und öffnete sich zu einem Spalt, aus dem ein kleines, spitzes Schnäuzchen lugte. Gleich darauf sprang ein winziges Seepferdchen heraus, dem großen ähnlich, aber so komisch anzuschauen, dass Pawlik laut auflachte. Dem ersten Miniaturpferdchen folgten einige Dutzend andere. Sie umkreisten in anmutigen Bewegungen ihr schwimmendes Haus und flitzten plötzlich wie auf Kommando in die rettende Bauchtasche, deren Eigentümer blitzartig verschwand.

Pawlik sah nicht gleich, was diese lustige Familie so erschreckt hatte. Dann aber bemerkte er zwischen den sich leise bewegenden getüpfelten Tangblättern ein Augenpaar unter bogigen Wülsten, böse und schreckerregend. Pawlik sah dicke, fleischige Lippen und dazwischen geklemmt einen dünnen Tangzweig. Jetzt zeigte sich der ganze Kopf des unheimlichen Meeresbewohners – einem Bisonkopf ähnlich, mit zottigen Hörnern und lappigem Bart. Es schien, als sei der Fisch nur aus wehenden Zotten und Lappen zusammengeflickt, die bei ihm Flossen und Schwanz ersetzten und auf und unter dem Kopf, auf Wangen und Kiemendeckeln herumschlotterten. Zahllose große und kleine weiße Flecke waren auf dem ganzen Körper dieses ungewöhnlichen Fisches verstreut. Aber gerade diese lappigen Auswüchse und weißen Flecke machten ihn im Dickicht der getüpfelten, wehenden Tange fast unsichtbar.

Also auch eine Schutzeinrichtung, dachte Pawlik.

Reglos starrte der Fisch ein paar Augenblicke auf den Eindringling und schwamm dann, anscheinend beruhigt, auf einen dicken Tangschaft zu. Er stieß mit dem Maul gegen einen faustgroßen Höcker. Nur bei aufmerksamem Hinschauen konnte Pawlik feststellen, dass dieser Höcker ein richtiges Nest war und dass der seltsame Fisch den mitgebrachten Tangzweig daran befestigte. Der Zweig, vom Speichel des Fisches benetzt, haftete fest an der Nestwand.

»Jungchen!« Die Stimme des Zoologen klang laut und ungeduldig. »Fange an zu peilen! Richtung: Südsüdost; Tiefe: 80 bis 85 Meter; Frequenz: 20 000 Hertz; Stromleistung: 80 Watt.«

Pawlik nahm vom Gürtel die flache Ultraschallpistole und stellte nach dem Kompass die Richtung und nach dem Tiefenmesser die Tiefe fest. Dann hob er die Pistole, drückte auf einen Knopf am Griff und begann bogenförmige Bewegungen auszuführen, den Lauf allmählich immer tiefer senkend.

 

Pawlik hatte sechs Jahre seines Lebens fern von seiner Heimat in Amerika verbracht. Er wuchs ohne Mutter heran, die ein Jahr nach der Übersiedlung in das ruhige Quebec gestorben war, und ohne Geschwister und Spielgefährten.

Nach der Schiffskatastrophe kam Pawlik ganz unerwartet auf ein sowjetisches U-Boot, in die enge Gemeinschaft tapferer Männer und treuer Kameraden. Sie eroberten sich sein Herz durch ihren Lebensmut, ihre kameradschaftliche Verbundenheit und ihre Disziplin. Die kraftvolle, zärtliche und tapfere Heimat lernte Pawlik im engen Lebensraum der Pionier kennen; sie nahm hier für Pawlik eine lebendige, wirklichkeitsnahe Form an, gab ihm Auftrieb und spornte ihn an, seinen neuen Freunden ähnlich zu werden.

In der kurzen Zeit nach seiner Rettung hatte Pawlik schon viel gelernt. Er kannte ausgezeichnet die Handhabung seines Taucheranzuges, den ihm Skworeschnja aus den kleinsten Reservestücken ausgesucht hatte; er verstand mit der Ultraschallpistole umzugehen, er wusste, wie man sie als Waffe und auch als Nachrichten- und Signalmittel gebrauchte. Er lernte es, sich mit Kompass und Tiefenmesser auf dem Meeresboden zu orientieren, sein Funkgerät zu bedienen, mithilfe der Luftregler seines Taucheranzuges im Wasser auf- und niederzusteigen und die Schraube und das Steuer zu benutzen.

Deshalb hatte er auch so geschickt die Schildkröte verfolgt und nahm nun sicher mit seinen Freunden mithilfe seiner Ultraschallpistole Verbindung auf.

Es kam dabei darauf an, mit dem Ultraschallstrahl die Membrane auf der Brust eines seiner Freunde zu treffen. Dort verwandelte sich der Strahl in einen hörbaren Ton. Und an seiner Frequenz und Lautstärke konnte man feststellen, welche Richtung man einzuschlagen hatte, um zur Schallquelle zu gelangen …

Wenige Minuten später sagte der Zoologe, während er mit dem Buschmesser Pawliks Schraube von den Tangstängeln löste: »Diese Schildkröte brauche ich nicht, Pawlik. Besser wäre es, du suchtest meine Lammelibranchiata cephala. Ich wage es kaum, meinen Namen dieser Klasse anzuhängen, die vorläufig nur in Gestalt eines einzigen Individuums existiert.« Der Zoologe seufzte bekümmert.

»Seien Sie nicht traurig, Arsen Dawidowitsch«, tröstete ihn Pawlik. »Wenn nicht hier, dann eben woanders; aber finden werden wir diese cephala unbedingt.«

»Jetzt bist du befreit, Pawlik. Ein anderes Mal … Halt, was ist denn das?« unterbrach sich der Zoologe.

Pawlik schaute in die Richtung, wohin sich Lordkipanidse umgedreht hatte. Durch die Tangschäfte sah der Junge die Gestalt eines großen Mannes in einem bläulichen Taucheranzug. Der Mann schwamm nach oben und hielt in den Händen drei grellrote Spiralschläuche. Der Taucher war vom Zoologen und Pawlik kaum zwanzig Meter entfernt und verschwand, einen Schwarm silbriger Fischchen aufschreckend, hinter einer dichten Tangwand.

»Seltsam, wer könnte das gewesen sein?«, fragte der Zoologe nachdenklich und blickte nach oben. »Ich erinnere mich, dass heute außer uns nur Schelawin, Skworeschnja, Zoi und Marat das U-Boot verlassen sollten. Der Taucheranzug dieses Mannes war, wenn ich mich nicht irre, Größe null, und so große Männer haben wir nur zwei – Skworeschnja und Gorelow, aber Skworeschnja hat zu tun. – War es vielleicht Gorelow?«

»Arsen Dawidowitsch«, unterbrach ihn Pawlik. »Warum ist er aber nach oben geschwommen? Der Kapitän hat es doch verboten, sich der Oberfläche weiter als bis auf fünfzig Meter zu nähern.«

Der Zoologe zuckte in seinem Taucheranzug die Achseln.

»Das verstehe ich nicht. Übrigens scheint er, bevor er aus unserem Blickfeld verschwand, die Richtung geändert zu haben. Ich versuche es mal, mich mit ihm durch Funk zu verbinden. Es ist doch bald Mittagszeit.«

Fortsetzung folgt …