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Lina Maria Charlotte Rapunzel Justus

Lina Maria Charlotte Rapunzel Justus

»Geh Rapunzeln holen!«, wiederholte Lina wütend den Befehl ihrer Mutter und stapfte in den Garten.

Nur weil sie das verflixte Märchen nicht hatte vorlesen wollen. – Ihr Bruder kannte es doch sowieso auswendig!

Genau genommen kannte er jedes Märchen auswendig. Er war eine wandelnde Märchenmaschine, die noch nicht stubenrein war.

Linas schlechte Laune schaffte es, noch schlechter zu werden, als ihr einfiel, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was Rapunzeln überhaupt waren.

»Dann probieren wir das Ausschluss-Prinzip«, beschloss Lina: Alles, was sie kannte würde von der Liste gestrichen und alles, was übrig blieb, mussten Rapunzeln sein.

Mürrisch sah sie sich um:

Tomaten – Gestrichen

Gurken – Gestrichen. – Hei, das war gut!

Kürbisse – Gestrichen

Irgendwas – mögliche Rapunzeln

Bohnen – Gestrichen

Grün, kümmerliche Blätter – mögliche Rapunzeln

Möhren – Gestrichen

Kräutergarten – mögliche Rapunzeln – Verflixt!

Auf gar keinen Fall würde sie zurückgehen, um zu fragen.

Sie bückte sich, um etwas von jedem der undefinierbaren Grünzeugpflanzen einzusammeln.

Als sie mit der Hand argwöhnisch das erste Grün berührte, zog sie die Finger zurück, als hätte sie sich verbrannt.

»Verflixt!«, dachte sie und drehte sich einmal um ihre eigene Achse.

Dann kehrte ihr Blick zu der einzigen Person zurück, die sich in dem runden Turmzimmer aufhielt. Eine junge, wunderschöne Frau strahlte sie an. »Hallo Rapunzel!«

Lina kicherte und korrigierte die Frau hilfsbereit: »Ich bin nicht Rapunzel.«

Die Frau machte eine nachsichtige Geste. »Jaja, und ich bin in Wirklichkeit eine gute Fee.«

Ungläubig starrte Lina die Frau an. »Wochenendvertretung!«, erklärte diese achselzuckend, als sei damit alles erklärt.

Erleichtert atmete Lina auf. Die Wochenendvertretungshexe wirkte, als sei sie aufgeschlossen.

»Ich bin echt nicht Rapunzel!«

»Das weiß ich doch Lina.« Die Frau schenkte dem jungen Mädchen ein strahlendes Lächeln, zückte einen großen Stapel Papiere und einen Kugelschreiber. Den Stift drückte sie Lina in die Hand, hielt ihr einzelne Blätter hin und kommentierte: »Unterschreibe bitte hier, hier und hier.« Sie blätterte um: »Ach ja, hier bitte noch eine Unterschrift, dass du akzeptierst, dass wir dir einen Prinzen zur Verfügung stellen, aber weder für sein Benehmen noch für sein Vermögen garantieren können.«

Sie blätterte weiter: »Hiermit unterschreibst du, dass ich dich darauf hingewiesen habe, dass es kein Umtauschrecht gibt. Und hier ist noch eine Passage zu Umgangsformen im Märchen. – Lies die bitte besonders aufmerksam!«

Lina, die sich bisher noch nicht von der Stelle gerührt hatte, sah die Aushilfshexenfee mit großen Augen an. »Aber ich bin doch noch gar nicht volljährig!«

»Ja, das unterschreibst du hier.« Die Fee zeigte auf den Text.

»Das unterschreibe ich nicht! In keinem Märchen steht etwas von Verträgen!« Lina verschränke ablehnend die Arme vor der Brust.

Die Fee seufzte schwer, als wenn sie sich an ein goldenes Zeitalter erinnern würde: »Früher war alles viel einfacher.«

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Lina mitfühlend.

»Juva ist passiert!«, fauchte die Fee nun gar nicht mehr Fee-like.

»Mama?!« Die Bemerkung war Lina entschlüpft, bevor sie es verhindern konnte.

»Duuu bist die Tochter von Aschenputtel-Zerstörer-Juva?!« Die Fee musterte sie von oben bis unten, als überlegte sie, wie sie Lina schnellstmöglich wieder loswerden konnte.

»Sie hat Aschenputtel kaputtgemacht?«, vergewisserte sich Lina.

»Aber das macht ja alles gar nichts!«, betont fröhlich fächerte sich die Fee Luft zu. »Wir lassen uns doch von solchen Kleinigkeiten nicht den Spaß vermiesen! – Das kriegen wir hin!«

»Was kriegen wir hin?«, erkundigte sich Lina argwöhnisch.

»Rapunzel!«, erklärte die Fee und machte eine Geste mit dem Zauberstab.

Plötzlich wuchsen Linas goldene Haare mit atemberaubender Geschwindigkeit, wurden der Traum für mindestens 5 langhaarige Frauen, der Albtraum für jeden Friseur und erreichten schließlich den Boden.

Lina dachte kurz an Wella, Gliss Kur und immense Werbeverträge, bevor ihr Temperament wieder die Oberhand gewann. »Hey!«, schimpfte sie und versuchte auf die Fee zu zugehen. Nur mit äußerster Konzentration gelang es ihr, zwei Schritte zu machen, ohne auf ihre eigenen Haare zu treten. Doch die Fee war verschwunden.

»Ich werde wahnsinnig!«, verkündete Lina. »Haare! Überall Haare!«

Als ihr ein Einfall kam, zeichnete sich Panik auf Linas Gesicht ab. Dann kontrollierte sie hastig ihre Achselhöhle.

Ein Seufzen der Erleichterung hallte durch den Turm und war sogar noch am unteren Ende zu hören.

»Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!«, schallerte die Fee fröhlich von unten.

Linas Kopf erschien am Fenster. Sie schien einen Moment zu überlegen. »Weißt du eigentlich, wie schwer du bist?«

»Ich bin nicht zu dick!«, tobte die Fee, die sich seit Tagen auf ihre Rolle vorbereitet und nur noch Knäckebrot gegessen hatte. – So was schlug zwangsläufig aufs Gemüt. – Dann versuchte sie eine andere Taktik: »Sei kein Spielverderber! Das macht doch Spaß!«

»Spaß? Weißt du, was ich mit dem echten Rapunzel mache, wenn ich die in die Finger bekomme?«

»Aber immerhin siehst du toll aus!«, versuchte die Fee das Mädchen zu ködern.

»Nein, die Haare sehen toll aus, ich hänge da nur zufällig dran!« Lina überlegte einen Moment. »Besteht die Chance, dass du Aspirin dabei hast?«

Die Fee schüttelte den Kopf.

»Kannst du welche herbeizaubern oder herbeifeen?«

»Nein, darauf habe ich kein Patent!«

»Dann bleibst du unten!« Lina zog ihren Kopf zurück.

Erst nach einer Stunde gab die Fee sich geschlagen, sah ein, dass alle Bitten nichts halfen, und machte sich auf den Weg zu einer Apotheke.

»Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!«, klang eine männliche Stimme von unten und wischte Linas triumphierendes Lächeln beiseite.

Sie steckte den Kopf durch das Fenster, um zu prüfen, ob es sich vielleicht lohnte.

»Für wie blind hältst du mich eigentlich?«, motzte Lina von oben, als sie den Prinzen sah.

Dieser stutzte, beschloss alles zu ignorieren, was er nicht kannte und meinte: »Dein Gesang hat mein Herz so sehr bewegt, dass es mir keine Ruhe mehr gelassen hat.«

»Das war kein Gesang, dass waren Schmerzensschreie, ich bin mir auf die Haare getreten.«

»Ich musste dich unbedingt sehen!«

»Jetzt hast du mich gesehen! – Ein schönes Leben noch!«

»Willst du mich heiraten?«

»Sag mal, weißt du eigentlich, wie alt ich bin?«

»Nein! Spielt das eine Rolle?«

Lina war fassungslos. »Ich will nicht heiraten!«

»Aber ich bin doch jung und schön!«

»Oh!« Sie sprang wütend auf der Stelle und Märchenbeobachter schworen später, dass sie Rumpelstilzchen gesehen hatten.

Genervt schloss Lina die Augen »Ich will raus aus diesem Märchen! Sofort!«

Als jemand sie behutsam schüttelte, öffnete sie die Augen und setzte zu einer verletzenden Bemerkung an, bevor sie ihren kleinen Bruder erkannte.

Dann begriff sie.

»Jos! Oh Jos!« Sie umarmte ihn, dankbar dafür, dass er sie gesucht und irgendwie gerettet hatte, obwohl sie so ekelig zu ihm gewesen war.

Unsicher erwiderte er die Umarmung, bevor er sich von ihr löste: »Ich habe mir gedacht, du brauchst Hilfe bei den Rapunzeln.« Er hielt ihr etwas Grünzeug hin. Sie nahm es verwirrt entgegen.

»Das sind Rapunzeln?«

»Ja! Das da ist Kresse!«

Lina lachte leise vor sich hin.

»Liest du mir jetzt Rapunzel vor?« Die Hoffnung in der Stimme ihres kleinen Bruders brach ihr fast das Herz.

»Also erstens: Ich werde dir alles vorlesen, was du möchtest, mein Lieblingsbruder und zweitens: Wenn du möchtest, erzähle ich dir die Lina-Rapunzel-Version.«

Jos seliges Lächeln entschädigte sie für fast alles. – Trotzdem nahm Lina sich vor, ihrer Mutter unauffällig die Rapunzelkresse in die Hand zu drücken.

(jsch)