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Simon Heiser: Der Fall Scheib

Alles begann mit einem Typen, der ein Schwert in der Hand hielt. Simon Heiser weiß heute nicht mehr, ob das in Star Wars oder im Herrn der Ringe war, oder vielleicht auch ganz woanders. Aber er erinnert sich an den Eindruck, den dieser Krieger damals, als er noch ein Kind war, auf ihn gemacht hat. Jemand, der für eine gute Sache, für ein höheres Wohl eingetreten ist, und das innerhalb eines fantastischen Rahmens voller unbekannter Horizonte. Dass das für ein Kind atemberaubend ist, ist klar. Aber die Faszination, die gut erzählte Geschichten und interessante Charaktere auf ihn ausübten, hat ihn seitdem nicht mehr losgelassen. Schon früh verlangte es Simon danach, selbst die Geschicke solcher Erzählungen und aller in ihnen vorkommenden Figuren zu lenken, sich eigene Rahmen auszudenken, die er mit Leben füllen konnte. Von der Fantasy kam der Autor nach und nach zum Horror und den Kinderbüchern; er liebt es einfach, das Spektrum seines Schaffens möglichst breit zu fächern. Feuer und Sterne zum Beispiel, sein Debütroman, ist irgendwo inmitten dieser Genres angesiedelt und erweist sich als Drama, das den Leser auf eine tragische Reise an der Seite zweier Kinder mitnimmt, die sich unerwarteten Hindernissen stellen müssen, ohne dabei jemals die Hoffnung aufzugeben – ein oft wiederkehrendes Thema in meinen Geschichten, nicht zuletzt natürlich in Der Fall Scheib.

Simon Heiser wurde 1983 in Südhessen, dem Schauplatz von Der Fall Scheib, geboren und lebt heute noch dort. Sein berufliches Portfolio bewegt sich im Bereich des Sozialwesens, und das Schreiben fasziniert ihn schon, seit ihm als Kind durch Zufall eine alte, zerfledderte Ausgabe des Herrn der Ringe in die Hände fiel. Schicksal? Möglicherweise. Simon absolvierte eine Ausbildung zum Sozialassistenten, holte auf dem zweiten Bildungsweg sein entsprechendes Fachabitur nach und erlangte ein Zertifikat als Erlebnispädagoge. Heutzutage lebt er mit seiner Freundin Meta zusammen und schloss gerade die Arbeit an seinem vierten Roman ab. Simon Heiser treibt gerne Sport, liebe Videospiele, Tattoos und das Lesen von Unterhaltungsliteratur.

Das Buch

Simon Heiser
Der Fall Scheib
Eine Hommage auf H. P. Lovecraft
Taschenbuch, CreateSpace Independent Publishing Platform, März 2014, 132 Seiten, 6,99 Euro, ISBN 9781496179050
E-Book, Kindle Edition, 1046 KB, 4,99 Euro

Kurzinhalt:
»Dass ich in diesem Mausoleum vergessener Tage, in der Stille von Äonen, deren Gewicht schon jetzt schwer auf mir lastete, alleine bleiben sollte, nicht vermutend, was in der Schwärze auf mich lauern mochte, war mir unerträglich.«
Eine Hommage auf H.P.Lovecraft
Rudolf Schneider soll auf einem südhessischen Bauernhof, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, eine kranke Frau pflegen, deren Verstand nach dem Tod ihres Ehemannes gelitten hat. Doch schnell findet er heraus, dass hinter dem Leid der Witwe weit mehr zu stecken scheint, als er sich vorstellen kann. Zusammen mit dem jungen Knecht Karl beginnt Schneider zu ermitteln und findet sich unversehens in einem Kampf sowohl gegen ein Übel unbekannter Herkunft als auch gegen seine eigenen inneren Dämonen wieder.

Leseprobe

Aus meinen Überlegungen wurde ich erst gerissen, als der Junge hinter mir die Tür behutsam schloss und ich feststellte, dass ich nun mit der Witwe Scheib alleine war. Vor mir fand ich eine dünne Frau – für ihren gebrechlichen Zustand erschreckend jung –, die halb unter den Laken eines geräumigen Bettes verborgen war, aber mehr oder minder aufrecht, an die Rückenlehne gestützt, und mit erhobenem Oberkörper mich erwartete. Ihr weißes Nachthemd und ihr helles, ungezwungenes Haar, das demnächst wieder einmal eine Wäsche ertragen konnte, schmiegten sich dezent in die restliche Farbgebung des Raumes, welche weitgehend unauffällige, lachsfarbene oder ebenfalls weiße Pastelltöne aufbot, die den Anschein eines schläfrigen Gemäldes erweckten. Einige Teile von Nippeskram wurden von schmalen Ziertischchen beherbergt, die einen starken Kontrast zu all dem ungeschliffenen Panorama bildeten, das man draußen sehen konnte, doch waren sie zu wenig zahlreich, um kitschig zu sein. Ich sah eine leere Schüssel und einen zierlichen Löffel auf dem Nachttisch, welche wohl einem leichten Mittagessen gedient hatten. Der Rest des Raumes war penibel sauber, sodass Schüssel und Löffel so fehl am Platze wirkten wie dieses Zimmer innerhalb des derben Gutes. Ich fragte mich, ob die Witwe selbst diese Neigung zur Sauberkeit auf ihr Umfeld übertrug oder ob sie sie als Kranke einfach von ihrem Gesinde aufgedrängt bekam. Ich hätte mich auf Anhieb in diesem Raum wohlfühlen können, wenn nicht zwei Dinge dies verhindert hätten: der Gedanke, dass ich beruflich hier war, und der nicht weichen wollende, beinahe schon miasmatische Hauch des Unerklärlichen.

»Sie sind also der Herr Schneider«, begrüßte mich die Dame des Hauses, deren Stimme – jetzt da ich sie direkt vernehmen konnte – tatsächlich ein wenig kraftlos war, aber weit davon entfernt schien, von einem aus den Fugen geratenen Verstand zu berichten. Auch machte ihr Gesicht zwar einen etwas abgeschlafften Eindruck, eine Todkranke hatte ich hier aber sicherlich nicht vor mir. Dass sie mich mit Namen kannte, verriet, dass man mich vom Institut her angekündigt hatte und dass sie scheinbar noch immer von ihren Knechten in das miteinbezogen wurde, was um sie herum geschah.

»Eben der«, entgegnete ich in dem Versuch, charmant zu sein. Ob es nur bei dem Versuch blieb oder mir tatsächlich gelang, wusste ich nicht zu erkennen, aber das Lächeln, das sie mir offerierte, ließ wenigstens den Schluss zu, dass ich ihr sympathisch war. Das Letzte, was ich wollte, war, dass ich den übereifrigen Arzt markierte, der ich nicht war. Ich durchquerte den Raum mit einigen gemessenen Schritten und streckte meinen Arm aus, ihr die Hand zu reichen. Immerhin hat man mich dahingehend instruiert, dass sie an einer Störung des Geistes litte, nicht an der Pest. Doch noch bevor unsere Hände sich berührten, hielt ich unfreiwillig inne, als hätte man mir eine Ohrfeige versetzt oder als wäre ich gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Wie ein abgewürgter Ton eines gerade ansetzenden Geigenspielers gefror mein noch vor einer Sekunde gewinnendes Lächeln zu einer Grimasse des Entsetzens. Denn als schwebe eine dem Auge entzogene Wolke direkt über dem auf dem Bett ausgestreckten Körper, wusste ich plötzlich, als ich einmal mehr unbewusst einatmete, dass der Ursprung und die schlimmste Ausprägung des bestialischen Gestanks von der Witwe Scheib selbst herrührte. Ich erstarrte.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte mich ihre freundliche Stimme. Es war pure, über Jahre konditionierte Umgangsform, die allein mich dazu brachte, den Händedruck zu Ende zu führen und zu versuchen, aus dem missglückten Lächeln noch eine Art wenigstens formell milden Ausdrucks zu formen. Ihr Erstaunen war so ungekünstelt, dass ich zu dem Schluss kam, dass sie selbst die üble Ausdünstung gar nicht wahrnahm, sondern die weit geöffneten Fenster vielleicht eher mit der landläufigen Meinung zu Kranken und frischer Luft zu tun hatten.

»Nein«, sagte ich improvisierend. »Es ist alles in Ordnung. Ich war lediglich erstaunt darüber, dass ich eine Frau scheinbar bester Gesundheit vorfinde, wo ich eine kaum des Sprechens fähige Siechende erwartet hätte«, versuchte ich meinen unkontrollierten Ausbruch zu kaschieren, obwohl die Erklärung natürlich nichts anderes als absurd war. Dennoch schien sie meine Ausführung für eine Art Bagatelle zu halten und schien darüber sogar ein wenig amüsiert.

»Ich glaube, dass ich seit Tagen nicht in den Spiegel gesehen habe. Daher kann ich Ihnen nicht verraten, was zu sehen richtig wäre. Aber ich denke, dass ich noch nicht so weit bin, dass man mich fortschaffen müsste, wenn Sie wissen, was ich meine«, sprach sie in fast zynischer Direktheit. »Aber ich bin natürlich froh, dass Sie angekommen sind, um mir zur Seite zu stehen.«

Noch immer stark irritiert von meiner Erkenntnis, in ihr die Quelle meiner Pein, die meinen Geruchssinn marterte, erkannt zu haben, zwang ich mich dazu, an den Grund meines Hierseins zu denken. Ich sah die Witwe nicht wie eine Frau vor mir, die dringend Unterstützung benötigte, zumindest keine physische oder psychische. Deshalb begann ich mich zu fragen, weshalb ich überhaupt hergekommen war, denn wohl sicher nicht, um ihre Einkäufe nach Hause zu tragen oder ihr die Kissen im Rücken zu richten. All diese Dinge hätten Teile ihres Gesindes übernehmen können, ohne einen teuren Pfleger heranziehen zu müssen. Doch es musste einen Grund gegeben haben, weswegen man sich an das Sankt Hubertus-Institut gewendet hatte, und ich war mehr als bereit, diesen Grund in Erfahrung zu bringen.

Das einzige Merkmal einer körperlichen Minderung ihres Gesundheitszustandes wollte ich auf den zweiten Blick in der stumpfen Strähnigkeit ihres Haares erkennen, welches glanzlos über ihre Schultern floss. Hätte man mich in diesem Moment gefragt, welches Anzeichen, sofern ich unbedingt eines benennen musste, am ehesten zu einem sorgenvollen Blick verleitet hätte, wäre ich nicht umhin gekommen, auf ihr Haar zu verweisen. Es wirkte auf mich, als sei die Witwe Teil eines Gemäldes, bei dem ausgerechnet die Farben des Haares vor der Zeit verblasst seien, während alles andere im Normalzustand verblieben war. Zu dieser Stunde fiel mir nicht ein, dass der landläufigen Meinung, aber auch belegter wissenschaftlicher Studien nach, kognitive Defekte oftmals auch mit einer Verschlechterung der körperlichen Hygiene einhergehen mochten, speziell gerade der Haarpflege oder des Zustands der Kopfhaare im Allgemeinen. Ich sah das Zeichen deutlich vor mir, doch war ich zu sehr von einer scheinbar relativ stabilen Persönlichkeit und natürlich diesem Geruch überrumpelt worden, sodass ich zu schnell einen Weg einschlug, in Kenntnis bringen zu wollen, was hier nicht stimmte, ohne mich allerdings vorher Schritt für Schritt heranzutasten. Hier sehe ich, deutlicher als irgendwo sonst während des gesamten Falles, dass mir eindeutig maßgebliche Fachgröße gefehlt hatte, sofort die richtigen Schlüsse zu ziehen. Andererseits will ich mir keine Vorwürfe machen, denn wenn ich mich nicht Hals über Kopf in die Arbeit gestürzt hätte … – wer weiß, vielleicht hätte jemand insgesamt bis zum Abschluss der kommenden Gräuel weitaus schädlicher gehandelt.

»Ist Ihnen nicht kühl, mit den offenen Fenstern?«, stellte ich meine linkische und, wenn man es recht betrachtete, paradoxe Frage. Sie war nur der Versuch, über eine gediegene Unterhaltung den Weg zum Anfang einer sachten Nachforschung zu finden, und dass, obwohl ich in jeder Faser meines Körpers den Drang verspürte, wegen des Gestankes alle Fenster aufzureißen, wären sie nicht schon längst sperrangelweit offen gewesen. Ich selbst empfand es, da mein Kreislauf den langen Marsch zum Gutshaus langsam zu vergessen begann, als unangenehm kühl hier drinnen. Ich wollte frische Luft, aber gleichzeitig ließ sie mich frösteln. Es war, als wäre man zwischen zwei Übeln gefangen, bei denen man nicht entscheiden konnte, welches denn nun das größere sei.

»Nein«, sagte die Frau im Bett schlicht. »Ich genieße die Kälte. Mir war in letzter Zeit immer so warm. Mir erschien es, als litte ich unter hohen Temperaturen, so wie es einer meiner seligen Tanten nach mit einer Frau geschieht, die den Herbst ihres Lebens erreicht. Als fänden in meinem Körper Veränderungen statt, die ich mir bis heute nicht erklären kann.«

»Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«

Sie lächelte schwach, und dieses Lächeln nahm mich für sie ein. Es war ein lauer Schatten eines gesunden Selbstbewusstseins, der nichts mit Eitelkeit zu tun hatte – oder nur wenig. »Ich habe einmal gehört, dass man eine Dame so etwas nicht fragt. Aber ich fühle mich im Moment weder wie eine Dame, noch haben wir hier Ort und Zeit für oberflächliche Benimmregeln, nicht wahr? Ich bin dreiunddreißig Jahre alt, Herr Schneider.«

Ich empfand das als ungerecht jung, um einem solchen Geschick wie dem ihren anheimzufallen. Der Ehemann bei einem Unfall verstorben, der Vater ebenfalls vom Herrgott zu sich berufen. Dazu ein mysteriöser Befall von Schwäche und Alleinerbin eines Guts, mit dem sie höchstwahrscheinlich nichts mehr anzufangen wusste und das sie unmöglich alleine wirtschaftlich würde halten können. Ein Gutteil ihres Lebens lag noch vor ihr, aber trotzdem schien es schon vorbei.

»Es sieht so aus, als scheide der Herbst des Lebens damit aus«, erwähnte ich beiläufig, was mir eine Fortsetzung des Lächelns eintrug.

Ich beugte mich ein weiteres Mal zu ihr hin und versuchte diesmal, ihren Duft, nein, ihren Gestank zu ignorieren. Es fiel mir schwer. Sehr schwer. Und gleichsam fragte ich mich, wie es möglich war, dass er sich so unnachgiebig und hartnäckig im ganzen Haus halten konnte. Etwas Unnatürliches und Undenkbares haftete ihm an, als wäre er aus tiefsten Schründen empor gewabert, die nicht für menschliche Augen gemacht waren. Doch es gelang mir, ihn für die wenigen Sekunden auszublenden, während der ich sie ein weiteres Mal berührte. Nur meine gerunzelte Stirn mochte etwas über mein Unbehagen verraten haben, als ich ihr so nahe war, um mit meinem Handrücken die Temperatur ihrer Stirn zu fühlen, doch dieses bemerkte sie nicht, weil sie während meines Tastens die Augen geschlossen hatte. »Darf ich?«, fragte ich, als es eigentlich schon viel zu spät dafür war. Ein kaum merkliches Nicken von ihr, während meine Hand schon an ihrer Stirn lag. Sie fühlte sich tatsächlich warm an, aber in keiner allzu ungewöhnlichen Art und Weise. Wenn es wirklich stimmte, dass sie unter Fieber gelitten hatte, waren die gröbsten Auswirkungen davon schon vorübergegangen.

Ich blieb im Großen und Ganzen knapp eine Stunde bei ihr. Da ich erst einmal einen Eindruck über ihren Zustand gewinnen wollte, hatte ich in meinem Köfferchen kaum medizinisches Gerät mitgeführt. Die Untersuchung beschränkte sich somit auf Fragen und Erklärungen, wobei ich aber versprach, zu unserer nächsten Begegnung entsprechend ausgerüstet zu sein. Sie erzählte mir von ihrer Hochzeit und dem Tag, an dem sie Martin Scheib erstmals getroffen hatte. Sie erzählte von ihren gemeinsamen Zukunftsplänen, die nun mit der Asche des verbrannten Gerüstes auf dem Acker begraben lagen. Als ich sie frei heraus fragte, wie es ihrer eigenen Einschätzung nach um ihre Verfassung stünde, meinte sie, dass es kurz nach dem Unfall zu mehreren Zusammenbrüchen gekommen sei, sie aber fest daran glaube, dass sie sich auf einem Weg der Besserung befände. Im Laufe des Gespräches ging ich des Öfteren auf und ab, um mich etwas warm zu halten, und rieb mir auch ungeniert die Hände, was sie dazu veranlasste, mir das Schließen der Fenster anzubieten. Ich lehnte es ab auf ihr Angebot einzugehen, denn hier drinnen mit diesem grausamen und – weil ich so sehr über seine Herkunft nachgrübelte, ohne zu einem befriedigenden Schluss zu kommen, der nicht völliger Unsinn gewesen wäre – beinahe schon unheimlichen Geruch eingeschlossen zu sein, ohne dass diesem eine Möglichkeit zum Abzug gegeben wäre, hätte mich weit mehr verunsichert, als die Kälte es vermochte. Dennoch war ich erleichtert genug, als ich mir selbst gegenüber versichern konnte, dass ich alles Menschenmögliche getan hatte, was ohne Gerätschaften zur genaueren Untersuchung möglich war, und somit den Besuch bei ihr abschließen konnte. Wenn ich am nächsten Tag zu ihr kommen würde, wollte ich mich mit einer geeigneteren Garderobe versehen, die es erträglicher machen würde, eine Stunde oder auch mehrere bei weit geöffneten Fenstern in diesem Zimmer zu bleiben. Der morbide Gedanke an eine Atemschutzmaske flammte kurz in mir auf, aber ich schämte mich allein schon für die Pietätlosigkeit solcher Überlegungen, auch wenn sie ganz allein und ohne mein Zutun entstanden waren.

Wir verblieben, dass ich morgen um etwa dieselbe Zeit erneut hier meine Aufwartung machen wolle, und ich verabschiedete mich mit der gebührenden Höflichkeit eines Mannes, der das Zimmer einer fremden Frau verlässt. Wieder musste ich mich schämen, aber als ich draußen war, lehnte ich mich erleichtert mit dem Rücken gegen die Schlafzimmertür, froh, den Gestank hinter mir einzusperren. Auf dem Flur war er zwar immer noch spürbar, aber weit nicht mehr so schlimm wie in der Nähe der freundlichen Witwe, und vor allem der pestilenzartigen Nachhaltigkeit beraubt, die drinnen vorherrschte und so intensiv war, dass sie auf Dauer dem logischen Denken zu schaden schien. Auch meine Zügellosigkeit stieß mir sauer auf, diese grenzenlose Erleichterung in Gegenwart des jungen Knechtes so offenherzig zu zeigen, doch ich konnte einfach nicht anders als aufzuatmen, gleichwohl wer mich dabei beobachtete. Ob der Junge die ganze Zeit draußen gewartet hatte oder eben erst zufällig wiedergekommen war, das wusste ich nicht. Aber als er mich sah, wie ich durchatmete, war in seinem Gesicht nichts als Verständnis zu lesen.

»Es ist der Gestank, nicht wahr?«, fragte er mich impertinent. Ich legte mahnend einen Zeigefinger auf meine Lippen, um zu signalisieren, dass selbst zu lautes Flüstern eventuell der Witwe an die Ohren dringen mochte. Ich wollte sie zusätzlich zu allem anderen nicht auch noch unnötig gekränkt wissen. Daher packte ich den Burschen an der Schulter und ließ mich von ihm ins Erdgeschoss bringen, wo wir weniger heimlich reden konnten.

»Was sagen Sie, Herr Doktor?«

Ich musste über seine Unerfahrenheit bitter lachen.

»Ich bin kein Doktor«, stellte ich richtig. »Ich bin Pfleger.« Er ließ sich von meinen Worten nicht aus der Ruhe bringen. Er sah einen Mann mittleren Alters mit einer Art lackglänzendem Aktenkoffer. Mehr brauchte er nicht, um mich für eine Autorität zu halten, auch wenn er sicherlich nicht dumm war.

»Was sagen Sie?«, ließ er nicht locker.

»Nun, ich muss sagen, dass mich der …« Ich wusste nicht, wie ich es ihm gegenüber bezeichnen sollte.

»Der Gestank«, rief er beinahe. »Es ist der Gestank, nicht wahr?«

»Nennen wir es so, ja«, lenkte ich ein. Wieder hüpfte mein Puls einmal kurz hoch bei dem Gedanken, die Frau Scheib mochte es vernehmen. Mein Zeigefinger wurde wie von selbst erneut an die Lippen geführt. Auch meine Mimik sollte dem Knaben deutlich machen, dass trotz allem noch immer Verschwiegenheit gefordert war. Normalerweise hätte ich eine solche Unterhaltung, die an die völlig falsche Person gerichtet und noch dazu mehr als indiskret war, gar nicht geführt, schon alleine der Berufsehre wegen, aber ich war durch diesen beißenden Odeur so aus der Bahn geworfen worden, dass ich das dringende Bedürfnis hatte, mich jemandem mitzuteilen, und wenn es nur ein Halbstarker war. Ich redete es mir damit gut, dass er über die Vorkommnisse hier auf dem Gut bestens Bescheid wissen musste und ich ihm sicher einige bedeutende Informationen würde entlocken können, wenn ich ihn ins Vertrauen zog. »Ich sage ehrlich, dass ich so etwas noch niemals zuvor erlebt habe.«

Der Junge schüttelte ernst den Kopf. »Ich auch nicht«, sprach er. »Es kam ganz plötzlich, nachdem die gnädige Frau einige Tage schon im Bett gelegen hatte. Wir suchten das ganze Haus ab, ob eine der Katzen vielleicht irgendwo gestorben war, aber dann erinnerten wir uns, dass die meisten Viecher ja abgehauen waren. Erst als ich Frau Scheib später einen Teller Brühe gebracht habe, ist mir aufgefallen, dass dieser Geruch von ihr kommt.« Er senkte seine Stimme nun doch endlich zu einem Flüstern und rückte näher zu mir, als wolle er mir etwas ganz besonders Fürchterliches anvertrauen: »Die meisten Männer haben jetzt Angst, in ihre Nähe zu kommen.«

»Dennoch habe ich außer diesem Umstand nichts bemerkt, was mir eure Frau Scheib auch nur im Ansatz krank erscheinen ließ«, erklärte ich.

Der Knabe schien erstaunt, denn er riss die Augen auf und sah mich fast betreten an.

»Nicht?«, fragte er. »Ich habe mich schon gewundert, dass es bei Ihnen da drin so ruhig war.«

»Wieso das?«

Er lachte so verzweifelt, dass es wie ein Husten klang. »Na, letztens noch war sie überhaupt nicht ruhig. Überhaupt nicht. Ich habe mich so über die Ruhe heute gewundert, weil sie … weil sie mir erst vorgestern noch richtig Angst gemacht hat.«

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Nicht wegen den Behauptungen des Jungen, sondern aufgrund der Weise, wie er es erzählte. Seine Augen waren die eines Menschen, der gestern ein Gespenst gesehen hatte – furchtsam und blutunterlaufen wie die eines zu Tode verschreckten Tieres. Ich war dankbar für den sauber abgeschnittenen Sonnenstrahl, der wie eine dicke Linie auf den Dielen auflag.

»Wie meinst du das? Was hat sie getan?«, fragte ich aus einem Verstand heraus, der diese Frau in ihrem Schlafzimmer kaum mit etwas Furchtbaren in Verbindung bringen wollte. Wenn da nur nicht dieser Gestank gewesen wäre …

Er überlegte eine ganze Weile. Ich glaube, dass es nicht daran lag, dass er sich fragte, ob er mir vom gestrigen Tage erzählen wollte oder nicht, sondern daran, dass er sich scheinbar nur widerwillig daran erinnern wollte. Schließlich rang er sich doch dazu durch, mich einzuweihen. Er wird wohl gedacht haben, dass er mir damit hilft, ihr zu helfen.

»Gestern noch hat sie einen … einen Anfall gehabt. Ich habe ihr das Frühstück gebracht, und da war noch nichts. Sie hat nichts gesagt, aber das kam mir nicht ungewöhnlich vor, weil sie öfter mal geschwiegen hat. Besonders an Tagen, wo es ihr schlechter ging als an anderen. Ich habe ihr das Frühstück dagelassen und bin erst gegen Mittag wieder rauf. Ich habe nichts zu essen mitgebracht, weil sie manchmal keinen Hunger hat und nichts anrührt. Deshalb wollte ich gerade klopfen und nachfragen, wie es ihr heute am liebsten wäre. Ich hatte schon den Finger zum Klopfen gehoben, da hab ich doch auf einmal gezögert. Denn als ich gerade Pochen wollte, hab ich Geräusche von drinnen aus dem Zimmer gehört.«

Ich wartete darauf, dass er seinen Bericht fortsetzte, jedoch verhärtete sich die Linie seines Mundes und er knirschte mit den Zähnen. Ich habe noch nie jemanden vor Angst mit den Zähnen knirschen gehört, auch im Lazarett nicht, und dieser Ton ließ es mir eiskalt den Rücken hinunter laufen.

»Was waren das für Geräusche?«

»Wissen Sie, ich habe zwei jüngere Schwestern«, holte er aus. »Wenn die in ihrem Zimmer mit ihren Puppen spielen, kichern sie viel und freuen sich. Kleine Mädchen sind eben so«, sagte er leidlich erfahren und dabei dramatisch schauerlich; doch die üble Erinnerung war in seiner Mimik so greifbar, dass mir alles andere als zum Lachen zumute war. »Das Geräusch aus dem Zimmer der gnädigen Frau war so ähnlich wie dieses Kichern, aber doch … anders. Es hat mir einen Schrecken eingejagt, weil es so …«

»Was?«

»Weil es so böse klang.«

»Böse?«

»Ja. Wie das Kichern meiner Schwestern, aber als hätten die etwas Böses angestellt, über das sie lachten. Als hätten sie da drin ein Lebewesen, das sie quälten, so klang das. Meine Schwestern würden so etwas niemals tun, aber mir ist kein besserer Vergleich eingefallen. Dann bin ich mit einem ganz schönen Kloß im Hals doch hineingegangen, aber als ich drinnen war, da hat sie tief und fest geschlafen. Ich habe sie leise gefragt, ob sie etwas zu Mittag haben will, weil ich gesehen habe, dass ihr Frühstück weg war, aber da hat sie plötzlich die Augen aufgerissen und mich angeschrien. Und sie hat mit dem guten Geschirr nach mir geworfen. Ich bin von dort weg und bis eben gerade nicht mehr hingegangen.«

Die Ausführungen des Jungen erschienen mir beinahe unglaublich, weil ich Frau Scheib so friedlich im Bett hatte liegen sehen, aber sein Gesicht ließ keinerlei Zweifel daran zu, dass, wenn seine Geschichte nicht stimmen sollte, sie zumindest auf jeden Fall das war, was er erlebt zu haben glaubte. Er log mich nicht an, das spürte ich.

»Wie ist dein Name, Junge?«, fragte ich ihn, weniger aus wirklicher Wissbegier, denn aus dem bloßen Versuch heraus, uns beide mit dieser normalsten aller Fragen wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen, wo Herzen nicht grundlos pochten und wo man das willkürliche Zittern seiner Hände nicht mit festem Griff unterdrücken muss, obwohl es zu solchen irrationalen Auswüchsen unerklärlichen Kleinmutes überhaupt keinen Anlass gab. Der Bub schien mein Begehr als das zu durchschauen, was es war, jedoch hatte auch er eindeutig nichts dagegen, sich darauf einzulassen.

»Ich heiße Karl, Herr Doktor.«

»Ich bin kein … ach, lassen wir das. Nenne mich, wie Du willst. Es gibt Dringlicheres. Karl, du sagst also, dass die gnädige Frau gestern während eines hysterischen Ausbruchs mit Geschirr nach dir geworfen hat?«

Er nickte, obwohl ich glaube, dass er mit dem Wort hysterisch nichts anzufangen wusste. Egal, er wusste, was ich meinte. Er hatte es mir vor einer Minute selbst verraten, und ihm die Bestätigung seiner eigenen Worte zu entlocken, war nichts mehr als das Unternehmen, mich auf eine Ebene zu begeben, die mich irgendwann vielleicht die Ausdünstungen begreifen lassen würden, welche dort oben im Schlafzimmer herrschten. Wären sie nicht gewesen, hätte ich an der Witwe Scheibs Stelle Karl für verrückt erklären lassen. Doch irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, und mich sollte der Teufel holen, wenn ich nicht herausfinden würde, was das sein mochte. Innerhalb der Bemühungen, meine detektivischen Fühler auszustrecken, gab es noch etwas anderes, in was ich Einsicht zu erlangen suchte:

»Karl, wer ist es eigentlich gewesen, der sich an das Sankt Hubertus-Institut gewandt hat?«

»Sankt Hubertus?«

»Das …«, ich wollte ihn nicht mit weiteren Fachbegriffen verwirren, deshalb sagte ich: » … Krankenhaus, von dem ich komme. Wer vom Gut hat sich an uns gewandt?«

»Oh«, sagte der Junge, als er begriff. »Das war der alte … ich meine, das war Herr Tulpler.«

»Kannst du mich zu ihm bringen?«

»Besser: Ich kann ihn für Sie holen. Wenn Sie nicht ausgerechnet im Kuhstall mit ihm sprechen wollen.«

Mein Lächeln versicherte ihm, dass ich das wahrlich nicht wollte. So ließ ich ihn davon schnellen und suchte mir aus eigenem Antrieb die Küche und vor allem einen behaglichen Platz dort. Ich hatte während des gesamten Besuches bei Frau Scheib gestanden und bin auch vorher lange auf den Beinen gewesen, und ich sehnte mich danach, meinen Rücken etwas auszuruhen.

Die Küche war dann wieder – nachdem mich das Refugium der Hausherrin in seiner Darstellung so überrascht hatte – ein archetypischer Inbegriff des rein funktionellen Bereiches, wie man ihn in einem solchen Hause erwartete, weil dort eben vor allem die Herren und das Gesinde beruflich zusammenkamen. Obwohl vor scheinbar nicht allzu langer Zeit zumindest teilweise modernisiert (gerade die Fenster waren ordentlich verglast und abgedichtet), strahlte der Raum in jeder Ecke das aus, was das Haupthaus schon von außen versprach. Dominierend war hier eine große gemauerte Feuerstelle, die wie bei einem Kamin einen offenen Feuerraum hatte, der bei Benutzung Heizwärme abstrahlen würde und zudem auf seiner steinernen Oberseite, die sich von einer Seite des Raumes zur anderen zog, über eiserne Kochplatten verfügte, zwischen denen ein betagter Radioempfänger in Chrom und Braun eine absonderliche Divergenz zur Schau stellte, weil er wie eine Vision der Zukunft inmitten altertümlicher Gebrauchsmöbel und -gegenstände wirkte. Die gesamte Konstruktion war mit einem wuchtigen Schornstein verbunden, der letztlich in der Decke verschwand und in den dicke Haken geschlagen worden waren, an denen Pfannen, Kellen und große Suppenlöffel hingen. Unter einem ebenfalls gemauerten Regal mit alten Holzflächen, in deren Winkeln ich ein kleines Spinnennetz erkannte, standen bauchige Töpfe aus Eisen, einer größer als der andere, mit abgegriffenen Henkeln und teilweise rostigen Stellen. In den oberen Bereichen dieses Regals lagerten Weinflaschen, getrocknete Lebensmittel und Gewürze sowie sorgsam verschlossene Fässchen mit Mehl, Salz und Zucker. In der Nähe stand ein riesiger, schmuckloser und massiver Tisch, um den herum sage und schreibe zwanzig Stühle aus geleimtem Hartholz, mit Verzierungen im oberen Teil der Rückenlehne, aufgestellt waren. Für mich zuerst nicht fassbar, aber wohl nicht mehr als eine reine Notwendigkeit, wenn man die Größe des Gesindes betrachtete. Zwei befleckte Öllampen standen darauf, in Gesellschaft eines kleinen Kruges mit Dochten und Zündhölzern, obwohl auch eine elektrische Lampe mit prüdem Schirm von der Decke hing. Von den recht tiefen Deckenbalken hingen getrocknete Fleischstücke am Knochen und ganze Rispen von zusammengebundenen Knoblauchzehen, in den Ecken standen Säcke mit Kartoffeln und Rüben. Dekoratives Beiwerk fand ich hier nicht, sei es ein Bild, eine Fotografie oder auch nur irgendeine Form von Schnitzerei. Obgleich von der mächtigen Feuerstelle beherrscht, erschien mir die Küche kalt und wenig heimelig, was vielleicht noch vor einem Jahr anders gewesen sein mochte.

Ich gönnte meinem Rücken die Pause, die er zu benötigen schien, und ließ mich auf dem Stuhl vom Fußende des Tisches nieder, denn ich wollte nicht den Fauxpas begehen, dass ich, wenn die Arbeiter wiederkämen, mich frech auf dem Stammplatz des verstorbenen Bauern lümmelte. Ich reckte und streckte Arme und Schultern, die verspannt waren, obwohl sie kaum Beanspruchung erfahren hatten. Irgendwie war mir, als hätte sich nach Eintritt ins Gutshaus eine unnennbare, aber dafür umso stärker wirkende nervliche Anspannung meiner bemächtigt. Um mich abzulenken, sah ich mich in der bedrückenden Küche um, ohne jedoch auch hier etwas zu entdecken, das mein Interesse lange zu fesseln vermochte. Natürlich war mir als Fremden in dieser Art der Gemeinschaft das meiste an Interieur eher unbekannt, aber auch ich verfügte über einen wachen Geist, der sich den Nutzen der Gegenstände oder Möbel nach kurzer Überprüfung durchaus vorzustellen in der Lage war. Einzig ein verwitterter Spaten, verkrustet von trockener Erde, die auch abgebröckelt auf dem Boden rund um seine Spitze herum lag, zog meinen Blick länger als einen Augenblick auf sich, weil er hier so völlig fehl am Platze wirkte, wie er da an einer mir recht nahen Wand lehnte. Nachdem ich kurz ausgeruht hatte, erhob ich mich, um ihn mir genauer anzusehen, ihn sogar in die Hände zu nehmen. Ich pochte mehrmals leicht mit dem schweren Blatt auf den Fußboden, woraufhin noch mehr Krümel der mittlerweile sandigen Erde abfielen und sich auf den soliden Holzlatten verteilten. Ich fragte mich, weshalb ein solches Werkzeug in der Küche aufzufinden war, konnte mir aber keinen Reim darauf machen. Zumal nicht, da kurz darauf der junge Knecht Karl und sein Begleiter zurückzukommen schienen, deren Geräusche ich gedämpft vernahm. Ich stellte die Schaufel zurück und setzte mich wieder auf den unbequemen Stuhl, um die Leute zu erwarten. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment trat der junge Karl auch schon ein, und ich hätte mich ungern in der Situation wiedergefunden, mich für das Herumschnüffeln in Sachen verantworten zu müssen, die mich nichts angingen. In seiner Begleitung befand sich ein älterer Mann mit dickem grauen Schnurrbart, der beim Betreten der Küche eine schwarze, verblichene Kappe abnahm und vor sich in Händen hielt. Aus Höflichkeit erhob ich mich, obwohl der Mann sich anschickte, mir trotz meiner sitzenden Position eine der Hände reichen zu wollen. So wie die Küche mir nachträglich liefern konnte, was ich mir vom Haus erwartete, nachdem mir das Schlafzimmer dies verwehrt hatte, lieferte mir der ältere Knecht das, was mir zuerst der junge Karl verwehrt hatte: eine langsame, einfach gestrickte Person von kleinem Geiste und zerfurchtem Antlitz, der Schnurrbart vom Pfeiferauchen gelblich verfärbt. Die Hand Tulplers – denn wer sonst sollte er sein? – war schwielig und ebenfalls glänzend gelb von einseitiger Ernährung und natürlich gleichsam vom Laster der Pfeife.

Nach dem Händedruck kam ansonsten vom Knecht nichts weiter, daher beschloss ich, meinen Namen und den Grund meines Besuches zu nennen, was ihn sichtlich freute; wahrscheinlich, weil er dadurch an der eigenen Person erfuhr, dass sein Handeln etwas bewirkt hatte.

»Sie sind Herr Tulpler?«, fragte ich weiter. Er nickte.

»Ganz recht. Heinz Tulpler, der bin ich. Und ich bin´s gewesen, der das Hubertus-Haus benachrichtigt hat.« Ich bot ihm an, sich zu setzen, ebenso wie Karl. Eine Geste, die vielleicht vermessen hätte wirken können, da sie beide eher hierher gehörten als ich, aber wenn ich es nicht getan hätte, wären sie stehen geblieben wie die Ölgötzen und hätten wahrscheinlich aufgrund der angespannten Situation und meiner »Autorität« den Mund nicht mehr auf bekommen. Ich versuchte also nur, auf ein Ergebnis hinzuarbeiten. Tatsächlich ging zumindest Tulpler auf das Angebot ein, wobei Karl es vorzuziehen schien, weiterhin zu stehen.

»Warum also haben Sie das gemacht?«, begann ich.

Tulpler blinzelte nervös und fragte: »Was gemacht?«

»Sich an unser Institut gewendet. Wegen der Witwe Scheib.«

Der Knecht warf einen Blick in die Höhe, wo in direkter Linie das Schlafzimmer lag, wenn ich mich nicht täuschte. Schwere Besorgnis lag darin. Er knetete seine zerbeulte Kappe heftig.

»Nun ja …«, begann er. »Keiner von uns wusste mehr, was wir machen sollten.« Ich bemerkte, dass auch er über einen ziemlich schwer zu folgenden riedhessischen Dialekt verfügte, den schriftlich wiederzugeben ich mir nicht die Mühe machen wollte, den ich aber, da mir die Gegend des Hessischen Rieds nicht unvertraut ist, bis heute verhältnismäßig gut nachvollziehen kann. Besonders fiel während unseres relativ kurzen Gespräches auf, dass vielfach aus einem s ein sch wird, so wie in fest/fescht. Da diese Mundart jedoch weiterhin nichts zur Sache tut, will ich, zudem dem besseren Verständnis wegen, schlicht seine Formulierungen im Hochdeutschen belassen. »Wir sind einfache Leute hier, wissen Sie, und wenn jemand wegen etwas … sagen wir durchdreht, dann sind uns die Hände dabei gebunden, diesem Jemand Hilfe zukommen zu lassen.«

»Dann sind Sie der Meinung, dass die Witwe verrückt geworden ist?«

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Unterstützung des Autors

(wb)