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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 4-1

Nein! Ich bin nicht verrückt!

Am Tag nach dem Verbrechen kam Louise sehr früh in die Küche. Durch den schrecklichen Tod ihrer Herrin, in deren Diensten sie 15 Jahre lang stand, war die Köchin furchtbar aufgeregt. Der Tag brach an, und die gute Frau entzündete eine Lampe, um etwas sehen zu können. In Gedanken irgendwo bereitete sie mechanisch das Frühstück für die Gäste und Bediensteten des Château vor. Ein Klopfen an der Hintertür ließ sie aufschrecken. Sie ging zur Tür und stieß einen kleinen Schrei aus, als sie die Dreispitze der Gendarmen als Silhouette im schwachen Licht des frühen Morgen sah.

Zwischen den beiden Gendarmen befanden sich zwei ärmlich aussehende Vertreter der Menschheit. Louise hatte die Tür nur ein paar Zentimeter geöffnet, als der Sergent, den sie seit vielen Jahren kannte, einen Schritt vortrat und militärisch salutierte.

»Ich muss Sie um Ihre Gastfreundschaft für uns und für diese beiden Burschen bitten, welche wir vergangene Nacht aufgegriffen haben, als sie in der Nachbarschaft herumvagabundierten.«

Die bestürzte Louise hielt für einen Moment inne.

»Um Himmels willen, Sergent, Sie bringen die Strolche hierher mit? Was erwarten Sie von mir? Wohin mit ihnen? So wie die Dinge stehen, gibt es schon genug Ärger im Haus!«

Der Gendarm Morand lächelte mit desillusionierter Mine eines Mannes, der sehr gut weiß, was Ärger bedeutet, und der Sergent antwortete.

»Wohin mit ihnen? In Ihre Küche natürlich.« Als die Köchin dies ablehnte, fügte er hinzu: »Es tut mir leid, aber es muss sein. Außerdem brauchen Sie keine Angst zu haben. Die Männer sind gefesselt, und wir werden sie nicht allein lassen. Wir werden hier auf den Richter warten, bis er sie vernehmen wird.«

Die Gendarmen stießen ihre erbärmlichen Gefangenen, zwei Landstreicher von düsterer Gestalt, vor sich her.

Louise, die mechanisch den Deckel des Wasserkessels anhob, da dieser überzukochen drohte, schaute sich bei seinen letzten Worten um.

»Der Richter?«, sagte sie. »Monsieur de Presles? Warum? Er ist derzeit hier – in der Bibliothek.«

»Nein?«, rief der Sergent aus, schnellte vom Küchenstuhl empor, auf den er sich gesetzt hatte.

»Er ist hier, das sage ich Ihnen.« Die alte Frau bestand darauf. »Und der kleine Mann, der ihn in der Regel begleitet, ist auch hier.«

»Sie meinen Monsieur Gigou, seinen Gerichtsschreiber?«

»Höchstwahrscheinlich«, murmelte Louise.

»Ich lasse die Gefangenen bei dir, Morand«, sagte der Sergent knapp, »verlier sie mir nicht aus den Augen. Ich werde den Richter aufsuchen. Ich habe keine Zweifel daran, dass er diese Burschen zusammen vernehmen will.«

Der Gendarm nahm Haltung an und salutierte.

»Sie können sich auf mich verlassen, Sergent!«

Es sah so aus, als ob Morands Aufgabe eine leichte sein würde. Die beiden Landstreicher saßen zusammengekauert in einer Ecke der Küche und machten keinerlei Anstalten einer Flucht. Die beiden waren in ihrem Aussehen sehr unterschiedlich.

Der eine war ein großer, kräftig gebauter Mann mit dichtem Haar, welches von einer kleinen Jockeymütze gekrönt wurde. Er war in eine Art Mantel gehüllt, der einmal schwarz gewesen sein könnte, jedoch durch Witterungsunbilden einen grünlichen Farbton angenommen hatte. Stillschweigend nagte er an seinem mächtigen Schnurbart und wirkte auf alle Anwesenden recht düster. Er trug genagelte Schuhe und führte eine robuste Keule mit sich. Er ähnelte mehr menschlicher Wracks, die man an den Straßenecken großer Städte sieht, als einem echten Landstreicher. Statt eines Kragens zierte ein buntes Tuch seinen Hals. Sein Name, den er dem Sergent genannt hatte, lautete François Paul.

Der andere Mann, welcher an der Rückseite eines Bauernhofes entdeckt worden war, als er unter einen Stapel kriechen wollte, war ein typischer Vagabund. Er trug einen alten Filzhut. Ein Schopf aus widerspenstigen roten und grauen Haren wellte sich von seinem Haupt herab, während ein Vollbart seine Gesichtszüge verbarg. Alles, was man sehen konnte, war ein Paar funkelnde Augen, die sich unaufhörlich in alle möglichen Richtungen bewegten. Dieser zweite Mann betrachtete interessiert den Ort, an welchem ihn die Polizisten gebracht hatten. Auf seinem Rücken trug er eine Art Brieftasche, in welcher er verschiedene Gegenstände aufbewahrte. Während sich sein Weggefährte ruhig verhielt, redete dieser Mann unentwegt.

Hin und wieder stieß er seinen Nachbarn an und flüsterte: »Sag mal, woher kommst du? Du bist nicht aus dieser Gegend, oder doch? Habe ich dich schon jemals zuvor gesehen? Jeder hier kennt mich als Bouzille. Mein Name ist Bouzille.« Und sich zum Gendarmen zuwendend sagte er: »Ist es nicht so, Monsieur Morand, dass Sie und ich alte Bekannte sind? Ist dies das vierte oder fünfte Mal, dass Sie mich darben lassen?«

Bouzilles Kumpan blickte ihn kurz an. »Also ist es eine Angewohnheit von dir, da du oft geschnappt wirst?«, fragte er leise.

»Was heißt hier ›oft‹«, antwortete der geschwätzige Kollege, »das hängt davon ab, was du unter diesem Wort verstehst. Im Winter ist es besonders bei miesem Wetter kein schlechtes Geschäft, auf das Kittchen zurückzugreifen. Im Sommer fällt es einem an der frischen Luft eher leichter, jedoch auch zu dieser Jahreszeit gibt es nicht so viele Untaten. Alles, was du willst, findest du auf der Straße. Im Sommer sind die Leute vom Lande nicht so gründlich, während es im Winter ganz anders ist. So haben sie mich heute Abend mit dem Kaninchen von Mutter Chiquard reingelegt, nehme ich an.«

Obwohl der Gendarm das Gespräch nicht sonderlich verfolgt hatte, mischte er sich ein.

»Es ist also an dem, dass du das Kaninchen stehlen wolltest, Bouzille?«

»Wem nützt die Fragerei, Monsieur Morand?«, protestierte Bouzille. »Liege ich richtig in der Annahme, dass Sie mich in Ruhe gelassen hätten, wenn Sie davon nicht überzeugt gewesen wären?«

Bouzillas Weggefährte neigte seinen Kopf und flüsterte kaum hörbar: »Es hätte schlimmer kommen können. Bedenke die Sache mit der Madame dieses Hauses.«

»Ach, das«, sagte Bouzille mit einer Geste vollkommener Gleichgültigkeit. Er wollte darauf nicht weiter eingehen.

Der Sergent kam in die Küche zurück und sagte im strengen Ton: »François Paul, vorwärts! Der Untersuchungsrichter wird dich jetzt verhören.«

Der vom Sergent aufgeforderte Mann ging auf diesen zu, um am Arm abgeführt werden zu können, da die Hände noch gefesselt waren. Bouzille blinzelte dem Gendarmen wissentlich als einzig verbliebenen Vertrauten zu und merkte zufriedenstellend an:

»Viel Glück! Wir werden noch heute frei sein! Nichts wird für eine ›Untersuchungshaft‹ ausreichen.«

Da der Gendarm, welcher genügend Abstand hielt, keine Antwort gab, fuhr der unverbesserliche Schwätzer fröhlich fort: »Eigentlich kommt es mir gerade gelegen, vor Gericht gestellt zu werden, weil die Regierung dir Kost und Logis gibt, und vor allem, da Brives nun über ein wahrlich schönes Gefängnis verfügt.« Er lehnte sich anheimelnd an die Schulter des Gendarmen. »Ah, Monsieur Morand, Sie konnten dies nicht wissen … Sie waren noch zu jung … Warum? Es war noch, bevor Sie in den Staatsdienst traten … Hinter Schloss und Riegel saß man in einem alten Gebäude direkt hinter dem Justizpalast: total verdreckt! Ich glaube, dass es verdreckt war! Und feucht! Einmal, als ich dort für drei Monate von Januar bis April einsaß, bekam ich Rheuma und musste für vierzehn Tage auf die Krankenstation. Mein Gott!« Nach einer kurzen Pause zum Luftholen redete er weiter »Etwas riecht hier ziemlich gut!« Ungezwungen redete er auf die Köchin ein, die mit ihrer Arbeit beschäftigt war: »Könnte vielleicht ein Schlag für mich abfallen, Madame Louise?« Als sie sich mit einem schockierten Gesichtsausdruck umdrehte, fuhr er fort: »Sie brauchen keine Angst zu haben, Madame, Sie kennen mich sehr gut. Viele Male bin ich gekommen und bat Sie um ein paar alte Sachen. Sie haben mir immer etwas gegeben. Monsieur Dollon ebenfalls. Wann immer er ein altes Paar abgetragene Schuhe hatte, waren sie noch gut für mich; und eine Brotkruste ist etwas, was man nicht ablehnt.«

Die Köchin stutzte, von den hervorgerufenen Erinnerungen des armen Landstreichers sichtlich gerührt. Morand zuckte nur mit den Schultern und blickte Bouzille herablassend an.

»Geben Sie ihm etwas, wenn Sie möchten, Madame Louise. Immerhin ist er wohlbekannt. Und meinerseits glaube ich nicht, dass er es getan haben könnte.«

Der Vagabund unterbrach ihn. »Ah, Monsieur Morand, wenn es eine Gelegenheit geben sollte, eine Kleinigkeit hier und dort einzuheimsen, einen herumlaufenden Hasen vielleicht oder Geflügel, was sich einsam fühlt, dann sage ich nicht nein. Aber für alles andere frage ich höflich und bedanke mich, Madame.«

Louise gab Bouzille daraufhin ein großes Stück Brot, welches er sofort in die Tiefen seiner riesigen Tasche verstaute.

»Was glauben Sie, was der andere Kerl Monsieur Paul Pry sagen wird? Er sieht nicht wie ein Stammkunde aus! Nun, wenn ich vor die Herren in Schwarz treten muss, kann ich ihnen nicht widersprechen, und so sage ich immer ›Ja, Monseigneur‹, und sie sind vollkommen zufrieden. Manchmal lachen sie und der Präsident des Gerichts sagt ›Steh auf, Bouzille‹. Dann gibt er mir zwei Wochen, 21 Tage oder einen Monat, je nach Lage des Falles.«

Fortsetzung folgt …

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