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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 3-1

Die Jagd nach dem Mann

Monsieur de Presles, Untersuchungsrichter am Gerichtshof von Brives, begab sich zum Château Beaulieu, nachdem er durch den Wachtmeister der Polizeistation von Saint-Jaury über die Tragödie in Kenntnis gesetzt worden war. Der Richter war ein junger, modisch gekleideter und eher aristokratischer Mann von Welt, dessen Groll es war, mehr an mechanische als an intellektuelle Arbeit gebunden zu sein. Seine Ideen waren im Wesentlichen modern. Sein wichtigstes Bestreben war es, sich so schnell wie möglich die kleine Provinzstadt verlassen zu können, in die man ihn aufgrund von Veränderungen und der Chance auf Beförderung versetzt hatte. Er hatte Brives satt. Es kam in ihm der Gedanke auf, dass ein Verbrechen wie dieses ihm die Möglichkeit bieten könnte, all seinen Spürsinn und seine Schlussfolgerungen aufzubringen, um somit möglicherweise ein anderes Amt in Aussicht gestellt zu bekommen. Nachdem Dollon ihn im Schloss empfangen hatte, erkundigte sich der Richter zunächst, wer zum Zeitpunkt des Verbrechens anwesend war. Mit den Informationen, die er von ihm erhalten hatte, war es überflüssig, Thérèse oder Charles Rambert zu vernehmen, da beide jungen Leute viel zu aufgeregt waren, um auf ernste Fragen zu antworten. Aus diesem Grund brachte man sie vorübergehend in das Haus der Baronne de Vibray. Es war auch klar, dass Monsieur Rambert senior keine interessanten Informationen geben konnte, da er zur Tatzeit nicht anwesend war.

»Erzählen Sie mir genau, wie Sie das Verbrechen entdeckt haben, Monsieur Dollon«, sagte er, bleich und zitternd, als ihn der Verwalter den Gang entlang zum Tatort begleitete.

»Ich ging heute Morgen wie gewohnt zu Madame de Langrune, um ihr einen Guten Morgen zu wünschen und ihre Aufträge für den Tag entgegen zu nehmen, Monsieur«, sagte der Diener. »Ich klopfte an ihre Tür, wie ich es immer getan habe, bekam jedoch keine Antwort. Ich klopfte lauter, doch es antwortete abermals niemand. Ich weiß nicht, warum ich die Tür geöffnet habe, anstatt mich zu entfernen. Vielleicht hatte ich eine Art Vorahnung. Oh, ich werde den Schock nie vergessen, den ich hatte, als ich meine arme liebe Herrin tot am Fußende ihres Bettes in einer Blutlache liegen sah, und mit solch einer schrecklichen klaffenden Wunde an ihrem Hals, dass ich für einen Moment dachte, ihr Kopf sei vom Rumpf getrennt worden.«

Der Wachtmeister bekräftigte die Geschichte des Dieners.

»Der Mord war sicherlich mit besonders schrecklicher Gewalt ausgeübt worden, Monsieur«, äußerte er. »Der Körper weist Male auf, dass das Opfer in höchster Rage geschlagen wurde. Der Mörder muss wie von Sinnen aus reiner Blutgier über Leiche hergefallen sein. Die Wunden sind schockierend.«

»Messerstiche?«, fragte Monsieur de Presles.

»Ich weiß nicht«, sagte der Wachtmeister unsicher. »Euer Gnaden können sich Ihre eigene Meinung bilden.«

Der Richter folgte dem Verwalter in den Raum, wo Dollon darauf geachtet hatte, dass nichts berührt wurde.

Im Zimmer der Madame de Langrune entsprachen die Einrichtung und die allgemeine Ordnung dem Charakter der alten Dame.

Es war groß und dezent mit alten Kleiderschränken, Sesseln, Stühlen und antiquaren Tischen eingerichtet.

Es war offensichtlich, dass sie keine Vorliebe für moderne Mode hatte, bevorzugte es, ihrem eigenen Zimmer einen eher schweren, aber dennoch sehr komfortablen Charakter früherer Tage zu verleihen.

Eine Seite des Raumes war durch das Bett der Marquise vollständig ausgefüllt. Es war groß und stand auf einer Art Empore, auf der ein Teppich in dezenten Farbtönen lag. Am Fußende des Bettes befand sich rechts ein großes Fenster, halb offen trotz der bitteren Kälte. Ohne Zweifel aus hygienischen Gründen. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch aus Mahagoni mit ein paar Gegenständen darauf – eine Schreibunterlage, Bücher … An der Wand hing ein großes Kruzifix, davor stand ein Betpult, dessen Samtbezug durch die Knie der alten Dame bereits sehr abgenutzt war. Schließlich stand etwas weiter entfernt ein kleiner Sekretär mit offenen Schubladen. Papier lag verstreut auf dem Fußboden.

Es gab nur zwei Möglichkeiten, um in den Raum zu gelangen: einerseits die Tür, durch welche der Richter über den Hauptgang im Erdgeschoss hereingekommen ist, andererseits die Verbindungstür des Ankleidezimmers der Marquise. Durch ein Fenster, welches geschlossen war, drang Licht in das Ankleidezimmer.
Der Richter war beim Anblick der Leiche der Marquise schockiert. Sie lag mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken. Der Kopf war zum Bett, die Füße zum Fenster gerichtet. Der Körper war so gut wie nackt. Eine klaffende Wunde verlief fast direkt über der Kehle, sodass Knochen zu sehen waren. Ströme von Blut hatten die spärliche Bekleidung des Opfers durchtränkt. Um den Körper herum hatte sich auf dem Teppich eine Blutlache ausgebreitet.

Monsieur de Presles beugte sich über die tote Frau.

»Was für eine schreckliche Wunde!«, murmelte er. »Der medizinische Befund wird erklären, welche Waffe diese verursacht hat. Aber kein Arzt ist vonnöten, um die Wucht des Schlages oder die Wut des Mörders erkennen zu können.« Er wandte sich dem alten Diener zu, der beim Anblick seiner Herrin seine Tränen kaum zurückhalten konnte. »Ist im Zimmer etwas verändert worden?«

»Nichts, Monsieur.«

Der Richter wies auf den Sekretär mit seinen offenen Schubladen.

»Da ist nichts berührt worden?«

»Nein, Monsieur.«

»Gehe ich richtig in der Annahme, dass Madame de Langrune dort ihre Wertsachen aufbewahrt?«

Der Verwalter schüttelte den Kopf.

»Die Marquise hatte nie einen großen Geldbetrag im Haus gehabt, einige Hundert Franc vielleicht für tägliche Ausgaben, aber sicher nicht mehr.«

»Damit schließen Sie Raub als Motiv für das Verbrechen aus?«

Der Verwalter zuckte mit den Schultern.

»Der Mörder dachte vielleicht, dass Madame de Langrune Geld hier hätte, Monsieur. Aber irgendwie muss er gestört worden sein, weil er die Ringe, welche die Marquise auf die Frisierkommode gelegt hatte, bevor sie ins Bett ging.«

Der Richter ging langsam durch das Zimmer.

»Dieses Fenster war offen?«, fragte er.

»Die Marquise hatte es immer so gewünscht. Sie mochte die frische Luft, die sie bekommen konnte.«

Könnte nicht der Mörder auf diese Weise in das Zimmer gelangt sein?

Der Verwalter schüttelte den Kopf.

»Das ist höchst unwahrscheinlich, Monsieur. Sehen Sie: An den Fenstern ist außen eine Art Gitter angebracht worden. Ich denke, dass dieser Umstand jemanden am Einsteigen hindern würde.«

Monsieur de Presles sah, dass dies so war. Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung überzeugte er sich selbst davon, ob es Spuren an den Möbeln in diesem Raum oder im Ankleidezimmer gab, um aufzuzeigen, dass der Mörder nicht über sie gestiegen ist, außer das Durcheinander auf und um den kleinen Sekretär herum. Schließlich ging er zur Tür, die sich zum Korridor hin öffnen ließ.

»Ah!«, rief er, »das ist interessant!« Mit einem Finger zeigte er auf die Innenverriegelung an der Tür. Die Schrauben waren halb herausgerissen, ein Zeichen, dass versucht worden war, die Tür gewaltsam zu öffnen. »Hat Madame de Langrune ihre Tür jeder Nacht verriegelt?, fragte er.«

»Ja, immer«, antwortete Dollon. »Sie war sehr ängstlich. Wenn ich als Erstes frühmorgens an ihre Zimmertür klopfte und ihr einen Guten Morgen wünschte, hörte ich immer, wie sie einen Riegel beiseiteschob.«

Monsieur de Presles reagierte nicht darauf. Er machte noch einmal einen Rundgang durch das Zimmer und betrachtete in Anbetracht der Situation jeden einzelnen Gegenstand.

»Monsieur Dollon, können Sie mir bitte sagen, wo ich einen Tisch, Schreibzeug und alles andere vorfinden kann, um mit meinen Voruntersuchungen beginnen zu können?«

»Ihr Angestellter erwartet Sie in der Bibliothek, Monsieur«, erwiderte der Diener. »Er hat alles für Sie bereitgestellt.«

»Sehr gut. Wenn es Ihnen passt, werden wir uns mit ihm treffen.«

Fortsetzung folgt …

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