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Fantomas – Kapitel 2-1

Fantômas – Kapitel 2-1

Ein tragischer Beginn

Als seine Droschke am Ende der Pont Royal in Richtung Gare d’Orsay abbog, schaute Monsieur Etienne Rambert auf sein Uhr und stellte wie erwartet fest, dass er noch eine gute Viertelstunde hatte, bevor der Zug, welchen er zu nehmen beabsichtigte, abfahren würde. Er rief einen Gepäckträger herbei und gab ihm die schwere Reisetasche und das Bündel Teppiche, welche sein ganzes Gepäck zu sein schien.

»Wo kann ich mein Gepäck aufgeben, mein Herr?«, fragte er.

Der Gepäckträger führte ihn durch die berühmte vertäfelte Halle des Gare d’Orsay, und M. Etienne Rambert überzeugte sich persönlich davon, dass sein Koffer dem Zielbahnhof Verrières zugeordnet wurde, der Station, an welcher er aussteigen musste, um zum Château Beaulieu zu gelangen.

Noch immer vom Gepäckträger begleitet, der eine respektvolle Bewunderung infolge eines Respekt einflößendes Tones für ihn empfand, in dem er von mehreren Bahnbediensteten Informationen einforderte, ging Monsieur Etienne Rambert zum Fahrkartenschalter und löste ein Billet für die 1. Klasse. Er verbrachte einige Minuten am Bücherverkaufsstand, wählte eine stattliche Anzahl von illustrierten Zeitungen aus, schloss damit seine letzten Reisevorbereitungen ab und wandte sich nochmals an den Gepäckträger.

»Wo finde ich den Zug nach Luchon?«, fragte er. Als der Mann nur eine vage Geste machte und etwas Undeutliches knurrte, fügte er hinzu: »Gehen Sie voran, ich werde Ihnen folgen.«

Es war bereits halb neun abends, und der Anzeigetafel konnte man die Abfahrtszeiten der Hauptstreckenzüge entnehmen. Monsieur Etienne Rambert eilte vorwärts und erreichte jenen Bahnsteig, von welchem alle Züge abfuhren und der Gepäckträger mit seinem Reisegepäck bereits wartete.

»Nehmen Sie den Expresszug, Monsieur?«

»Nein, den Personenzug, mein Herr!«

Der Gepäckträger zeigte sich etwas überrascht, aber machte dazu keine weiteren Bemerkungen.

»Bevorzugen Sie die Zugspitze oder das Zugende?«

»Vorzugsweise das Zugende.«

»1. Klasse, nicht wahr?«

»Ja, 1. Klasse.«

Der Gepäckträger, der für einen kurzen Moment stehen geblieben war, hob die schwere Reisetasche wieder auf.

»Dann gibt es nicht so viele Möglichkeiten. Es gibt nur zwei 1. Klasse-Waggons, und die befinden sich in der Mitte des Personenzuges.«

»Ich nehme an, dass es sich dabei um Durchgangswagen handelt. Ist dies so?«, fragte Etienne Rambert.

»Ja, Monsieur. Es gibt bei den Hauptstreckenzügen kaum noch andere, besonders bei der 1. Klasse.«

In der stetig zunehmenden Menschenmasse hatte Etienne Rambert einige Schwierigkeiten dem Gepäckträger zu folgen. Der Gare d’Orsay hatte nur wenig vom Reiz anderer Bahnhöfe, welche ohne Frage eine gewisse Faszination auf jene einfallsreichePersonen ausüben, die beim Anblick der Gleise an ferne Länder und unbekannte Geheimnisse denken. Es ist nicht weniger laut als auf den anderen Bahnhöfen auch, obwohl die Strecke zwischen Austerlitz und Orsay vollständig elektrifiziert ist. Darüber hinaus gibt es keine klare Trennung zwischen Hauptstrecke und Vorortbahn.

Auf der rechten Seite des Bahnsteiges stand der Personenzug in Richtung Luchon, den Etienne Rambert nach Verrière über Brives nehmen wollte. Auf der linken Seite befand sich eine Vorortbahn nach Juvisy.

Sehr wenige Menschen stiegen in den Zug nach Luchon ein, der Vorstadtzug hingegen wurde voller und voller.

Der Gepäckträger, der Monsieur Etienne Rambert lotste, setzte das Reisegepäck am Trittbrett eines 1. Klasse-Waggons ab.

»Es scheint niemanden mehr zu geben, der hier einsteigt, Monsieur. Wenn Sie jetzt einsteigen möchten, können Sie sich ein eignes Abteil auswählen.«

M. Etienne Rambert ging auf den Vorschlag ein. Kaum hatte er einen Fuß in den Gang gesetzt, kam der Schaffner, um seine Dienste anzubieten, und witterte ein großzügiges Trinkgeld.

»Sie wollen wirklich den Zug um 20:50 Uhr nehmen, Monsieur?«, war seine erste Anfrage. »Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie nicht einen Fehler machen?«

»Nein«, erwiderte Etienne Rambert. »Warum?«

»Sehr viele Passagiere der 1. Klasse machen einen Fehler«, erklärte der Mann, »und verwechseln diesen Zug mit dem Express um 20:45 Uhr.«

Während er sprach, nahm der Schaffner das Gepäck vom Gepäckträger entgegen, der auf dem Bahnsteig geblieben war. Nachdem er für seine Mühen großzügig von M. Rambert belohnt worden war, eilte er davon, um seine Dienste anderen Reisenden anzubieten.

»Der Zug um 20:45 Uhr ist ein Express«, erkundigte sich Monsieur Rambert.

»Ja«, antwortete der Schaffner. »Der Zug fährt durch ohne an den kleinen Bahnhöfen anzuhalten. Dadurch erreicht er Luchon drei Stunden früher. Er wird am gegenüberliegenden Bahnsteig bereitgestellt.« Er deutete durch das Fenster der Tür auf den erwähnten Zug, in welchem bereits einige Reisende Platz genommen hatten.

»Wenn Sie es vorziehen, den Express zu nehmen, dann gehen Sie, Monsieur«, fuhr er fort. »Es ist noch Zeit dafür. Sie sind berechtigt, einen Zug Ihrer Wahl zu nehmen, da Sie ein 1. Klasse-Billet haben.«

Aber Etienne Rambert lehnte den Vorschlag nach einem Moment der Überlegung jedoch ab.

»Nein, ich nehme lieber den Personenzug. Wenn ich den Expresszug nehme, müsste ich in Brives aussteigen. Und bis zu meinen Reiseziel Saint-Jaury wären es noch zwölf oder dreizehn Meilen. Wohingegen der Personenzug in Verrières halt, wo ich morgen früh ankommen werde, wie ich es bereits telegrafiert habe.«

Er ging ein Stück den Gang entlang und versicherte sich, dass einige Abteile noch ziemlich leer waren, und wandte sich an den Schaffner.

»Schauen Sie, mein Herr«, sagte er, »ich bin schrecklich müde und habe vor, ein wenig zu schlafen. Folglich möchte ich gern allein sein und nicht gestört werden. Wo könnte ich dies am besten tun?«

Der Mann hatte verstanden. Monsieur Etienne Rambert Anfrage bezüglich eines Platzes, wo er ruhig schlafen konnte, war eine indirekte Zusage für ein Trinkgeld, wenn ihn wirklich niemand störte.

»Wenn Sie möchten, können Sie dies hier tun, Monsieur«, antwortete der Mann. »Sie können die Jalousien herunterlassen, und ich werde sicher in der Lage sein, weiteren Passagieren andere Plätze anzubieten.«

»Gut«, sagte Monsieur Rambert, sich dem zugewiesenen Abteil hinwendend. »Ich werde bis zur Abfahrt des Zuges noch eine Zigarre rauchen und mich danach sofort schlafen legen. Übrigens, mein Herr, da Sie so zuvorkommend sind, würden Sie mir die Güte erweisen und mich morgen früh rechtzeitig vor der Ankunft in Verrières wecken. Ich bin ziemlich müde und glaube, dass ich nicht fähig sein werde, aufzuwachen.«

Der Schaffner tippte sich an die Mütze. »Sie werden vollkommen zufrieden sein, Monsieur, und ohne die geringste Angst schlafen können. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

»Sehr gut.«

Als sein Gepäck und die Teppiche verstaut worden waren, und er es sich auf dem Sitzplatz bequem gemacht hatte, wiederholte Monsieur Etienne Ramber seine Bitte, da er ein erfahrener Reisender war und wusste, dass man sich erst auf Versprechungen von Bediensteten verlassen konnte, wenn man dies tat.

»Ich kann mich auf Sie verlassen? Ich darf schlafen, wie ich möchte, und Sie wecken mich kurz vor Verrières?« Um sich zu versichern, dass der Schaffner seiner Bitte nachkommen würde, ließ er einen Franc in dessen Hand gleiten.

Als er allein war, setzte Monsieur Rambert seine Vorbereitungen für die Nacht fort. Er zog vorsichtig die Jalousien an der Tür und den Fenstern zum Gang hin herunter und dimmte das elektrische Licht ein wenig. Um die letzten Züge seiner Zigarre in Ruhe zu genießen, öffnete er das Fenster der anderen Tür, lehnte sich mit seinen Ellernbogen auf sie und beobachtete die letzten Vorbereitungen, welche die Reisenden am und im Expresszug gegenüber trafen.

Die Abfahrt eines Zuges ist immer ein malerischer Anblick, und Monsieur Rambert beugte sich neugierig aus dem Fenster, um von seinem günstigen Standort aus sehen zu können, wie sich die Fahrgäste in den beiden anderen Abteilen bequem gemacht hatten.

Es waren nicht viele Menschen im Zug. In der Tat wurde zu dieser Jahreszeit die Verbindung nach Brives und Luchon kaum genutzt. Wenn die Anzahl der Passagiere im Expresszug dafür kein Kriterium wäre, könnte Etienne Rambert durchaus davon ausgehen, dass er der einzige Fahrgast im Personenzug sein würde. Aber es war nicht die Zeit für solche Beobachtungen und Überlegungen. Auf dem Bahnsteig, an welchem der Expresszug stand, beeilten sich die Leute sich zu verabschieden. Die Fahrgäste stiegen in die Waggons, und die Freunde, die gekommen waren, um ihnen eine gute Reise zu wünschen, standen allein auf dem Bahnsteig. Das Geräusch der Sicherheitsverriegelungen, ausgelöst durch den Schaffner, und das Rattern der Verkaufswagen, welche entlang des Zuges rollten, waren zu hören.

»Kissen! Teppiche! Süßwaren! Zeitungen!«

Dann ertönten der Pfiff des Schaffners, der schrille Ton der E-Lok, und dann, erst langsam, dann stetig schneller werdend fuhr der Express vom Bahnsteig ab, nahm weiter Geschwindigkeit auf und tauchte auf dem Weg nach Austerlitz in den Tunnel ein.

In der Zwischenzeit vollbrachte der Schaffner des Personenzuges ein kleines Wunder. Fest entschlossen, dem Wunsch seines Passagiers nachzukommen, behalf er sich, ohne sich dabei übermäßig in Verlegenheit zu bringen und ohne jegliche Zweifel aufkommen zu lassen, indem er diskret andeutete, dass der Waggon von Monsieur Rambert vorbestellt worden war, sodass dieser Herr mit einer völlig störungsfreien Nacht rechnen konnte.

Nachdem der Express den Bahnhof verlassen hatte, fuhr der Personenzug einige Minuten später ebenfalls langsam los und verschwand im Tunnel.

***

Als sich im Château Beaulieu der junge Charles Rambert gerade angezogen hatte, erklang ein sanftes Klopfen an der Tür seines Zimmers.

»Es ist Viertel vor fünf, Charles. Zeit, um aufzustehen!«

»Ich bin bereits wach, Thérèse«, antwortete Charles Rambert voller Stolz. »Ich werde in zwei Minuten fertig sein.«

»Was? Bereits auf?«, rief das Mädchen auf der anderen Seite der Tür aus. »Fantastisch! Ich gratuliere dir. Ich bin auch bereits fertig und werde im Speisezimmer auf dich warten. Komm herunter, sobald du angekleidet bist.«

»Alles klar!«, antwortete der junge Mann.

Er vergeudete keine Zeit für seine Toilette, da es in seinem Zimmer nicht sonderlich warm und zu dieser frühen Morgenstunde noch ziemlich dunkel war. Er nahm seinen Leuchter in die Hand, öffnete vorsichtig die Tür, um keinen Lärm zu machen, ging auf Zehenspitzen über den Flur und die Treppe hinunter und traf Thérèse wie verabredet im Speisezimmer an. Das Mädchen war bereits eine versierte Haushälterin und hatte während des wartens auf den jungen Burschen ein kleines Frühstück hergerichtet.

»Lass uns schnell frühstücken«, schlug sie vor. »Es schneit heute Morgen nicht, und wenn du magst, können wir zum Bahnhof laufen. Wir haben viel Zeit und der Spaziergang wird uns gut tun.«

»Es wird uns auf jeden Fall aufwärmen«, erwiderte Charles Rambert. Er war nicht ganz wach, aber er saß neben Thérèse und nahm das Essen, was sie gemacht hatte, in Augenschein.

»Weißt du, es ist sehr schön von dir, so pünktlich aufzustehen«, bemerkte Madame de Langrunes Enkelin. »Wie hast du das hinbekommen? Letzte Nacht hattest du noch Bedenken, es verschlafen zu können.«

»Das war kein Problem für mich«, antwortete Charles Rambert. »Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.«

»Aber ich versprach doch, an deiner Tür zu klopfen, sodass du ohne Sorge hättest schlafen können.«

»Das ist gut gemeint, aber um dir die Wahrheit zu sagen, Thérèse, ich wurde immer aufgeregter und angespannter bei den Gadanken an Papa, der heute Morgen kommt.«

Sie frühstückten fertig und Thérèse stand auf.

»Wollen wir los?«

»Ja.«

Thérèse öffnete die Eingangstür, und die beiden jungen Leute gingen die Treppe zum Garten hinunter. Das Mädchen hatte sich einen großen Mantel über die Schultern geworfen und atmete mit großem Entzücken die frische Morgenluft ein.

»Ich liebe es, in den frühen Morgenstunden auszugehen«, erklärte sie.

»Nun, ich mag dies überhaupt nicht«, gestand Charles Rambert mit typischer Aufrichtigkeit ein. »Du meine Güte, wie kalt es ist! Und es ist immer noch stockdunkel!«

»Ich bin sichr, du bist nicht so ängstlich«, sagte Thérèse ein wenig neckisch.

Charles Rambert machte eine nervöse Bewegung, aus Ärger und Überraschung zugleich. »Erschrocken? Was denkst du über mich, Thérèse? Wenn ich nicht gern in den frühen Morgenstunden ausgehe, ist es wirklich nur, weil es kalt ist.«

Sie lachte über ihn, während sie den Rasen zu den Nebengebäuden überquerten, durch die sie vorhatten, auf die Hauptstraße zu gelangen. Als beide die Ställe passierten, stießen sie auf einen Pferdepfleger, der gemächlich einen alten geschlossenen Einspänner aus dem Wagenschuppen schob.

»Nur keine Eile, Jean«, rief Thérèse aus, als sie ihn begrüßte. »Wir sind auf dem Weg zum Bahnhof. Die einzige wichtige Sache ist die, dass du dort sein solltest, um uns hierher zurückzubringen.«

Der Mann tippte an seinen Hut, und die beiden jungen Leute gingen durch das Parktor auf die Landstraße.

Fortsetzung folgt …

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