Major Gripps letzter Bericht
Oktober 1865. Mein Name ist Major Benjamin Gribb. Ich weiß, dass ich bald sterben werde. Aus diesem Grunde halte ich es für meine letzte Pflicht, einen Bericht über die Ereignisse abzufassen, die dazu geführt haben, dass Mr. Quint und ich an diesen sonderbaren, ja unerklärlichen Ort gelangten. Ich glaube nicht, dass es uns je gelingen wird, von hier wieder wegzukommen. Vielleicht findet jedoch eines Tages jemand einen Weg hierher. Demjenigen mögen diese Aufzeichnungen gewidmet sein.
Wir befanden uns auf dem Rückmarsch. Der Krieg, der Bruder gegen Bruder aufeinander hetzte, war endlich vorbei. Am frühen Morgen jenes sonnigen, doch kalten Tages sattelten meine Männer und ich die Pferde, um uns in unsere Heimat zurück zu begeben. Die Zeit des Kämpfens war vorüber. Dennoch lagen auf den Schlachtfeldern noch immer die Leichen unzähliger Soldaten, als Zeugen eines noch nie da gewesenen Blutrausches. Der Gestank der Verwesung wurde durch den Wind über das gesamte Land getragen. Trotzdem erschien alles wie ein Traum. Kein Kanonendonnern, keine knallenden Schüsse. Die Welt war erfüllt vom Gesang der Vögel und vom Rauschen der Blätter, doch auch das Krächzen der Raben und Krähen, die sich an den toten Leibern labten, hallte durch die Natur. Erst gestern kämpfte ich noch mit blutigem Säbel gegen unseren Feind. Und nun, an diesem neuen Tag, stand ich auf einem Hügel und ließ meinen Blick über die friedlichen Wälder und Wiesen schweifen, die im Licht der goldenen Sonne wundervoll leuchteten.
»Wir wären dann soweit«, hörte ich eine Stimme hinter mir.
Ich wandte mich um und erblickte Johnson, dessen Gesicht bleich und ausgezerrt wirkte. Sein rechter Arm war verbunden und blutete noch immer. Während unseres letzten Gefechts hatte er eine Kugel abbekommen. Er war gerade mal achtzehn Jahre alt und wollte noch in diesem Winter heiraten. Danach wollte er die Farm seiner Eltern weiterführen.
»Dann gibt es nichts, was uns noch aufhalten kann«, erwiderte ich fröhlich.
Johnson grinste erschöpft.
Meine Einheit bestand aus vier Mann. Vor etwa sieben Monaten zählten wir noch einhundert. Zu viele junge Menschen starben für nichts und wieder nichts. Doch das Schlachten war vorüber. Nun ging es darum, den Hinterbliebenen zu zeigen, dass der Tod ihrer Söhne und Enkel eine bessere Zukunft für uns alle ebnete.
Mit diesen schwerwiegenden Gedanken ging ich zurück ins Lager. Alle Männer standen neben ihren gesattelten Pferden und warteten auf den Befehl aufzusitzen. Johnson hielt mein Pferd am Zügel.
Wenige Minuten später verließen wir diese Gegend und damit auch unsere gefallenen Freunde, deren steife Körper von Fliegen umschwirrt wurden.
Es war ein schweigsamer Ritt.
Schließlich erreichten wir Tristmond. Eine wunderbare Stadt, die nun teilweise zerstört ist. Es war später Nachmittag. Ich wollte meine Männer bereits hier ihr Nachtquartier aufschlagen lassen. Doch meine Jungs schüttelten ihre Köpfe.
»Wir wollen heim, Sir«, sprach Johnson für sie. »Und zwar so schnell wie möglich.«
Also ritten wir weiter.
Doch nach etwa einer Stunde reichte das Licht bei Weitem nicht mehr aus, um eine ungefährliche Weiterreise gewährleisten zu können.
Ich überlegte mir gerade, dass es besser für uns alle sei, im Freien zu kampieren, als Mr. Quint, der sich im Kampf als hervorragender Scharfschütze erwiesen hatte, an mich heranritt. Vor dem Krieg hatte er ein Medizinstudium begonnen und hoffte, dieses bald wieder aufnehmen zu können.
»Major Gripp, Sir«, sagte er. »Ich glaube, dass ich gerade eine Art Turm gesehen habe, Sir. Vielleicht befindet sich dort eine kleine Ortschaft, wo wir übernachten können.«
»Einen Kirchturm?«, fragte ich erstaunt.
»Das konnte ich nicht so genau erkennen, Sir«, erwiderte Quint auf seine ehrliche Art und Weise. »Aber im Licht der untergehenden Sonne sah ich, dass es sich auf jeden Fall um ein Bauwerk handeln muss, Sir.«
»Ich dachte immer, um Tristmond herum existiert außer Wald und ein paar Sümpfen nichts«, sagte Johnson, der unser Gespräch mit angehört hatte.
»Mir ist dergleichen auch nicht bekannt«, pflichtete ich ihm bei.
»Aber da war bestimmt etwas, Sir«, beharrte Quint auf seiner Behauptung.
»In welcher Entfernung?« hakte ich nach.
»Etwa fünfhundert Meter, Sir«, erwiderte Quint sogleich. »Genau westlich von uns. Die Sonne stand direkt dahinter. Daher fiel es mir auch auf, Sir.«
»Also gut«, sagte ich. »Versuchen wir unser Glück. Im besten Fall haben wir ein Dach über dem Kopf. Reiten Sie voran, Mr. Quint. Sie wissen, wo sich dieser Turm befindet.«
Eine Zeit lang ritten wir durch ein unübersichtliches Stück Wald, bei dem mir, um ehrlich zu sein, nicht ganz geheuer war. Die eng zusammenstehenden Bäume sowie die willkürlich dazwischen wachsenden Sträucher ließen diesen Ort als sehr geeignet für einen Hinterhalt erscheinen. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, es herrschte bei unserem Ritt eine eindringliche Ruhe, die jedoch nicht dazu angetan war, meine Anspannung zu lösen.
Schließlich, nach etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten erreichten wir das, was Mr. Quint für einen Turm gehalten hatte.
Es war eine breite Lichtung, in deren Mitte sich eine Art Bauwerk senkrecht nach oben reckte. Gerade als wir den Ort betraten, befand sie die rot glühende Sonne exakt hinter diesem, um mit den Worten Mr. Quints zu sprechen, Turm, sodass sie in genau zwei leuchtende Halbkugeln geteilt wurde. Der Schatten, der dabei entstand, deutete wie der Zeiger einer Uhr direkt auf uns. Ob dies bereits eine Art Vorzeichen sein sollte?
»Es ist wohl nicht das, was du vermutet hast, Quint«, machte sich Larson über ihn lustig. Larson war der Kräftigste von uns. Früher schlug er sich als Gewichtheber und Boxkämpfer durchs Leben. Seine Großeltern stammten, wie er mir einmal erzählte, aus Dänemark. Er konnte leicht verletzend sein, setzte sich zugleich aber für seine Kameraden ein, als gehörten sie zu seiner eigenen Familie.
Mr. Quint zog ein Gesicht wie ein nasses Leintuch.
»Und trotzdem, einen besseren Ort zum Übernachten hätten wir nicht finden können«, meinte Greg überaus optimistisch. Wenn er wieder nach Hause kam, wollte er versuchen, Schriftsteller zu werden. Er trug ein dickes, zerfledertes Notizbuch mit sich herum, in das er allabendlich seine Erlebnisse und Eindrücke aufschrieb. Bereits vor dem Krieg hatte er mehrere Kurzgeschichten herausgebracht. Allerdings wirkte er seit einiger Zeit bleich und eingefallen und zeigte gelegentlich erste Anzeichen von Schwindsucht.
»Ich gebe Ihnen durchaus Recht, Mr. Thomson«, erwiderte ich. »Die Lichtung ist wundervoll. Bestimmt gelingt es uns, in wenigen Minuten hier ein Lagerfeuer zu errichten.«
Ich gab das Zeichen zum Absitzen.
Es dauerte nicht lange, bis Mr. Quint und Johnson das Holz für ein großartiges Feuer aufhäuften. Als es die Lichtung mit seinem tanzenden Schein erhellte, trat ich näher an das heran, was Quint zuvor für einen Turm gehalten hatte.
»Was meinen Sie könnte das sein?«, fragte Greg, der sich zu mir gesellte und dabei sein Notizbuch wie eine Geliebte an sich gedrückt hielt.
Das Gebilde offenbarte sich als eine Art Säule, deren Fundament aus einem breiten, glatten Quader bestand. Die Säule selbst zeigte ebenfalls eine quadratische Form. Soweit wir das erkennen konnten, bestand ihre Spitze aus einer kleinen Pyramide, die für Mr. Quint aus der Ferne wie das Dach eines Turmes gewirkt haben musste. Im weitesten Sinne erinnerte mich dieses Konstrukt an eine Art Obelisk. Allerdings konnte ich nicht beurteilen, aus was für einem Material diese Säule bestand. Sie war glatt und reflektierte ein undefinierbares Schimmern. Als ich dagegen klopfte, so hörte ich von innen einen hohlen Widerhall. Der Quader und die darauf positionierte Säule ragten keineswegs gerade aus dem Boden. Vielmehr befanden sich beide in einer seltsamen Schieflage, ganz ähnlich eines Baumes, der durch den Wind gebeugt wurde.
»Möglicherweise ein alter Ritualplatz«, meinte ich.
»Indianer, Sir?«, fragte Greg vorsichtig.
»Das sieht mir keineswegs indianisch aus«, erwiderte ich. »Es gibt allerdings Theorien, die behaupten, dass Amerika bereits vor den Indianern besiedelt war.«
»Eine frühere Zivilisation, Sir?« Offenbar wollte Greg Genaueres darüber erfahren.
»Nur Vermutungen, Greg«, erwiderte ich.
Greg nickte nachdenklich.
Später sah ich, wie er etwas in sein Notizbuch schrieb.
Nach dem Essen saßen wir noch einige Zeit um das Feuer herum, wobei alle davon erzählten, was sie nach dem Krieg vorhatten. Ich ließ dabei etwas irischen Whiskey herumgehen, was die unterschiedlichen Zukunftsträume noch rosiger werden ließ. Greg begann sogar ein Lied zu singen, in das wir alle mit einstimmten.
Irgendwann in der Nacht wurden unsere Augenlider schwer wie Blei. Als ich mich unter meine Decke verkroch, betrachtete ich noch für eine Weile den sternklaren Himmel, der sich über mir wie ein dunkler Fluss voller leuchtender Perlen ins Unermessliche ausdehnte.
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