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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.6

Das Komplott der Eisernen – Teil 6

Dorkas schob sich mühsam, die eine Schulter vorgeschoben, die Treppe empor und kam sich dabei vor wie eine Bleikugel, die mit Gewalt in den Lauf eines Vorderladers gerammt wird. Von vorn und von hinten kamen schleifende Geräusche, hervorgerufen durch allzu enge Berührung seiner Kleidung mit der Wand.

Der Chinese, der die Stufen leichtfüßig bewältigt hatte, wartete oben.

Ächzend drückte sich Dorkas wie eine schwitzende menschengestaltige Zahnpasta aus der Tube in den kleinen Raum. Ein Glasfenster an der Decke war die einzige Lichtquelle. Die Wände waren mit Regalen vollgestellt, die sich unter Kartons und Kisten bogen. Was noch an freiem Platz vorhanden gewesen war, wurde durch zwei Tische eingenommen, zwischen denen sich Dorkas nur mit Schwierigkeiten bewegen konnte.

»Bitte der Herr, mögen Sie mein Kabinett der Freunde wohlwollend betrachten«, sagte der Chinese, um im nächsten Moment wieder in den Zustand einer sehr bedächtigen Holzstatue zu versinken.

Dorkas dankte und schaute sich vorsichtig um. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das dämmrige Licht und er erkannte, dass jede Form von Antiquität angeboten wurde, sofern sie nur in den Raum passte.

Es gab kleine kambodschanische Buddhastatuen, indische Tempeltänzerinnen, fränkische Urnen, ägyptische Mumienporträts und antike griechische Kleinplastiken. Das wenigste, wenn überhaupt irgendetwas, konnte auf legalem Wege in diesen Raum gelangt sein. Bei dem Gedanken, sich strafbar zu machen, wenn er nicht sofort schreiend auf die Straße lief und die Polizei verständigte, musste Dorkas hart schlucken. Dann aber besiegte seine Neugier das schlechte Gewissen und er vertiefte sich in den Anblick der ausliegenden Gegenstände. Selbst wenn er sein gesamtes Vermögen veräußern würde, wäre er nicht in der Lage gewesen, als nur die kleinste dieser Kostbarkeiten zu erstehen.

 

Es war Zeit zu gehen, um in dem Chinesen nicht den falschen Eindruck zu erwecken, man habe Kaufinteresse. Dorkas hatte für den heutigen Tag genügend Komplikationen mit den ehrenwerten Bewohnern des Reiches der Mitte gehabt. Mit Bedauern riss er sich von dem Fragment einer assyrischen Keilschrifttafel los und schob sich zur Tür. Dann hielt er an und wandte sich einem Regal zu. Es war eine instinktive Handlung, für die Dorkas selbst keine Erklärung fand. Vielleicht folgte er einem unbewussten Impuls. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass das Objekt, dem er zustrebte, eine schäbige Kiste mit dem Aufdruck einer Apfelsinenmarke war und daher die Hoffnung erweckte, einen ähnlich preiswerten Inhalt zu bergen, sodass sich Dorkas mit einem kleinen Kauf aus dem Staub machen konnte.

Er griff nach der Kiste, legte sie auf den Tisch und bemerkte eine leichte Bewegung im Hintergrund, als hätte sich der Chinese zu einer kommentierenden Geste genötigt gesehen. Oder war es ein Zeichen der Abwehr? Des Unmutes? Dorkas zögerte, dann griff er zu und zog das graue Packpapier zur Seite, das den Kisteninhalt verbarg. Mit einem erschrockenen Quietschen sprang er zurück, das heißt, er wollte zurückspringen, rammte sich aber nur die hinter ihm befindliche Tischkante in seinen Allerwertesten.

Aus der Kiste starrten ihn die Augenhöhlen eines Totenschädels an. Der Anblick kam so unerwartet, dass Dorkas eine Weile brauchte, um sich zu sammeln. Dann erst bemerkte er die braune Farbe der Knochen, die auf eine lange Lagerung im Erdboden hindeutete. Und erst danach versetzte ihn der Schädel in Erstaunen.

Der Unterkiefer fehlte, obwohl die Knochen in bestem Zustand waren. Also erschien es Dorkas wahrscheinlich, dass der Schädel ohne Unterkiefer bestattet worden war. Das allerdings mochte ganz tröstlich sein, denn der Oberkiefer an sich wirkte schon furchterregend genug. Anstelle der Eckzähne saßen zwei Reißzähne im Kiefer, die dort nicht hingehörten, sondern von der Natur einem Jaguar zugedacht gewesen waren.

Seltsamerweise waren diese Raubtierzähne in den Kiefer eingewachsen, ein medizinisches Phänomen, das sich Dorkas nicht erklären konnte. Wenn er sich nun allerdings versuchte vorzustellen, wie dieser Mensch gewirkt haben musste, mit diesen riesigen, glänzenden Hauern, die unter seiner Oberlippe hervorragten, dann überlief ihn ein Schauer. Dieser Mann – Dorkas war sicher, dass es sich nur um einen Mann gehandelt haben konnte – hatte kein normales Leben unter normalen Menschen führen können. Er war gezeichnet, zugleich herausgehoben und vereinzelt. Ob er ein Krieger gewesen war? Ob sich vielleicht eine Linie zu den Jaguarkriegern der Azteken ziehen ließ? Oder war er möglicherweise ein Priester eines Jaguarkultes gewesen, der es auf sich nehmen musste, dem Tiergott schon in der Menschenwelt möglichst ähnlich zu werden? Die Olmeken fielen Dorkas ein, deren Statuen die seltsamen Babygesichter einer Mischung aus Mensch und Raubtier trugen und daran sofort erkennbar waren. Dann blitzte in ihm für eine Sekunde eine Vision auf: ein Mann, auf dessen Haut das Muster eines Jaguars eintätowiert war, ein Gesicht mit breiter flacher Raubtiernase, für deren Form eine Operation verantwortlich war, ebenso wie für die künstlichen Tasthaare, die über der Oberlippe des Mannes weit über die Wangen standen.

 

Dorkas zuckte zusammen, als sich die Bilder überschlugen, sich komprimierten, durch seinen Kopf rasten, ohne dass er sich zur Wehr setzen konnte: Brütende, schwüle Hitze, die Plattform einer Pyramide, das Gemurmel einer wartenden Menge, der Geruch nach Kakteenschnaps und Bier, nach Blut, nach betäubenden Dämpfen, schrille Töne von Flöten, das Prasseln von Trommeln, patschende nackte Füße eines taumelnden nackten Mannes, der die Plattform überquerte, das Raunen der Menge, als sie ihn sieht, ein Schrei, der sich zum Gebrüll steigert, als ein zweibeiniger Jaguar aus dem Schatten einer Hütte tritt, auf den Taumelnden zugeht, ihn ergreift und ihm zwei riesige, grell in der Sonne glitzernde Zähne in den Nacken rammt – wovon der Körper schlaff wird und auf den Boden sinkt und von Helfern genommen und nach vorne geschleift wird, wo an der Treppe zur Plattform andere Helfer über blutverkrusteten Stufen warten und aus der Menge ein Geheul der Ekstase aufsteigt, Äonen entfernt von jedem menschlichen Laut, und der zweibeinige Jaguar, der Hohepriester, der Lenker des Kultes, triumphierend die Arme hebt, während ihm das Blut von den Reißzähnen auf die gefleckte Brust tropft und sie dunkel färbt.

Das alles war so echt, so lebendig und damit furchterregend, dass Dorkas immer noch den Weihrauchduft in der Nase hatte, auch als er schon wieder bewusst auf das gegenüberliegende Regal schaute und sich am Anblick einer kleinen ptolemäischen Venus festklammerte. Er bemerkte, dass seine Fingerspitzen auf dem Knochen gelegen hatten, und riss sie hoch, als könnte er sich verbrennen. Für Dorkas schien sich ein Kreis zu schließen oder sich eine hässliche Erfahrung zu wiederholen. Nicht allein diese fürchterliche Treppe erinnerte ihn an seinen Besuch in Wales, nein, auch diese Bilder, die sich seinen Kopf als Nistplatz aussuchten, die sich ihm aufdrängten und ihn beherrschten wie eine Besatzungsmacht glaubte er von dort zu kennen. Am liebsten wäre er aus diesem fürchterlichen Kabinett verschwunden, aber dafür war es zu spät.

Jetzt halfen nur noch tiefes Durchatmen und der Versuch, diesen Gegenstand in der Kiste mit der Objektivität des Naturforschers zu betrachten.

 

Die Augenhöhlen des Schädels waren mit einem Goldrand eingefasst. Die umlaufenden Verzierungen konnte Dorkas sofort als typisch mittelamerikanisch einstufen. Die Bilder, die eben noch durch sein Hirn geblitzt waren, passten in dieses Schema. Es waren keine Blähungen seines übererregten Unbewussten, sondern Echos, letzte Funken eines fremden Geistes, die auf irgendeine Art gespeichert ihren Weg in sein Nervensystem gefunden hatten. Dorkas blies die Backen auf. Der Gedanke gefiel ihm nicht. Vorsichtig legte er die Fingerspitzen auf die glatte Schädeldecke und wartete. Nichts geschah, und das leise Räuspern, das er vernahm, war sehr real und kam von dem Chinesen im Hintergrund.

Vom oberen Teil der Goldränder ragte ein Stift nach unten, an dem eine längliche, ovale Scheibe befestigt war. Dorkas brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass hier die Pupille einer Raubkatze nachgeahmt werden sollte.

 

Wie gern hätte er sich nun in seiner Londoner Wohnung in einen Sessel gesetzt, einen Tee getrunken und über diesen seltsamen Schädel nachgedacht – über die Riten, die sich aus seinem Zustand ablesen ließen, über die Menschen, die auf diese Art und Weise ihrem Glauben oder ihrer Furcht oder ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben hatten. Ganz ohne Zweifel wäre er zu großartigen Ergebnissen gekommen und hätte dabei mehrere Kannen köstlichen Assam-Tees zu sich genommen.

Aber die Verhältnisse waren nicht so, sie waren beengt, der Tisch hinter ihm drückte unerfreulich und etwas allzu aufdringlich in seine Hinterpartie und der chinesische Ladenbesitzer wurde im Hintergrund wieder von einem Räuspern befallen.

Mit einiger Überwindung ergriff Dorkas den Schädel, drehte ihn und schaute in die Höhlung. Vor Erstaunen hätte er die wertvolle Antiquität fast fallen gelassen. Dort, wo das Gehirn gewesen war, befand sich ein Netz aus hauchfeinen goldenen Fäden. Das zu erkennen und die Verbindung zu Troigers Maschine und der Karte des Conte herzustellen, war für Dorkas eins. Aber konnte das mehr sein als eine zufällige Übereinstimmung? Gab es einen wirklichen Zusammenhang zwischen diesem Schädel und den Hylegs?

Noch während er überlegte, fiel sein Blick auf dünne Metallstäbe in der Schädelwand, von denen die Goldfäden ausgingen. Natürlich war es unmöglich, dass die Fäden durch ein lebendiges Gehirn gespannt worden waren. Aber die Metallstäbe waren in den Knochen eingewachsen, daran gab es keinen Zweifel. Der Mensch musste diese wahnwitzige Operation um viele Jahre überlebt haben. Beim Drehen des Schädels spürte Dorkas einen Widerstand. Tatsächlich, einer der Metallstäbe hatte den Knochen durchbohrt und ragte um eine Kleinigkeit aus der äußeren Knochenhülle heraus. Jedes Mal, wenn sich der Mann über den Kopf strich, musste er diesen harten Punkt gespürt haben, der aus dem Inneren seines Schädels ragte. Bei dem Gedanken lief es Dorkas wieder einmal kalt über den Rücken.

Aber es gab andere Gründe, sich zu fürchten. Die Technologie, die diese Operationen erlaubte, war selbst nach heutigem Stand der Wissenschaft ganz erstaunlich, ja, sogar in Teilen überlegen. Welche Kultur mochte es sein, die sich zu solchen Leistungen aufschwingen konnte und dennoch in das Dunkel des Vergessens abgesunken war? Sollte sie vergessen werden? Oder wollte sie vergessen werden, wollte die Verborgenheit der Unkenntnis nutzen für Pläne, von denen Dorkas allenfalls angstvoll ahnen konnte, in welche Richtung sie zielten?

Er wollte den Schädel zurücklegen, als ihm das Papier einer Expertise, das unten in der Kiste lag, ins Auge fiel. Dorkas entfaltete das Blatt. Das Papier war von schlechter Qualität und zeigte einige Flecken, die von Fett und Kaffee zu stammen schienen. Das warf nicht unbedingt ein gutes Licht auf die Seriosität dieses Gutachtens. Außerdem war der Text mit einer alten Schreibmaschine, deren Typen oft aus der Reihe tanzten, heruntergehämmert worden. Besonders üble Schreibfehler waren mit Kugelschreiber durchgestrichen und am Rand verbessert. Angewidert von so viel offensichtlicher Schlamperei, wollte Dorkas den Zettel gleich zurück auf das Packpapier flattern lassen, gab dann aber doch seiner Neugier nach.

 

Die Expertise ordnete den Schädel einer Indianerkultur auf dem Gebiet des heutigen Kolumbiens zu und schätzte die Zeit der Bearbeitung auf die erste christliche Jahrtausendwende, während der Schädel selbst aus einer viel früheren Zeit stammte. Flüchtig überflog Dorkas die Fachausdrücke und zeitlichen Vergleichspunkte, um dann bei einer metallurgischen Analyse zu stocken. Laut Expertise waren die Metallstäbe aus einer Mischung aus Gold und Silicium hergestellt. Dorkas verstand nicht viel von Chemie, aber es reichte, um eine Gold-Silicium-Mischung in den Bereich des Unmöglichen einzuordnen. Genau dies wurde im nächsten Satz bestätigt, wobei die Analyse dennoch beibehalten wurde.
Seufzend ließ Dorkas das Papier sinken. Nichts als eine Abfolge von Komplikationen! Und nichts brachte ihn wirklich weiter, wenn er von der Verbindung zwischen dem Netz aus Goldfäden und den Hylegkarten absah, und dies war nichts als eine Assoziation und somit pure Spekulation.

Bevor er die Expertise zurücklegte, schaute Dorkas noch einmal auf das Datum. Zu seiner Verblüffung stand das Datum von vorgestern auf dem Papier. Und neben dem Datum war ein fast unkenntliches Unterschriftsgekrakel, das in Dorkas dennoch so etwas wie einen elektrischen Schock auslöste. Sein Verdacht bestätigte sich, als er den Namen in Maschinenschrift unter dem Gekrakel las. Dort stand groß und deutlich: Jake Flinger.

»Wo haben Sie das her?«, rief Dorkas und zuckte wieder einmal zusammen, weil seine Stimme in dem engen Raum übermäßig laut klang.

Der Chinese trippelte heran und verneigte sich. »Der Herr haben eine kluge Wahl getroffen. Mein neuestes Stück, erst heute eingetroffen. Ich mache Ihnen einen anständigen Preis!«

»Woher bekommen Sie Ihre Ware«, fragte Dorkas und erntete das Lächeln einer Sphinx.

»Es gibt viele Wege, auf denen ein gutes Sammelstück zu seinem Händler kommen kann«, erklärte der Ladenbesitzer. Sein Gesicht verharrte in freundlicher Unbewegtheit und ließ nicht erkennen, dass hier von Delikten die Rede war, die ihm einen Lebensabend in Staatspension sichern konnten.

»Manchmal kommen Sachen per Schiff, manchmal mit dem Flugzeug. Dieses Objekt kam heute Nacht mit dem Flugzeug in der Nähe von Miami in unser Land. Es war nichts als eine Beigabe zu einer anderen Ware, die für andere Händler wertvoller war, weil sie nicht viel Sinn für das Schöne haben.« Der Chinese versteckte sein Gesicht in einer Verbeugung, während Dorkas langsam verstand, welche Art von Ware da über das Meer nach Miami gebracht wurde.

»Anderes Flugzeug brachte dieses Objekt sofort nach San Francisco und so kam es zu mir.«

Das alles klang plausibel, dennoch schien es Dorkas fast wie ein Wunder, dass ein solches Artefakt innerhalb von zwei Tagen aus dem mittelamerikanischen Urwald in dieses Kabinett gelangen sollte. Aber wenn dem so war, dann konnte sich Jake Flinger mit derselben Geschwindigkeit bewegt haben und somit war es nicht sicher, dass er sich noch an der Fundstelle aufhielt …

»Wissen Sie, ob Jake Flinger, der die Expertise erstellt hat, immer noch dort ist?«, fragte Dorkas.

»Man kann nie sicher sein, aber meines Wissens nach wollte er dort noch eine Weile bleiben«, lautete die Antwort.

Und dann rief Dorkas Wie bitte???, denn der Chinese hatte ihm den Preis des Schädels genannt, und der war so lächerlich gering, dass Dorkas nachfragen musste und danach begann, um einen höheren Preis zu feilschen. Sein geschäftliches Geschick war allerdings denkbar gering und so blieb es bei dem genannten Preis, den Dorkas ohne Probleme aus der hervorgekramten Geldtasche entrichten konnte.

Es gab keine Rechnung und keine Quittung, dafür wurde die Apfelsinenkiste sorgfältig in Packpapier gehüllt und verschnürt und währenddessen ein Taxi gerufen. Durch den Nebeneingang wurde Dorkas auf einen engen Lichthof geführt. Von dort trat er durch eine Tür und befand sich wie durch Zauberei auf der Straße, auf der er sich von Little getrennt hatte. Das Taxi wartete und brachte ihn zu seinem Hotel.

***

Nicht lange danach klopfte Little an seine Zimmertür und erklärte, er sei mit ein paar Kumpels schwimmen gewesen. Er erwähnte kurz, dass ihm jemand Informationen über sein altes Forschungsinstitut geben wollte, aber daran gehindert worden war. Um welche Informationen es sich gehandelt hätte, konnte Little nur vermuten.

Dann allerdings hatte Dorkas seinen Auftritt. Er präsentierte den Schädel und die Expertise mit der Unterschrift Jake Flingers, worauf Little sofort zum nächstgelegenen Fernsprecher stürzte und den Conte benachrichtigte.

Die beiden hatten erwartet, dass sie nun überstürzt aufbrechen sollten, sahen sich aber getäuscht. Der Conte spielte sich überraschend als Bremser auf. Bevor Little und Dorkas aufbrachen, sollte Steele anreisen und Vorbereitungen treffen.

So saßen Little und Dorkas auf gepackten Koffern und fühlten sich wie die Piloten einer Alarmstaffel. Schließlich kam ein Anruf des Conte, der von Schwierigkeiten berichtete und die Abreise für den übernächsten Tag festlegte.

Little nahm es gelassen und bummelte durch die Stadt.

Dorkas hingegen hatte ein ganz eigenes Problem in Form von fünf jungen Männern, die ihn schon am ersten Morgen nach seinem Besuch in Chinatown in der Hotel-Vorhalle erwarteten.
Sie begrüßten ihn mit einer Verbeugung und einem Lehre uns, Meister. Der Auftritt war geeignet, unter den anderen Gäste eine Aufmerksamkeit hervorzurufen, die Dorkas unendlich peinlich war. Ein Fluchtversuch seinerseits wurde ziemlich fußlahm durchgeführt und bracht nur insofern Erfolg, als die fünf wie Küken hinter der Henne herliefen. Immerhin lotste er sie auf diese Weise aus der Lobby und aus dem unmittelbaren Bereich morgendlich sensationshungriger Gäste.

Dann schaute Dorkas in die jungen Gesichter, die ihm erwartungsfroh zugewandt waren, und erinnerte sich daran, dass sie ihm das Leben gerettet hatten. Er stand in ihrer Schuld.
Dorkas holte tief Luft, was mit einer noch gespannteren Aufmerksamkeit und gezückten Notizbüchern quittiert wurde.

»Der Weise trinkt Tee und lässt den Baum wachsen«, sprach Dorkas und verzog sich in das Café in unmittelbarer Nachbarschaft.

Seine selbst ernannten Jünger sammelten sich an den Tischen um ihn, taten es ihm im Tee trinken nach, so gut sie es konnten, tuschelten untereinander, blätterten in ihren Notizen und begannen schließlich eine halblaute Diskussion.

 

Dorkas durfte sich in dem Gefühl sonnen, seinen Jüngern für’s erste genügend Stoff gegeben zu haben. So blieb ihm Zeit, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Schnell stellte er allerdings fest, dass diese Beschäftigung nicht unbedingt förderlich für seine Laune war. Nein, es machte Dorkas keine Freude daran zu denken, dass er demnächst Kolumbien als seinen Aufenthaltsort nennen durfte. Indianische Kulturen faszinierten ihn, aber es reichte, wenn man sie in Büchern studierte. Das wäre es jetzt, ein kühler, englischer Regentag mit Tropfen, die gegen das Fenster einer Bibliothek prasseln und man selbst sitzt sicher und warm und von einer Barrikade aus bedrucktem Papier gegen die Boshaftigkeit der Welt geschützt und saugt den Honig des Wissens aus den herrlich staubig duftenden Wälzern …

»Erlaubt eine Frage, Meister!«

Dorkas wusste nicht, wie lange er sich schon in das Gespinst seiner Grübeleien verwickelt hatte, als ihn die Stimme unterbrach.

»War Euer weiser Spruch im Sinne eines Quietismus gemeint, als aktiv gewollter passiver Widerstand gegen die Beschleunigung der Moderne oder im Sinne einer meditativen Hingabe an den Gang der Ereignisse nach taoistischem Vorbild? Unsere Meinungen gehen auseinander, Meister, bitte gebt uns Klarheit!«

Wieder befand sich Dorkas im Fadenkreuz von fünf Augenpaaren und bemerkte ein nervöses Zucken im kleinen Finger.

»Meinungen sind wie Blätter im Herbstwind, die hochfliegen wollen, aber die Wurzel senkt sich tief in den dunklen Grund und schweigt,« gab er nach einigem Zögern zum Besten, gefolgt von einem fünffachen Aufseufzen der Begeisterung.

Damit hatte sich Dorkas eine weitere Pause vom Weise-Sein gesichert. Bevor er noch weitere Proben seiner Einsicht abgeben musste, tauchte Little auf und erlöste ihn mittels einer Fahrt in die Stadt.

»Diese Typen scharwenzeln ja immer noch hinter uns her«, stellte Little schließlich fest. Er sagte es und schaute in die abendliche Dämmerung über der Bucht, in deren mattem Licht nun schon Wasser und Horizont verschmolzen.

 

Der Genuss an diesem Naturschauspiel wäre größer gewesen, wenn auf den Abend nicht nach göttlichem Ratschluss ein neuer Morgen folgen müsste und an einem dieser Morgen nach Ratschluss des Conte di Saloviva die Abreise nach Kolumbien. Little war beunruhigt. Nicht allein, dass er einem Dschungelabenteuer wenig abgewinnen konnte. Es war etwas anderes, aber er konnte es nicht in Worte fassen – ein nebelhaftes Empfinden von neuer Gefahr, von einer Bedrohung, die ihn umgab wie die Luft an diesem Abend. Wenn er sich umdrehte, war da nichts, und wenn er versuchte, Worte zu finden, entglitt ihm alles und er blieb mit einigen sinnlos scheinenden Lauten auf der Zunge zurück. Vielleicht, sagte sich Little, ist das alles nichts Neues. Vielleicht habe ich es nur erfolgreicher verdrängt oder war weniger fähig es wahrzunehmen.

Aber diese Überlegungen halfen ihm nicht weiter. Immer wieder drängte sich störend das Bild des indianisch anmutenden Mannes, den er kurz am Orca-Becken gesehen hatte, in den Vordergrund. Gab es eine Verbindung zwischen diesem Mann und den Geschehnissen? Little war anfangs sicher gewesen, dann schwand diese Überzeugung und er fragte sich, wie weit ihn seine eigene Panik getäuscht hatte. In solchen Situationen knüpft das gepeinigte Hirn Zusammenhänge, die es später nicht mehr akzeptiert. So war es auch jetzt. War es wirklich so gewesen, dass dieser Fremde ihn, Little, im Visier hatte? Lenkte der Mann die Geschehnisse oder setzte sie zumindest in Gang? Oder war er wie eine psychische Schmeißfliege von dem Aasgeruch einer sich anbahnenden Katastrophe angelockt worden? Es gab mehr Fragen als Antworten – wie üblich, stellte Little mit einem Grinsen fest und konzentrierte sich auf den nur spärlich bedeckten Popo einer vorbeihüpfenden Joggerin.
Es blieb noch ein Tag, an dem Dorkas Sätze wie Beklage dich nicht, dass du kein Baum bist, wenn die Sonne scheint und Wissen frisst sich selbst, aber Erkenntnis ruht wie die Nabe des Rades.

 

Praktisch dabei war, dass er sich selbst keine große Gedanken über den Sinn dieser Weisheiten machen musste, denn nachdem seine Jünger ihn eine Weile in Ruhe gelassen und mehr oder weniger temperamentvoll disputiert hatten, wurden ihm mehrere Auslegungen zur Auswahl vorgelegt und es war an Dorkas sie alle für zutreffend, aber nicht richtig zu erklären, denn: Das Zutreffende setzte den Pfeil in das Ziel, aber das Richtige macht das Ziel zum Pfeil (oder vielleicht auch umgekehrt, jedenfalls so etwas in der Richtung). Tatsache war, dass Dorkas Geschmack an seiner Rolle zu finden begann, zumal sich die Zahl seiner Bewunderer vermehrt hatte und einige junge Damen darunter waren, die selbst von einem Menschen wie Dorkas nur mit Prädikaten wie putzig oder knuffig beschrieben werden konnten. Sie hatten zudem den Vorteil, dass sie ihn nicht mit Fragen bedrängten, sondern nur still dasaßen und ihn mit seelenvollen Augen anblickten.

Little war der Meinung, Dorkas könne sie alle haben, einzeln oder im Rudel, und dabei setzte er wieder einmal dieses diabolische Grinsen auf, das Dorkas ebenso irritierte wie die doch recht rätselhafte Aussage über das Haben.

***

Am Tag vor ihrer Abreise ließ sich Dorkas in einem Park vor einer inzwischen auf etwa fünfzig angewachsenen Schar von Zuhörern zu einem Impromptu hinrissen, bei dem er den Takt moderner Technomusik, die zersplitterten Reime des Rap in Beziehung zu Passagen aus T. S. Eliot’s The waste Land, die Attraktivität des 100-Meter-Sprints bei Sportveranstaltungen und die Bedeutung der Hunderstelsekunde im Sport, bei Computerberechnungen und an der Börse, die laut Dorkas genau zwei Minuten braucht, um jedwede Katastrophe in ihre Preisgestaltung einzuarbeiten und schließlich die Schnitt-Technik eines Musikvideos im Vergleich zum Aufbau des klassischen Dramas und der Gag-Dichte bei Buster Keaton-Filmen und dem Rhythmus des Can-Can.

»Die Geschwindigkeit überholt sich selbst und wird zur beschleunigten Form des Stillstandes, eine hysterische Ruhe, die ihrer selbst nicht bewusst wird«, donnerte der weise Dorkas und bekam von ganz hinten eine Bestätigung in Form von So ist es, Mann und Yeah, voll die Hysterie, während die Mädchen ihn seelenvoll anschauten (Dorkas fragte sich inzwischen, ob bei einem derart polymysteriösen und multikomplexen System, wie es eine Frau darstellte, unter Umständen seelenvoll und verständnislos dieselbe Bedeutung haben könnten) und die fünf jungen Männer, die sich inzwischen als die ersten Fünf oder der engere Kreis titulierten, mit fanatischer Hingabe mitschrieben.

»Der Kreisel dreht sich, um aufrecht zu bleiben, aber er kommt nicht vorwärts«, schmetterte Dorkas. Plötzlich drang ihm der Klang der eigenen Stimme in die Ohren und es war ein fremder Klang, der ihn selbst beunruhigte, als würde sich eine Erkältung darin ankündigen. Er stockte und schaute auf die Gesichter vor sich, die ausgebreitet wie ein Teppich schienen, bereit, jeden seiner Schritte aufzunehmen, aber auch voller Erwartung, die ihn zu einem nächsten Schritt drängen wollte.

»Unter dem Lärm wartet die Stille«, fügte er zögernd hinzu und setzte sich in Bewegung. Sofort fand er sich von einigen Personen umringt, es kam zu einem kleinen Gerangel, weil jeder möglichst nahe bei ihm sein wollte. Einige bemühten sich, seine Kleidung zu berühren, zupften am Ärmel, strichen über seine Schultern, schauten bewundernd und seelenvoll und ließen erst ab, als Little sich von einem intensiven Gespräch mit einer dunkelhaarigen Dame losriss, herbeisprang und Der Meister braucht nun Ruhe rief.

 

Daraufhin wurde Dorkas von den ersten fünf zu einem Taxi geleitet. Little kam nicht mit, denn er hatte eine derart angeregte Diskussion mit der dunkelhaarigen Dame, dass er eine Unterbrechung bedauert hätte. Dorkas war voll von mildem Verständnis, bemerkte aber am nächsten Morgen etwas pikiert, dass die Diskussion, in die sich Little verwickelt hatte, während der Nacht angedauert hatte. Dorkas hatte die morgendliche Nahrungsaufnahme schon beendet und saß auf gepackten Koffern, als ein blendend gelaunter Little auftauchte.

»Ich frage mich, ob ein gemeinsamer Kompromiss die Diskussion nicht früher hätte beenden können. Angesichts der heutigen Abreise wäre das sicherlich zuträglicher gewesen«, meckerte Dorkas wie eine alte Gouvernante.

Little antwortete mit einem Fingerschnippen und einem Grinsen. «Manche Dinge müssen einfach bis zum Ende durchkonjugiert werden, bis zum letzten Tropfen sozusagen. Ich reagiere in dieser Hinsicht sehr sensibel auf die Bedürfnisse meiner Gesprächspartner. Man muss sich einlassen, auch wenn es vielleicht ein wenig Schlaf kostet.«

»Man muss sich einlassen«, seufzte Dorkas bestätigend, denn er sah eine Schar seiner Anhänger in die Halle treten.

 

Nach der ersten Begrüßung mit einer inzwischen tiefer gewordenen Begrüßung wurde das Gepäck misstrauisch betrachtet, neben dem Dorkas wie eine brütende Glucke hockte. Zwar war die Abreise erst in einigen Stunden, aber zu den Katastrophenbildern, die Dorkas in ständiger Abrufbereitschaft mit sich trug, gehörte auch das Verpassen von Bahnen, Bussen, Flugzeugen oder transozeanischen Raddampfern.

»Der Meister will uns doch nicht etwas verlassen?«, wurde die Befürchtung endlich in Worte gefasst.

»Der Baum wirft seine Samen und wandert weiter«, salbaderte Dorkas.

»Meister, Ihr habt uns noch so viel zu lehren. Wir haben so viele Fragen!«

»Der Vater hält das Kind, bis es laufen kann, aber wandern zum Ziel muss jeder für sich«, deklamierte Dorkas. Das Blitzen in den Augen seiner Zuhörer machte ihm deutlich, dass er irgendeinen schweren Fehler gemacht haben musste.

»Verlasse uns nicht, Vater, ohne dich sinken wir dahin wie ein Blatt im Herbst.«

»Wer glaubt, es ginge abwärts, der kommt in Wahrheit voran wie der Albatros, und wer glaubt, er stünde auf der Stelle, der gewinnt Höhe wie der schwebende Adler, das Leben ist eine Achterbahn, aber der Weg ist das Ziel und die Fahrt ist die Ankunft, aber das Beste sind die Loopings, denn wir zeigen dem Himmel die Sohlen.«

Derart von brachialer Erkenntnis getroffen, legten die ersten fünf die Notizbücher zur Seite und begannen zu weinen. Vater, schluchzten sie (Little zerkaute sich die Unterlippe und presste die Hand vor den Bauch), und Dorkas fragte sich verzweifelt, ob es ihm noch einmal gelingen könnte, etwas zu sagen, das nicht ganz so tiefgründig war.

»Einen Gefallen müsst Ihr uns noch tun, Vater«, wurde gebettelt. »Besuche unsere Stätte der Weisheit, die dir gewidmet ist!«

Dorkas kam nicht dazu, den Kopf zu schütteln, als Little eingriff.

»Kein Problem«, erklärte Little mit maliziös gekräuselten Mundwinkeln. «Ich brauche nur die Adresse, dann hole ich den weisen Vater mit dem Gepäck ab!«

Dorkas stieß ein schwer definierbares Geräusch aus, das so klang, als versuche ein Meerschweinchen Löwengebrüll zu imitieren.

»Kein Anlass zu Dankbarkeit«, erklärte Little und klopfte Dorkas kumpelhaft auf die Schulter. «So was ist unter Kollegen doch selbstverständlich.«

 

Die Stätte der Weisheit befand sich in einem Ladenlokal unten an der Bucht. Zuerst dachte Dorkas, es gäbe in der Nähe eine öffentliche Suppenküche oder ein Geschäft mit Sonderangeboten, denn es drängte sich eine große Menschenmenge auf dem Gehsteig und der Straße.

»Vater, Vater«, klangen Rufe, als sich Dorkas aus dem Taxi wälzte und von den ersten Fünf umringt zum Eingang schritt. Etwas verwirrt grüßte Dorkas in alle Richtungen, betatschte einen Säugling, der ihm quäkend in den Weg gehalten wurde und der anscheinend von der Berührung der verschwitzten Dorkashand so schockiert war, dass er sein Brüllen sofort einstellte.

»Ein Wunder«, rief eine sich überschlagende Stimme, »seit vier Tagen und drei Nächten ist dieses Kind zum ersten Mal still.«

Noch mehr und noch hübschere Mädchen mit noch seelengefüllteren Blicken standen Spalier, berührten Dorkas und lächelten versonnen und hingebungsvoll, von hinten kam Es ist der Vater, joh Mann, der Vater, ich sage es euch, es ist der Vater und Voll der Vater, yeah. Dorkas lief rot an und senkte den Kopf, was der Versuch war, in den Erdboden zu sinken, jedoch als Bescheidenheit eines großen Geistes verstanden wurde.

Endlich war er durch die Menge geschoben worden und betrat die Stätte der Weisheit.

Fortsetzung folgt …