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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.7

Die Hyleg-Schädel – Teil 7

Der Pick-up fuhr einen Tag, die halbe Nacht und noch einen Tag. Dann kamen sie zu einer Art Sammelplatz, der irgendwo auf einer weiten Ebene lag. Die Szenerie hatte Ähnlichkeiten mit einem schlecht organisierten Militärlager. Es gab eine Latrine, die aus einem Balken, einer Grube und einem Sichtschutz bestand, es gab weiterhin einen Tank, aus dem lauwarmes Trinkwasser, das stark nach Chemikalien schmeckte, floss und einige Pfosten, zwischen denen Zeltplanen als Sonnenschutz ausgespannt waren.

Tony fühlte sich müde und völlig zerschlagen. Die Männer, mit denen er zusammen war, bedeuteten die Widerlegung aller Illusionen über die westliche Zivilisation, die ihn bisher auf­recht gehalten hatte. Er war unter ihnen ein Fremdkörper und genau das witterten sie mit dem Instinkt des Underdogs, der nach einem sucht, der noch schwächer ist oder den er noch tiefer in den Sumpf drücken kann, als es mit ihm selbst geschehen ist. Und entsprechend behandel­ten sie ihn mit einer ständigen, unterschwelligen Feindseligkeit, die nur auf eine Gelegenheit wartete, um in offene Gewalt umzuschlagen. Die einzige Lebensversicherung, die Tony Tanner in dieser Situation hatte, war Steele. Die anderen hielten Tony für Steeles Lustknaben – das war die einzige Kategorie, in der sie denken konnten, wenn sie sich die Mühe machten – aber das bedeutete zumindest eine gewisse Sicherheit. Es bedeutete auch, dass sie hinter Tonys Rücken Bemerkungen nuschelten oder ein dreckiges Lachen ausstießen oder ekstati­sche Pfiffe hören ließen. Manchmal kam sich Tony vor wie in einer Gaskammer, umgeben von den erstickenden sauren Ausdünstungen dutzender Männer und er nahm sich vor, dem Nächsten, der ihm dumm kam, die Faust ins Gesicht zu rammen. Er verzichtete jedes Mal auf die Durchführung dieses Programms zur Rückgewinnung der Selbstachtung, weil er um sein Leben fürchten musste. Nach einer Weile richtete sich die Aufmerksamkeit der Männer auf andere Dinge und sie vergaßen, dass es überhaupt eine unpassende Figur mit falschem Akzent unter ihnen gab.

Tony setzte sich neben Steele in den Schatten.

»Und?«, machte Steele. Er lehnte mit dem Rücken gegen einen Pfosten, hatte die Augen halb geschlossen und schien zu dösen.

»Ich würde nicht behaupten, dass ich mich hier wohlfühle.«

»Die Männer sind gar nicht so schlecht. Ungefähr dieselbe Kategorie, die man beim Freigang auf dem Hof eines Hochsicherheitstraktes findet. Sind mir aber lieber als eine Handvoll Börsenmakler.«

»Auf mich wirkt diese ganze Gesellschaft wie eine Gruppe hungriger Piranhas mit kanni­balistischen Neigungen.«

»Das hier ist keine Universitätsbibliothek voller arbeitseifriger Dorkasse. Die Männer brauchen eine Aufgabe. Sie brauchen eine Mütze voll Schlaf, jemanden, der ihnen sagt, was sie zu tun haben und etwas Zeit. Dann bildet sich so etwas wie eine Kameradschaft und diese ganze Bande erscheint in einem besseren Licht. Fragt sich nur, ob das geplant ist.«

Damit versank Steele erneut in sein abwartendes Schweigen. In der letzten Zeit hatte er versucht, sich ein Bild über seine neuen Kollegen zu schaffen. Die meisten gehörten in die Kategorie im bürgerlichen Leben gescheitert. Dabei war diese Einteilung ein wenig verfäl­schend, denn ein Mensch kann nicht bei einem Spiel scheitern, zu dem er niemals zugelassen worden war. Oder das dieser hypothetische Jemand niemals als wirklich lohnend betrachtet hatte. Die meisten Männer passten in diese Schublade, es waren grobe, feiste, bierbäuchige Gestalten, trinkfest und rauflustig, das Material jeder Söldnerarmee seit Jahrtausenden. Für Steele stellten sie kein Problem dar. Wenn man sie persönlich näher kennenlernte, waren sie in Ordnung, und in der Gruppe sortierten sie sich nach einiger Zeit auf ihre lautstarke Art und konnten einiges auf die Beine stellen – egal, ob sie einen Viermastsegler um Kap Hoorn brin­gen oder einen Waldbrand löschen mussten. Wirklich unerfreulich waren diese Typen nur, wenn sie aufgestachelt wurden und in eine bestimmte Richtung marschierten. Am Anfang ähnelten sie in einer solchen Situation sehr dem üblichen Uni-Revoluzzer-Gesocks mit sei­nem pubertären Welterlösungs- und Allesbesserwissergehabe. Allerdings, so stand es für Steele fest, kamen die Erstsemester-Ches nur bis zur nächsten Polizeisperre, wo ihnen dann mit der Sicherheit eines Naturgesetzes einfiel, dass Papis Leben als Zahnarzt gar nicht so übel oder das Wetter für eine tief greifende gesellschaftliche Umwälzung globalen Ausmaßes unpassend und erst einmal eine weitere Diskussion in der warmen Stammkneipe angebracht war.

Die Männer, über die Steeles Blicke jetzt schweiften, würden nicht anhalten. Sie würden weitermarschieren, ohne auf den Flurschaden zu achten. Gegen Kapitalisten, Immobilienmakler, Zeitungsbonzen, lästige Ureinwohner. Letztere Möglichkeit machte Steele zwar nicht unbedingt Sorgen, aber er zog sie in seine Überlegungen ein.

Einigen Männern war anzusehen, dass sie wahrhaftig einen sozialen Abstieg hinter sich hatten. Manche freiwillig, weil ihnen klar wurde, dass ein Acht bis Siebzehn-Uhr-Job keine befriedigende Möglichkeit ist, die meiste Zeit zwischen Wiege und Grab zu verbringen. Steele zählte sie zu den mehr oder weniger erfolgreichen Abenteurern, die in den meisten Fällen eine Belastung darstellten. Bei anderen war es vermutlich eher die Feststellung, dass der nackte Arsch zwischen den gespreizten Beinen der eigenen Ehefrau dem besten Kumpel angehörig war, die das Weltbild ins Wanken brachte. Diesen Typen misstraute Steele, er hielt sie für tückisch wie Klapperschlangen, die andererseits nach Einfüllung von genügend Bier die Tendenz zu weinerlichen Nacherzählungen ihres banalen Scheißlebens zeigten.

Was gab es sonst noch? Steele wendete kaum merklich den Kopf. Diese drei jungen Kerle, die zusammen um ihre Seesäcke hockten, als wäre das ihr Gravitationszentrum. Die kamen frisch vom Militär. Sie hielten sich abseits, waren gegenüber den anderen freundlich, aber kühl. Einige Male, als sie gemeinsam über den Platz gelaufen waren, hatten sich ihre Beine unbewusst zum Gleichschritt gefunden. Alle drei trugen recht lange Haare, waren also dem militärischen Kurzschnitt seit Längerem entronnen, hatten sich aber trotzdem noch nicht im Zivilleben zurechtgefunden. Mit diesen drei musste man rechnen, sie würden im Fall der Fälle die so lange eingeübten Schläge und Tritte ebenso leicht wiederfinden wie den Gleichschritt.

Von dieser Gruppe schwenkte Steeles Blick zu den Offiziellen. Der blondierte Jungmann, der den Pick-up gefahren hatte, schien den Leitwolf zu spielen. Zumindest hatte er den größten Mund und die lauteste Stimme. Die anderen ließen ihn gewähren, vielleicht kannten sie ihn, vielleicht ahnten sie auch nur, dass der Blondierte unangenehm werden würde, sollte man seine Position infrage stellen. Jetzt saß er in seinem Pick-up, der Motor lief, um die Klimaanlage in Betrieb zu halten. Daneben standen weitere fünf Geländewagen, die Männer aus verschiedenen Richtungen herangebracht hatten.

Steele überlegte sich, wie diese Großschnauze am besten zur Ruhe zu setzen war. Dieser Kerl hatte massive Muskeln. Wenn er zuschlug, war die Wirkung mit Sicherheit beträchtlich. Die Muskulatur, die Steele in der letzten Zeit mit der Gemütsruhe eines Sportlehrers studiert hatte, deutete auf lange Sitzungen zwischen den Eisenwaren eines Fitnessstudios hin. Für Steele ergaben sich aus dieser Beobachtung einige Schlussfolgerungen. Er hielt den Blondierten für blöde. Selbstverständlich hielt Steele nicht jeden Bodybuilder für geistig min­derbemittelt, aber in ihm lebte doch das Vorurteil, dass ein Mann, der jahrelang x-mal in der Woche dieselbe Bewegung oder deren leichte Variante im Kampf gegen die Schwerkraft machte … nun ja, zumindest einen anderen Typus darstellte als ein Segler oder ein Bergsteiger. Wahrscheinlich warf Blondie auch Anabolika ein, das hätte zumindest zum Bild gepasst, das sich Steele von ihm machte. Der Leitwolf hatte eine bestimmte Art, in den Wagen zu steigen, die Steele aufmerksam machte. Er war schlichtweg steif. Der Typ, der vor Kraft kaum laufen kann. Wenn er einen Kampfsport betrieb, dann sicherlich nicht intensiv. Boxen vielleicht, Karate ein wenig, aber beim Kickboxen würde er kaum die Haxen hoch genug bekommen. Wie würde ein solcher Mann kämpfen? Er würde sich wie eine Fleischlawine brüllend auf den Gegner stürzen, im sicheren Gefühl, dass schon seine äußere Erscheinung Schrecken und Ehrfurcht verbreiten würden. Sollte dann der potenzielle Gegner noch nicht die Flucht ergrif­fen haben, war ein Hagel von ungezielten, aber wuchtigen Schlägen angebracht. Mehr hatte Blondie nicht zu bieten, mehr brauchte er aber auch nicht.

Was Steele seinerseits im Falle einer minder freundlichen Begegnung mit diesem Vorgesetzten brauchte, war ein durchschnittlicher Stock. Damit wusste Blondie nichts anzu­fangen. Ein Stoß in den Solarplexus, ein Seitschritt und ein Schlag in den Nacken, damit war der blondierte Fleischkloß erledigt. Alternativ, falls eine Weiterverwertung nicht geplant war, konnte dem Stoß gegen den Solarplexus ein sofortiger weiterer Stoß gegen den Kehlkopf fol­gen.

Als sich der blondierte Leitwolf aus dem Wagen schob und über die Hitze fluchte, konn­te er nicht ahnen, dass er von dem bärtigen Mann, der unauffällig weiter hinten im Schatten saß, soeben in mehreren theoretischen Varianten getötet worden war. Er hätte es auch nicht geglaubt. Davie war nicht unbedingt eine Leuchte. Als er zu den anderen Fahrern ging, mach­ten sie ihm schnell Platz. Davie konnte sehr aufbrausend sein. Das lag wahrscheinlich an den Pillen, die er seit Jahren für sein Muskelwachstum schluckte.

Wahrscheinlich hörte Steele die Maschine als Erster.

»Zweimotorig, Turboprop«, sagte er ruhig.

»Was?« Tony Tanner fuhr aus seinem Halbschlaf. Er blickte sich wild um. Irgendwie war er von hier fortgeglitten, in eine freundlichere Landschaft voller Nebel und Nieselregen und erfrischender Kühle. Heimlich wartete Tony immer noch darauf, dass die Kulissen umfielen, jemand die Kängurus wieder in den Zoo zurückbrachte und die ganze Vorstellung namens Australien zu Ende war.

Der Blondierte und seine Mannen fingen an herumzuschreien und die Männer aufzu­scheuchen. Nach einigen Runden setzte das Flugzeug zur Landung an. Es existierte tatsäch­lich eine Piste und Steele ärgerte sich, dass er den planierten Streifen in der Ebene nicht ent­deckt hatte.

»Die Mühle sieht eigentlich eher aus, als sollte sie hier an Ort und Stelle verschrottet wer­den«, äußerte Tony seine Meinung beim Anblick des Flugzeugs. Es handelte sich um einen zweimotorigen Hochdecker mit feststehendem Hauptfahrwerk. Der Pilot beaufsichtigte eini­ge Männer, die Flugbenzin aus Fässern in die Tanks pumpten.

»Eine GAF Nomad«, sagte Steele, nachdem er sich die Szene eine Weile angeschaut hatte. »Eine N 24, australische Fabrikation. Könnte locker über zwanzig Jahre alt sein.«

»Gibt es irgendeine Information, die für meine Lebenslust förderlich ist?«, verlangte Tony zu wissen.

Steele grinste ihn an. »Soweit ich mich erinnere, ist der Vogel für zwei Piloten und sech­zehn Passagiere gebaut. Wir sind gerade mal zweiundzwanzig Personen, also wird die Über­last nicht so beträchtlich sein und man gerät zumindest nicht in Gefahr umzukippen, wenn es in die Kurve geht.«

Das Innere der Maschine war von überflüssigem Luxus wie Sitzen oder Sicherheitsgurten gänzlich befreit wurden. Die Passagiere mussten in der Reihe antreten und kletterten dann an Bord. Tony wollte sich vorne anstellen, wurde von Steele aber energisch zurückgezogen. So kamen sie als letzte der angeheuerten Arbeiter an Bord und hatten, weil die anderen durchrü­cken mussten, die Plätze neben der Tür.

Mit einem Mal fühlte sich Tony mit seinen Begleitern seelisch zutiefst verbunden. Eingekeilt in eine enge, heiße Röhre, hatte er ebenso Angst wie die meisten von ihnen. Während Steele die Augen schloss und eine weitere Runde Dösen einläutete, schaute Tony in Gesichter, aus denen alle Farbe gewichen war. Während die Maschine zum Start rumpelte und drehte, begannen die Adamsäpfel zu hüpfen wie Hochhausfahrstühle zur Rushhour, die Augen richteten sich in eine unbekannte Ferne, aus der jedoch auch keine Hilfe zu erhoffen war.

Der Pilot brüllte etwas nach hinten, das wie Könnte jetzt ein wenig unruhig werden klang, aber wegen des Motorengeräusches nicht klar zu verstehen war. Dann setzte sich die Maschine langsam in Bewegung. Tony, der wie alle anderen auf dem nackten Boden saß und sich gegen die Wand drückte, spürte die Vibrationen, die durch die Konstruktion liefen, als wäre er auf einem Rüttelsieb.

Es war unmöglich, einen klaren Überblick zu behalten, weil sich alles in eine rappelnde, bibbernde, zitternde und scheppernde Masse verwandelte. In der Nähe begann ein Mann zu würgen. Der saure Gestank von Erbrochenem stach durch den Schweißgeruch. Jemand fluch­te, eine Bewegung ging durch die aneinander gepressten Männer, dann rollte das Flugzeug über eine Bodenwelle, schien abzuheben, warf die Passagiere für den Bruchteil einer Sekunde in eine halbe Schwerelosigkeit und sog sie dann wieder krachend zurück, als es schwer auf die Startbahn fiel. Der Anlauf schien ewig zu dauern, es war ein Albtraum als Lärm, stöhnen­den Menschen, ächzenden Nieten und bebendem Metall. Es folgte ein Hüpfer, das Rumpeln brach schlagartig ab, dann berührten die Räder noch einmal den Boden und schüttelten die gesamte Konstruktion. Endlich kippte der Erdboden und die Maschine gewann mühsam an Höhe.

Tonys Hoffnung, das Flugzeug würde sich in seinem eigenen Element nun menschen­freundlicher gebärden, erfüllte sich allerdings nicht. Bei der geringen Flughöhe rüttelte die erwärmte Luft über der Ebene sie durch wie eine Küchenmaschine. Immer wieder schien sich unter ihnen eine Falltür zu öffnen, die Maschine sackte mit aufheulenden Propellern, Gepäck flog durch den Raum und plumpste bombenartig auf Köpfe, Knie oder Bäuche, wenn der Pilot die Maschine abfing.

Bei dem herrschenden Tohuwabohu hatte selbst Steele den Blick auf die Uhr vergessen und musste sich zugestehen, dass er weder über Flugdauer noch Flugrichtung eine Vermutung anstellen könnte.

Nach einer Landung, bei der das Flugzeug endlos eine wellige Piste entlang rappelte, fan­den sich Tony und Steele mitten im Nichts wieder. In der Luft lag noch der Staub, den das Flugzeug aufgewirbelt hatte. Nach einigen Minuten Fußmarsch, den die meisten Passagiere nur mit zitternden Knien zurücklegten, kamen sie über einen Hügelkamm und schauten in eine weitläufige Senke.

Im Schutz der umgebenden Hügel standen drei Reihen von Wellblechhütten, an die sich große Zelte anschlossen. An der Seite waren Baumaschinen geparkt. Steele stieß einen leisen Pfiff aus, als er dahinter verborgen einige Geländewagen sah.

Die Wellblechhütte mit der Aufschrift Verwaltung und Lohnbüro stellte so etwas wie den Mittelpunkt der Ansiedlung dar. Davor war ein festgetretener Platz, auf dem sich die Neuankömmlinge versammelten. Einige Männer schoben sich aus den Hütten, schlurften an den Rand des Platzes und schauten der Szene mit verschränkten Armen zu.

Aus der Entfernung drang das Dröhnen der Flugzeugmotoren, steigerte sich und wurde dann langsam leiser.

Als Nächstes rauschte ein Pick-up auf den Platz, der blondierte Leitwolf steckte den Kopf aus der Dachluke und verkündete im zackigen Ton eine Reihe von Vorschriften. Die Übertre­tung wurde mit Lohnabzug geahndet, für leichtere Vergehen wie Prügeleien mit nicht lebens­gefährlicher Körperverletzung gab es Arrest in einer Hütte am Ende der Ansiedlung.

Dann wurden die Schlafplätze verteilt, es fand eine Essensausgabe in einem der Zelte statt und alsdann marschierte man geschlossen an die Arbeit.

***

Dorkas kaute an seinem Frühstückswürstchen, als hätte es eine Füllung aus Sägespänen. Schließlich gab er die Suche nach dem Genuss auf und schob den Teller zur Seite. Auch eine weitere Tasse Tee vermochte nicht, ihn mit der Welt zu versöhnen.

»So schlimm, dass Sie ihr Frühstück stehen lassen müssen, ist es doch auch wieder nicht«, hörte er die helle Stimme Doktor Tebaldis neben sich. Sie setzte sich mit einem leisen Knacken von gestärktem Stoff und brachte den morgendlichen Duft von Kernseife mit sich.

»Die Definition des Schrecklichen ist sehr individuell, fürchte ich«, wehrte Dorkas jeden Versuch der Aufmunterung bockig ab.

»Heidelberg ist, denke ich, selbst bei sehr individueller Auslegung unter dem Konzept des Schrecklichen kaum zu fassen«, fuhr Doktor Tebaldi lächelnd fort.

»Sie brauchen ja auch nicht zu fahren.«

»Wer sagt denn, dass ich es nicht gerne täte?«

Eine solche Antwort machte Dorkas erst einmal sprachlos. Die Vermutung, dass sich intel­ligente Menschen freiwillig zu einer Änderung des Aufenthaltsortes bereit erklärten, erschien Dorkas trotz aller Erfahrungen der letzten Zeit immer noch als geradezu obszöne Eigenheit, die jedenfalls nicht zur öffentlichen Kundgabe geeignet sein sollte.

Wie sehr hatte er sich doch an das Leben in Collesalvetti gewöhnt! Wenn nicht gerade bewaffnete Eindringlinge den Versuch machten, die Anlage zu zerstören, war Collesalvetti ein Paradies. Es gab immer genügend Tee, das Essen wurde serviert, man brauchte nicht Staubwischen, und es gab eine Bibliothek voller unglaublicher und weitgehend ungehobener Schätze. In den letzten Wochen hatte Dorkas seine Tage damit verbracht, in diesen Büchern zu stöbern und mit steigender Begeisterung Zettel mit Notizen zu füllen, die er dann wieder­um auf große Papierbögen übertrug. Jeder Tag brachte eine neue Entdeckung, eine neue Verbindung, eine neue Parallele. Das ging so weit, dass in Dorkas der Gedanke zu einem neuen Werk reifte, das die kulturellen Beziehungen zwischen Orient und Okzident anhand des Auftretens esoterischer Sekten beiderseits der Seidenstraße in einem völlig neuen Licht zei­gen würde. Um sein Thema allerdings erschöpfend behandeln zu können, war es nötig, auch die Verlängerungen dieses uralten Handelsweges mit in Betracht zu ziehen. Das waren auf östlicher Seite Abzweigungen, die bis Tibet und weit in die gewaltige Landmasse des chine­sischen Reiches hinein drangen. Im Abendland war Venedig ein wichtiger Punkt, von dem aus sowohl die französische Mittelmeerküste als auch der mitteleuropäische Bereich in das große Netz einbezogen worden war. Von den Alpen ab bildete der Rhein die Hauptwurzel, von der aus vielfältige Nebenlinien in die Metropolen zogen, aber auch in kleinere Gemeinden, in denen wider jede Erwartung der Lichtschein neuer Gedanken und Überlegungen erglänzte. Um sich nicht selbst vor eine unlösbare Aufgabe zu stellen, verzichtete Dorkas auf die nähe­re Betrachtung des Ostseegebietes und unterdrückte ebenso seine Lust, die Verbindungen zum keltischen Norden weiter zu erforschen.

Irgendwann einmal, an einem Tag, den Dorkas nun als eher unglücklichen solchen einord­nete, stieß er auf einen Namen: Gebhardt Troiger. Es gab nicht viele Veröffentlichungen unter diesen Namen, kaum mehr als fünf oder sechs, und keine unter ihnen umfasste mehr als zehn Seiten. Dennoch war Dorkas über den Inhalt zuerst erschrocken, dann überrascht, zuletzt begeistert. Sein Eindruck war, dass Troiger viel mehr wusste, als er in seinen knappen Sätzen offenbarte. Manchmal, in einem Halbsatz nur, glitzerte dieses Wissen wie ein Goldklumpen an einem Kieselstrand. In manchen Formulierungen, wenn man sich die Mühe machte, sie zum dritten oder vierten Mal zu lesen, wurde so etwas wie ein Zeichen merkbar oder vielmehr ein Notsignal, mit dem sich ein Einsamer der Gesellschaft von Gleichgesinnten versichern woll­te. Spätestens als Troiger in einem kurzen Abschnitt auf das Thema Gartenbau kam, genauer auf eine künstlerische Umgestaltung eines uralten Schlossgartens, dessen Bäume durch Tagebau und die damit zusammenhängende Grundwasserabsenkung schwer geschädigt wor­den waren, und die durch die Setzung einiger Steinmale und anderer, halb künstlerischer, halb rituell-esoterischer Architekturen, wieder zu alter Kraft zurückgeführt werden konnten, spä­testens da erkannte Dorkas nicht allein einen Geistesverwandten oder einen Bruder im Geiste, sondern vielmehr einen wirklichen Waffenbruder. Er schnappte sich die schmale Zeitschrift und stürmte – ein anderer Beobachter, zum Beispiel die stets zu freundlicher Boshaftigkeit aufgelegte Frau Doktor Tebaldi, hätte gesagt watschelte – zum Conte di Saloviva. Der ließ sich nach einiger Zeit überzeugen, dass Troiger auch ein Mitglied der Fraternidad sein muss­te und begann, nach der Person hinter dem Namen zu forschen.

Jetzt allerdings wurde Dorkas von Troiger bitter enttäuscht, denn Troiger lebte. Während Dorkas’ Begeisterung sich im senkrechten Fall dem Nullpunkt näherte, hatte der Conte Feuer gefangen und setzte alle seine nicht unbeträchtlichen Möglichkeiten ein, den Aufenthaltsort Troigers herauszufinden.

Nach knapp einer Woche hatte der Conte di Saloviva alle Informationen zusammen, ein­schließlich Troigers Identifikationsnummer bei der deutschen Wehrmacht und dem Tag seiner Verurteilung zum Dienst im Strafbataillon 7/65 aufgrund von Selbstverstümmelung. Aber, zum Entsetzen des nun schon sehr nervösen Dorkas, hatte der Conte auch ein Empfehlungsschreiben eines ehemaligen Kollegen Troigers, und er arrangierte sogar ein Telefonat zwischen Troiger und Dorkas, bei dem Ersterer englisch radebrechte, letzterer eini­ge deutsche Brocken stotterte und sie sich schließlich auf das Altgriechisch eines Archilochos einigten, mit dem sie sich einigermaßen verständigen konnten. Troiger war über die Aussicht eines Besuches ebenso wenig erfreut wie Dorkas. Aber nun griff der Conte aus dem Hintergrund ein und winkte mit einer Geste, die unzweifelhaft Wird’s bald bedeutete, Dorkas zum Angriff. So kam es, dass sich Troiger mit einem kurzen Besuch einverstanden erklärte und so kam es eben auch, dass Dorkas seine geliebten Frühstückswürstchen, ob nun mit oder ohne süßen Senf, nicht schmecken wollten.

»Es ist alles arrangiert«, sagte nun Doktor Tebaldi. »Sie haben zwischen Rom und München einen durchgehenden Zug mit Schlafwagenabteil. Sie übernachten in München und sind übermorgen am Vormittag in Heidelberg. Dort sind ebenfalls Zimmer für Sie und Herrn Little reserviert.«

Dorkas nickte, die Anwesenheit von Little mochte ein kleiner Trost sein und dennoch erschreckte ihn die Aussicht auf diese Reise. Selbst auf einem Globus würde man die Strecke, die es zurückzulegen galt, erkennen können und das bedeutete im Weltbild von Dorkas, dass es ganz fürchterlich weit war.

»Sie tun gerade so, als ob Sie sich noch niemals auf eine Reise begeben hätten«, stachel­te ihn Doktor Tebaldi an.

»Ich lege Wert auf die Feststellung, dass dies niemals freiwillig geschah«, antwortet Dorkas mit Würde und schritt von hinnen.

Diese Tage erschienen Tony Tanner wie ein beständiger Kampf. Immer stärker kam es ihm zu Bewusstsein, dass es jetzt nicht die Schläge eines menschlichen Gegners waren, die ihn zu Boden werfen, seine Widerstandskraft lähmen, ihn schließlich, im bittersten Sinne des Wortes, in die Bewusstlosigkeit treiben wollten. Nein, es waren keine Schläge, es waren Stunden, die sich wie eine lange Schlange aneinander gefesselter Gefangener an ihm vorüberschleppten und sich zu Tagen vereinigten, während Tony Tanner verbissen darum bemüht war, das zer­fasernde Gewebe seines Lebens weiterzustricken.

Jeden Morgen weckte der Lärm eines Knüppels, der auf einem leeren Ölfass hämmerte, die Männer aus dem Schlaf. Tony brauchte nicht geweckt zu werden, denn er lag viel zu oft wach, und nur Erinnerungen an wirre bedrohliche Träume zeigten ihm, dass er manchmal doch Schlaf gefunden hatte.

Steele schien mit offenen Augen zu schlafen. In seinem Gehör war ein Filter, der die nor­malen Geräusche – das Schnarchen der Männer, ihr Husten, Röcheln und Schnorkeln, fernes Heulen, von dem die Männer behaupteten, es stamme von Dingos – aussortierte und ihn sofort aufwachen ließ, sobald sich ein fremder Ton darunter mischte. In den letzten Nächten hatte Steele Besuch von Helena gehabt. Ihr Bild war so wirklich gewesen, dass ihm das Aufwachen die Erkenntnis, dass er geträumt hatte, wie ein Messer in den Leib fuhr. Dann stand er leise auf und schlich an den Schlafenden vorbei, die aneinandergereiht unter ihren weißen Laken wie zum Begräbnis bereitgelegte Leichname nach einer Katastrophe wirkend in der Hütte lagen.

Die Luft war feucht, ein Geruch nach Sand konnte in manchen Momenten den Eindruck erwecken, man wäre in der Nähe eines Strandes. Am Himmel trieben Schleierwolken und ver­deckten die Sterne. Steele hatte den Eindruck, dass dieses Landes die Menschen, die in sei­nen Eingeweiden wühlen wollten, am liebsten ausspeien würde.

»Was treibst du dich hier herum?«, wurde Steele von der Seite angebellt. Er brauchte nicht mal hinzuschauen, um zu wissen, wer da stand. Die Stimme war unverwechselbar, noch unverwechselbarer der Stil. Durch die Dunkelheit schimmerte der blondierte Kopf des selbst-ernannten Oberaufsehers.

Ich warte drauf, dass ein Arschloch vorbei kommt, sagte Steele. Das heißt, genau das wollte er sagen und für einen Moment zweifelte er, ob er diesen Satz erst in Gedanken formu­liert oder schon laut gesagt hatte.

Der andere blieb ruhig, also konnte Steele sicher sein, dass er diese Antwort nur gedacht hatte, und sagte laut: »Muss mal pissen!«

»Mal wieder zu viel gesoffen, du Penner. Mach dir das nächste Mal in die Hose, stinkst ja sowieso genügend!«

Steele schlurfte schwankend zur Aborthütte. Er brauchte keinen Wegweiser, der Gestank war ein zuverlässiger Lotse. Die Szene eben hatte Steele nicht gefallen. Es war kein guter Einfall, Blondie zu provozieren. Bisher hatte Steele mit jeder Bewegung zu Erkennen gege­ben, dass er ein Wrack war, durch Suff und Drogen zerstört. Er achtete darauf, beim Laufen die Füße nicht vom Boden zu heben und trug immer ein weites Hemd mit langen Ärmeln, damit keiner auf den Gedanken kam, zwischen seiner kräftigen Muskulatur und seiner schlaf­fen, manchmal geradezu hündisch devoten Haltung einen Widerspruch zu erkennen.

Der Augenblick, in dem er Blondie die ganze Wahrheit über ihr beiderseitiges Verhältnis in die blöd-arrogante Fresse hämmern würde, kam unausweichlich und bis dahin war es kein Vorteil, sich allzu deutlich als der zu zeigen, der man war. Steele sah diesem zukünftigen Augenblick der Konfrontation ohne eine Empfindung entgegen. Es war nicht so, dass er irgendeinen Hass gegen den Blondierten in sich spürte. Ein treibendes Blatt im Fluss, hätte Meister Ki gesagt. Beachte nicht, wenn dein Ruder es trifft, denn du hast dein Ziel. Zumindest würde Meister Ki es auf diese Weise gesagt haben.

Steele bewegte die quietschende Tür, die den Zugang zu dem gewährte, was je nach Standpunkt als Scheißhaus, Aborthütte oder sanitäre Anlage bezeichnet wurde. Letztere Bezeichnung stammte selbstverständlich von Tony Tanner, und er war auch der Einzige, der diese in Blech eingefasste Widerwärtigkeit so nannte. Im Dunkeln begannen Fliegen zu schwirren, sausten mit fettem Brummen umher, prallten mit einem hörbaren Klong gegen die Wellblechwand. Der Gestank konnte Brechreiz auslösen, aber Steele schob ganz einfach eine Sperre zwischen seine Sinnesempfindung und deren Rezeption. Nach einer Weile prügelte er die Tür wieder zu und schlurfte zurück.

Zwei Dinge bereiteten Steele im Augenblick Sorgen. Die Frage, was sie hier eigentlich sollten. Und die Frage, wie lange Tony Tanner diesen Aufenthalt durchhalten würde. Obwohl Tony hier ein absoluter Fremdkörper war, hielt er sich wacker. Seine Körperkraft reichte aus, um den Job zu erledigen. Im Grunde gehörte Tony zu den kräftigeren Arbeitern. Abgesehen von Steele, den drei jungen Ex-Soldaten und einer Handvoll weiterer Männer, die Steele zu der Kategorie echte Abenteurer gezählt hatte, bewegte sich hier eine Menge muskelfreier Fettmasse, die jeden Abend durch Unmengen von Bier zusätzliche Nahrung erhielt. Dennoch konnte Tony daraus keinen wirklichen Vorteil ziehen. Denn obwohl Packard Limited gut bezahlte und mit viel Staubaufwirbeln in der Hitze geschuftet wurde, war das alles nur eine Schauveranstaltung. Steele wusste nicht warum, aber die etwa hundert Männer, die hier zusammengepfercht waren, leisteten keinerlei produktive Arbeit.

Obwohl sie in den letzten Tagen wenig miteinander gesprochen hatten, um nicht das Misstrauen eines Aufsehers zu erregen, bemerkte Steele, wie niedergedrückt Tony war. Dieser Ort war böse, das spürte Steele. Dinge bereiteten sich vor, die nicht gut waren. Hinter den fadenscheinigen Kulissen der Wirklichkeit knarrte und knirschte die Maschine, deren Räderwerk Tony aufhalten sollte. Sicherlich, auch Steele gehörte dazu. Sie waren Gefährten, sie hatten schon Schlachten miteinander geschlagen, sie hatten bei aller unüberbrückbaren Distanz den Wert des anderen schätzen gelernt und sie hatten einen Instinkt füreinander ent­wickelt, der ihnen manches Wort und manche Erklärung ersparte.

Trotzdem respektierte Steele die Bürde, die Tony Tanner zu tragen hatte, und hätte nie den Versuch gemacht, seine eigene Last mit der des anderen zu vergleichen. Nein, Steele spürte in jeder Sekunde, als wäre jeder seiner Poren ein Teil des Höllenfeuers, dass er ein Verlorener war, ein Mann, dessen Leben beendet war, wie lange es auch immer noch währen mochte. Aber Steele kannte auch seine Stärke. Und darum machte er sich Sorgen um Tony Tanner.

Wie ist das, wenn du morgens die Augen aufmachst und am liebsten kotzen würdest, weil du noch lebst? Wie ist das, wenn deine Blicke auf etwas fallen, das du eben noch für einen Albtraum gehalten hast, der sich nun, mit fettem Grinsen auf seiner Drecksvisage als Realität zu erkennen gibt? Wie ist das, wenn der Gedanke an den kommenden Tag dir den Wutschweiß aus der Haut treibt, du über jede kommende Minute wie über eine Messerklinge laufen wirst und dir dabei wünschst, deine Augen wären Henkersbeile, die alles zu Fetzen schlagen, was ihnen begegnet?

Derartige Poesie, die Pillbury als Schlachthaus-anarcho-Punk bezeichnet und als Text für eine seiner Bands genutzt hätte, fuhr Tony Tanner jeden Morgen durch den Kopf. Er woll­te es nicht, er versuchte ruhig zu bleiben, aber die Worte stürmten brüllend wie eine wild gewordene Schulklasse eines dem Wahnsinn verfallenen Internates durch die Flure seiner Gedanken.

Hätte jemand Tony Tanner aufgefordert, das Ambiente zu beschreiben, in dem er nun sein Leben verbrachte, hätte er auf Filme wie Mad Max oder anderen postapokalyptischen oder postatomaren B-Film-Kram verwiesen. Was fehlte waren nur die ansonsten immer auftau­chenden Motorrad-Gangs, die von halb nackten Amazonen auf mehr oder weniger lautstarke Art eliminiert werden, um tranigen Siedlern die Möglichkeit zu eröffnen, weiter an der neuen Zivilisation zu basteln.

Niemand hatte sich die Mühe gemacht, der Ansammlung von Wellblechhütten einen Namen zu geben. Warum auch, der Unterschied zwischen einer namenlosen Geisterstadt und diesem Ort bestand nur in der zeitweiligen Bewohnerschaft, die nach wenigen Tagen aus­nahmslos den Wunsch hatte, ihren Aufenthaltsort für immer zu verlassen. Wahrscheinlich war irgendein Kommisskopf in der Nähe gewesen, als man die Hütten vor langer Zeit aufstellte. Deswegen standen sie erkennbar in drei Reihen und verströmten den herben Charme eines Straflagers.

Es gab eine Verwaltung, in der der blondierte Widerling und seine Genossen herumlun­gerten und ihre Räume hatten. Diese windschiefe Hütte war der Mittelpunkt der Ansiedlung, ihre Seele könnte man sagen, sofern sich der Begriff Seele in diesem Zusammenhang nicht von selbst verbot. Der Grund bestand in dem dort vorhandenen Tresor, in dem Lohngelder lagerten. Links und rechts waren Schuppen für Material und Vorräte. Sie waren mit dicken Ketten gesichert, zeigten aber dennoch immer wieder Spuren von Versuchen, in sie einzudrin­gen. Solche Unternehmungen galten vor allem dem Bier, das dort aufbewahrt wurde. In einem Schuppen brummte ein stinkender Zweitakter vor sich hin, der die Stromquelle der Ansiedlung darstellte. Er betrieb einige elektrische Lampen, das Funkgerät, mobile Klimaanlagen für die Aufseher und ein Kühlaggregat, mit dessen Hilfe das Bier auf einer Temperatur gehalten wurde, die, um sich noch einmal des reichhaltigen Wortschatzes von Alexander Pillbury zu bedienen, pissewarm war.

Die mittlere Reihe wurde von größeren Hütten gebildet. Der blondierte Oberaufseher hatte irgendwo den Begriff Sozialräume aufgeschnappt und ihn anlässlich seiner zackigen Begrüßungsrede für die Mittelreihe genutzt. Aber selbst diese rhetorische Glanztat konnte nicht verdecken, dass es sich auch hier nur um windschiefe Schuppen über festgetretenem Boden handelte. Weil bei allen zwei Eingänge existierten, sodass man in der Nacht wenigs­tens nicht in Gefahr geriet, in der muffigen Luft unter dem Wellblech zu ersticken, weil die Türen offen gehalten wurden, nutzte man diese Unterkünfte als Schlafräume. Einer diente als Waschraum, das Wasser wurde über ein Plastikrohr von einem Tank oberhalb der Senke hineingeführt.

Das Essen wurde in einem der Zelte serviert (servieren = Aufbringen eines undefinierba­ren Gemisches auf einen Blechteller mittels einer Blechkelle unter Erzeugung eines Geräusches, das wie Flatsch klingt) wurde, zugleich eröffnete hier am Abend die Bar. In dem nächsten Zelt schliefen die Aufseher, denn der Stromerzeuger konnte nicht die ganze Nacht betrieben werden, also war die Leinwandbehausung die angenehmere Möglichkeit. Das drit­te Zelt durfte nicht genutzt werden. Warum, wusste keiner, Tony vermutete, es diente als Möglichkeit, die Arbeiter zu schikanieren.

Die dritte Hüttenreihe hatte einige Besonderheiten zu bieten. Da gab es den Abort, der in beispielhafter Menschenfreundlichkeit seinen Gestank in möglichst großer Entfernung zum Messezelt ausgärte. Daneben war das Gefängnis (Version blondierter Oberaufseher), das von Steele und anderen als Ausnüchterungszelle bezeichnet wurde, während Tony Tanner von Trinkerheilanstalt sprach, sich aber nicht mehr die Mühe machte, diese Bezeichnung als iro­nisch zu deklarieren, weil nicht jeder einen Sinn für diese eher europäische Art des Humors hat, und von denen, die um Tony herum lebten, keiner.

Der Knast war windschief, und ein fester Tritt des Insassen hätte ihn zum Einsturz gebracht. Da aber wohlweislich nur besinnungslose Bierleichen dorthin verbracht wurden, die nach der Ausnüchterung meist wegen des Gestanks von nebenan mit heftigster Übelkeit zu kämpfen hatten, stand das Bollwerk der improvisierten Justiz recht sicher und fest. Es folgten weitere Materialschuppen, dann kam die Küchenhütte und ab dann hätte sich ein Spaziergänger am Ende seines Rundgangs befunden.

Für das Kochen zeichneten einige Aborigine-Frauen verantwortlich, wie viele es waren, konnte Tony nie genau herausfinden, denn die scheuen Gestalten in ihren lächerlichen geblümten Kleidern huschten nur wie Gespenster zwischen den Hütten umher. Tony vermu­tete, dass die Frauen irgendwo in der Nähe in einem Lager lebten. Er war weiterhin davon überzeugt, dass diese Ureinwohnerinnen nicht die Absicht hatten, den weißen Männern den Aufenthalt durch gutes Essen zu verschönern. Das Verteilen des Essens übernahmen die Aufseher, die dadurch schon im Vorfeld jeden Protest gegen die als Essen deklarierte Pampe unterbinden konnten. Immerhin lernte Tony, dass die Nudel als solche ein Nahrungsmittel war, auf das die Aborigines seit Jahrtausenden und meist vergeblich gewartet hatten. Jetzt erfreuten sie sich an dieser Teigware und kochten sie jeden Tag zusammen mit einer künstli­chen Soße zu einem Brei, von dem auch der kritischste Gourmet anerkennend sagen musste, dass er den Magen füllte, sofern man den Mut besaß, ihn irgendwie dorthin zu bekommen.

Wenn das Wecksignal durch das Lager dröhnte, füllten sich die Wege zwischen den Hütten mit taumelnden, brabbelnden Männern, die zum Waschhaus taperten und sich mit einer Hand Wasser im Gesicht das Gefühl hygienischen Verhaltens sicherten. Zu dieser Zeit war Tony schon auf dem Posten. Er wusste inzwischen, dass der Mann, der das Ölfass bear­beitete, nach getaner Arbeit die Böschung erklomm und oben den Haupthahn des Wassertanks öffnete. Das Gluckern in den Rohren signalisierte Tony, dass er ab jetzt einige Minuten hatte, um sich zu reinigen. Eigentlich waren diese Versuche von vornherein zum Scheitern verur­teilt. Nach kurzer Zeit, wenn die Hitze den Schweiß aus den Poren getrieben hatte, setzte sich der aufgewirbelte Staub vieler Füße wie eine Panade auf Haut und Haare und verschaffte jedem die abschreckende Farbe eines Zombies.

Aber trotzdem waren diese wenigen Minuten wichtig, denn sie dienten dazu, Tony Tanner den Rest von Selbstachtung zu erhalten, der für ihn lebenswichtig war, das Gefühl, dass die Umstände ihn noch nicht völlig seiner verhassten Umgebung gleichgehobelt hatten.

Zum Frühstück versammelten sich die Männer grußlos und knurrend, mit vom Suff ver­quollenen Augen, im Messezelt. Es gab labbrigen, teils schon angeschimmelten Toast, nach Chemie schmeckende Marmelade und den unvermeidlichen Nudelbrei. Tony und Steele gehörten zu der Minderheit, die sich Nudeln auf die Teller klatschen ließen, weil sie sich auf diese Weise immerhin einen ausreichenden Kalorienvorrat sichern konnten.

Die Ex-Soldaten und einige der Abenteurer gingen nach derselben Methode vor. Die anderen stopften sich fluchend das vollkommen nährstoffentleerte Brot und die Marmelade genannte Zuckerpaste in den Rachen. Dennoch gab es einen frühen Höhepunkt des Tages, denn der Kaffee schmeckte zwar scheußlich, war aber immerhin flüssig und derart stark, dass er auch den lahmsten Kreislauf in Schwung brachte.

Nach einer Weile wortloser, aber geräuschvoller Nahrungsaufnahme – bei der Tony Tanner darauf bestand, mit Messer und Gabel zu essen und damit auf Steele jedes Mal wirkte wie ein alter Aristokrat auf einer Strafgaleere – begann der Blondierte herumzubrüllen. Seine Worte waren unverständlich, was er sagte, blieb indessen immer dasselbe: »Wenn ihr glaubt, ihr könnt hier fressen, ohne zu arbeiten, habt ihr euch geschnitten. Wir sind kein Sozialverein.«

Nach diesem Gebrüll, das so unvermeidbar war wie eine Werkssirene, machten sich die Männer auf den Weg. Aus einem Materialschuppen wurden ihnen Schaufeln und Hacken zugeteilt, jedes Mal mit der Bemerkung, ja nur sorgfältig mit dem Kapital ihres Arbeitgebers umzugehen.

Sie stapften daraufhin den festgetretenen Pfad aus der Senke hinaus, manche in Gruppen, die meisten alleine und warteten darauf, dass die Aufseher sie zur Arbeit einteilten.

Auch Tony hatte längst erkannt, dass ihre Tätigkeit völlig sinnlos war. Manche Gruppen bauten einen Zaun in die Einöde, andere Gruppe sollten mithilfe der wenigen Baumaschinen Wege anlegen. Das alles war absolut lächerlich, aber bald erstickte der Staub jeden Gedanken, sofern man einen gehabt haben sollte. Man band sich ein Tuch vor Mund und Nase und mach­te das, was die Aufseher verlangten. Ein Idiot wie der Blondierte, der manchmal mit großer Geste einen Plan entfaltete und sich vorkam wie Lesseps beim Bau des Suezkanals, war gar nicht in der Lage, den Unfug der gesamten Veranstaltung zu durchschauen. Die Mischung aus Staub, Schweißgeruch und den fettig schwarzen Abgaswolken aus den Auspuffrohren der Bulldozer reichte völlig, um ihn von der fundamentalen Wichtigkeit dieser Baustelle zu über­zeugen. Tony hatte in dieser Hinsicht das Gefühl, etwas über das Prinzip der Politik in einer modernen Mediendemokratie lernen zu können.

Es gab eine Mittagspause und Arbeit, und dann war Schluss und man schlurfte zurück zur Senke, versuchte, den Staub aus den Poren zu kratzen oder versuchte es auch nicht, weil es einem egal war, bekam abendliche Nudelpampe und fieberte dem Höhepunkt des Tages ent­gegen.

Dieser bestand darin, dass Bier verkauft wurde. Da fast alle Männer den Preis von Bier sehr genau aus eigener, langjähriger Forschung kannten, waren die Preise auch hier in der Einöde nicht wesentlich höher. Der Aufschlag wurde durch den Transportweg erklärt.

Man konnte sich seinen Lohn täglich auszahlen lassen, die meisten nutzten diese Möglichkeit und legten zumindest einen Teil des Geldes in Alkohol an.

So kam es, dass der Tagesausklang darin bestand, dass die Männer herumsaßen und sich systematisch betranken, während ein Rekorder eine Madonna-Kassette durchnudelte, deren Klänge deswegen so beliebt waren, weil jeder der Zuhörer – einige heimliche Homosexuelle sowie Tony Tanner ausgenommen – schon die Gelegenheit gehabt hatten, die Unterleibseinzelheiten dieser großen Künstlerin des internationalen Popgeschäftes per Video zu studieren.

Für Tony waren das die schlimmsten Stunden. Er konnte sich nicht einfach verziehen, das wäre sofort registriert worden. Also saß er nahe dem Zeltausgang auf einer harten schmalen Bank und beobachtete die Rücken der Männer, die sich im Licht der nackten Glühbirnen immer weiter über den Tisch beugten, während sie sich der Besinnungslosigkeit entgegensof­fen. Das war nicht das, was man soziales Trinken nennt. Es gab keine Gespräche, schon allei­ne deswegen nicht, weil die Musik laut dröhnte. Jeder Versuch zur reduzierten Lautstärke, einmal durchgeführt von einem der Ex-Soldaten, führte sofort zu Protest, und dann lag eine Prügelei in der Luft.

In Tony wuchs der Verdacht, dass sich diese Männer in irgendein fernes Paradies aus den Zeiten vor der Entwicklung des Homo sapiens zurücksaufen konnten. Sie schienen das biss­chen Grips, das sie in ihren Köpfen durch die Gegend trugen, so zu hassen, dass sie es in Bier ersaufen mussten. Wenn Tony das Bedürfnis hatte, sozial zu denken, machte er sich klar, dass jeder Mensch – und Tony Tanner erst recht – eine Insel mit dunklen Ruinen in seinem Inneren trägt, die er am liebsten unter den Fluten begraben weiß, und seien es die Fluten von Gerstensaft oder Feuerwasser oder Kartoffelschnaps.

Für einige der Männer traf das zu. Zu den wenigen, mit denen Tony mehr als zwei Worte gewechselt hatte, gehörte ein ehemaliger Lehrer aus Melbourne. Der Mann schämte sich zu Tode, nicht, weil seine Frau mit seinem besten Freud ge… (hier wurde ein Wort genutzt, das Tony Tanner nicht kannte und das ihm erst Steele als vulgärstmögliche Bezeichnung des Geschlechtsaktes offenbarte, was Tony hinwiederum sich schon vorher gedacht hatte, was ihm aber dennoch lehrreich erschien, weil dieses Wort in Varianten die Hälfte der Verständigung der Männer füllte) hatte, er sie blutig schlug, sich betrank, einen Autounfall verursachte, der zwei Unbeteiligten das Leben kostete und innerhalb von drei Tagen vor dem absoluten Nichts stand. Was diesem Mann die Schamröte ins Gesicht trieb, war die völlige Banalität seiner Geschichte. So blöde, dass sie selbst in einer TV-Serie als allzu abgedroschen abgelehnt worden wäre. Und das war sein Leben gewesen, das war sein Abstieg, nicht einmal gedämpft durch das Bewusstsein, ein Schicksal zu haben, nein, man hatte seine Banalität und die trank man sich weg bis zum Erbrechen.

Nach einer Weile wurde die Spannung unter den Männern spürbar. Sie saßen herum wie Bären, manchmal sagte einer was und ein anderer antwortete oder vielleicht antwortete er auch nicht, sondern sagte was anderes. Irgendwann kam es dann zum ersten Streit. Tony konnte niemals herausfinden, was der Anlass war. Irgendein ein falscher Blick, ein Rempler mit dem Ellenbogen, eine aufgeschnappte, nur halb verstandene Bemerkung genügte. Einer der Männer stand auf, wankend, pflügte durch die eng sitzenden Reihen und schlug zu. Tony war sicher, dass nur in wenigen Fällen derjenige, der den Schlag abbekam, mit demjenigen identisch war, der als Auslöser gewirkt hatte.

Es war egal. Irgendwann, irgendwie musste der Schlag fallen. Die Männer begannen zu grölen, jemand wollte Wetten annehmen, der Geschlagene wehrte sich. Manchmal kam es zu einem kurzen Faustkampf, meist bekamen sich die Männer zu packen und rangen, wie aus­trudelnde Kanonenkugeln durch das Zelt zirkelnd, Tische und Männer und Bierdosen kippten um, Bänke und Männer und Bierdosen purzelten, durch das Gegröle drangen Wutschreie, eine Faust krallte sich in einen Haarschopf und riss den Kopf krachend gegen eine Tischkante, Bierdosen flogen, die Massenschlägerei war da. Wer nicht mitprügelte, umringt die Kämpfenden, brüllte sich heiser. Es war eine Mauer von Stiernacken und breiten Schultern, die die ineinander verkeilten Männer umgab, manchmal zurückwich und auf diese Weise dokumentierte, wie sich die Kämpfer auf dem Boden weiterwälzten.

Diese Streitereien waren ebenso verbissen und unschön wie Hundekämpfe.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Tony Tanner, Steele und einige weitere schon außer­halb des Zeltes. Sie machten sich damit zu sozialen Parias, Unberührbaren, die der Kaste der wahren Männer fernbleiben mussten. Andererseits waren sie auch notwendig, denn nach etwa einer Viertelstunde gehässigster Prügelei ebbte die Begeisterung ab, man wankte zu der Krankenstation, in der es Aspirin und Pflaster und Verbände gab, popelte sich Gazestreifen in die blutenden Nasen, zog sich locker gewordene Zähne heraus und warf sich auf seine Lagerstätte. Die anderen räumten derweil auf, stellten Tische und Bänke wieder hoch, mach­ten also die Weiberarbeit, wie das unter den echten Kerlen genannt wurde. Einer der Ex-Soldaten sammelte sich bei diesen Gelegenheiten Material für eine Zahnkette zusammen. Die ehemaligen Militärs machten übrigens auch nicht mit bei den Prügeleien, verloren dadurch aber kein Prestige, weil einer von ihnen mit einem Karateschlag einen Tisch geteilt hatte und dazu erklärte, sie seien als Killer ausgebildet und man solle sie doch bitte mit Knabenspielchen in Ruhe lassen.

Daraufhin sagte Steele den Dreien ins Gesicht, sie seien ehemalige SAS-Leute, was wie­derum Steeles Renommee bei den drei Ex-SAS-Leuten steigerte.

Wenn die Tische und Bänke wieder standen, huschte eine Aborigine in das Zelt und wisch­te Blut und Erbrochenes weg, das Geräusch des Stromerzeugers setzte aus und nächtlicher Frieden breitete seine schwarzen Fittiche über das Lager bis zum Anbruch des nächsten Scheißtages.

»Hast du den Alten gesehen?«, fragte Steele an einem der Morgen Tony. Beide saßen im klammen Sand, den Rücken gegen die feuchte Zeltwand gelehnt. Aus den Hütten klang lau­tes Schnarchen.

Helena hatte ihn in der Nacht wieder besucht, Steele glaubte, in ihren Augen eine stum­me Anklage zu lesen. Er war mit stolperndem Herzen aufgewacht, in der Kehle ein Löwengebrüll der Trauer und er hatte es hinuntergeschluckt wie einen Gifttrank und war auf­gestanden und nach draußen gegangen. Dort saß schon Tony Tanner. Tony hatte in den Nächten das Gefühl, irgendjemand würde die Scheußlichkeiten der letzten Wochen – die Attacke auf Colesalvetti, Loreta – auf Dias ziehen, die Dias zerschlagen und ihm die Glassplitter unter die Lider reiben. Er konnte sich gegen diese Träume nicht wehren, sie kamen, sobald ihm die Müdigkeit die Augen schloss. Dann raste ein Kaleidoskop an Schrecknissen durch sein Hirn, ließ ihn schweißgebadet hochspringen, todmüde und schlaf­los. Seine Narben an der Schulter schmerzten oft, dass es Tony durchzuckte, als hätte ihn ein Speer getroffen.

Woher kamen diese Träume? Warum kamen sie jetzt, an diesem Ort? Bisher hatte sich Tony sogar gewundert, mit welcher Leichtigkeit er manche Dinge wegstecken konnte. Die blauen Flecken blieben, während die dazu gehörigen Geschehnisse hinter einem Vorhang ver­schwanden und sich aufzulösen schienen. Aber hier, hier an diesem angeblich heiligen Ort kamen sie wieder, kamen mit der monströsen, unbesieglichen Wucht eines schwarz behaarten Trolls, der aus dem Wald in ein Dorf stürmt.

»Habe ich«, beantwortete Tony Steeles Frage. »Er kommt öfter. Ich habe ihn schon einige Male gesehen.«

»Und? Klaut er?«

»Nein. Er scheint nur oben an der Kante langzulaufen und zu schauen. … Da ist er wie­der!«

Als hätte ihr Gespräch den Alten herbeigerufen, erschien sein Schatten vor dem ersten Grau des Tages. Seltsamerweise waren sich Steele und Tony einig, dass es tatsächlich ein alter Mann sein musste, obwohl sie ihn nicht genau erkennen konnten. Aber es lag wohl an dem buschigen Bart, der dem Mann zusammen mit dem typischen Profil des Aborigine etwas Faunhaftes gab, oder an dem vorgewölbten Bauch, der nicht zu den dürren Beinen mit den faltigen Knien passte oder vielleicht auch an der langsamen Art zu gehen, die der Mann an sich hatte.

»Er hat einen Speer«, fasste Steele das in Worte, was Tony selbst sah.

»Den hat er immer dabei«, antwortete Tony.

»Dann muss es hier in der Nähe ein Lager geben«, überlegte Steele.

»Ja, einen ausgebrannten Truck als Wohnhaus und jede Menge Müll.«

Der alte Mann schien an der Kante der Senke entlang zu balancieren und war dann plötz­lich wieder verschwunden. Obwohl sein Auftreten etwas Gespenstisches hatte, erschien er Tony als sehr real. So real wie die Kängurus, und die waren bisher das Einzige, was für Tony nicht den Anschein eines austauschbaren Versatzstückes auf einer kontinentweiten Bühne hatte.

»Ich frage mich, was der Kerl hier will, wenn er nicht klaut«, brummte Steele.

»Vielleicht ist er auf der Jagd.«

»Wir haben mit unserem Lärm alles vertrieben, was nicht gänzlich debil ist. Na ja, viel­leicht sucht er die Baustelle ab.«

»Baustelle!«, schnaubte Tony. »Ein Witz ist das, aber keine Baustelle.«

»Wie schön, einen Menschen mit verwandten Ansichten zu treffen«, antwortete Steele. »Bleibt die Frage, was wir hier sollen. Ich meine, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen muss man doch nicht hier in diese Einöde legen.«

»Ablenkung? Gibt es vielleicht irgendwo eine andere Stelle, wo die eigentlich Sache statt­findet?«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, bestätigte Steele. »Aber das nützt uns gar nichts. Zum einen ist das nur eine Hypothese. Nehmen wir an, es wäre mehr als eine Hypothese, dann müssen wir nur einige Monate lang suchen, schon haben wir die Stelle, um die es eigentlich geht, gefunden. Was mich am meisten nervt, ist die Tatsache, dass wir uns selbst kaltgestellt haben. Wir sitzen hier mitten im Nichts, wissen, dass es hier noch weniger als nichts herauszufinden gibt, und kommen hier nicht weg.«

Damit versank Steele in düsteres Schweigen, aus dem nur das Mahlen seiner Kiefer als leises Knirschen herausklang.

Der Tag war ein Abziehbild des vorigen oder des nächsten. Eine Abwandlung gab es aller­dings. Tony glaubte, ein oder zwei Aborigines zu sehen. Sie tauchten aus der flimmernden Luft als schwarze Schemen auf und waren im nächsten Moment wieder verschwunden. Tony konnte die Stelle nicht länger beobachten, denn schon stieß ihn ein Aufseher in den Rücken und trieb ihn weiter.

Die Ureinwohner wirkten in keiner Weise feindlich gesinnt, aber ihr verstohlenes Verhalten gab Tony zu denken. Er fühlte sich nicht bedroht, aber er fragte sich doch mit immer drängender Intensität, was diese Leute wollten.

Schließlich entschied er sich, vor dem Mittagessen einfach nachzufragen. Die Frauen, die in der Kochhütte hantierten, mussten doch wissen, wo ihre Leute waren und was sie vorhat­ten. Als Tony die wenigen Schritte zu der Blechhütte zurücklegte, fragte er sich, warum er bis­her noch niemals diesen Weg gegangen war. Das hier schien ein Bereich zu sein, den alle instinktiv mieden. Lediglich die Aufseher, die die Töpfe zum Zelt schleppten, näherten sich der Hütte.

Als Tony näher kam, lugte ein kleiner Kopf um eine Ecke, schaute ihn mit großen Augen an und verschwand dann wieder. Erst nach einer seltsamen Schrecksekunde, in der ihm alle kuriosen Märchenbilder seiner Kindheit aufzusteigen schienen, verstand Tony. Nein, kein Zwerg, kein Gnom, kein Troll, kein Kobold, nur – leidgeprüfte Eltern würden an dieser Stelle ein schlimmer noch einfügen – ein Kind.

Logisch, wo Frauen waren, waren Kinder nicht fern. Tony klopfte an die Wand der Hütte, um sich anzumelden, trat in den dunklen Raum und wurde von lautem Kreischen empfangen.

In der Mitte des Raumes war ein großer Benzinkocher aus Armeebeständen, auf dem der unvermeidliche Nudelbrei samt Soße zu kompletter Geschmacklosigkeit verkochte. Die Benzinflammen gaben ein blaues Licht, in dem er die groß geblümten Kleider der Frauen, er wusste nicht, wie viele es waren, erkennen konnte. Plötzlich hasste er diese Kleider, weil sie nach Missionsschule, der herablassenden Wohltätigkeit und Güte der weißen Eroberer aussa­hen, und wirkten, als wollten sich die Frauen selbst lächerlich machen.

Aus dem Dunkeln schauten ihn große Augen an, glitzernd vom Widerschein der Flammen. Dann tauchten die hellen Handflächen der Frauen auf, winkten, wedelten, wollten ihn vertreiben.

»Entschuldigen Sie bitte, ich habe eine Frage«, sagte Tony betont langsam, damit sie ihn verstehen konnten. Zumindest eine der Frauen musste Englisch sprechen können, wie sonst hätte sie überhaupt diesen Job bekommen?

Aber die Frauen schrien weiter, wollten ihn wie eine Fliege hinauswedeln, ohne sich jedoch selbst von der Stelle zu rühren. Die Situation war vollkommen lächerlich, Tony stand kurz davor, in Lachen auszubrechen. Und dann schlug alles um und wurde zum Albtraum und er war es, der schuld an diesem Gekreische und dieses hysterische Gebaren hatte, einfach weil er hier war.

Eine Hand schlug auf Tony Schulter, dass er einknickte, eine andere Hand riss ihn nach draußen.

»Wenn du einen Fick willst, du Drecksack, dann nimm deine eigenen Finger, hier gibt’s keine Nutten«, blökte ihn einer der Aufseher an, der den Kessel holen wollte, und stieß Tony fort.

Damit schien die Sache erledigt zu sein. Der Mann brüllte in der Hütte und erschien sofort darauf wieder mit einem der Kessel. Aber Tony hatte eine Frauenstimme gehört, die in gebro­chenem, aber verständlichem Englisch etwas gesagt hatte.

Am Abend dann geschah etwas Unerwartetes. Vor dem Essen, als die meisten Männer ihre Gerätschaften zurückgaben oder sich schon mit Wasser und Seife beschäftigten, kam der Alte in die Senke.

Vielleicht war es Zufall, aber Tony und Steele waren die Ersten, die ihn sahen. Mit einer Selbstverständlichkeit, die sich selbst zur Erklärung genügte, stieg die dunkle Gestalt den Abhang hinunter und trat zwischen die Wellblechhütten. In dem schwindenden Licht erkann­te Tony, dass es tatsächlich der Mann sein musste, den er schon öfter gesehen hatte. Es war eine mittelgroße Gestalt, leicht gebeugt, mit buschigem weißen Bart und kinnlangem Haar, um das er eine Kordel geschlungen hatte. Diese Kordel war zusammen mit einer zerrissenen Shorts die einzige Kleidung, die der Mann trug.

Bei dem Gesicht mit der breiten, flachen Nase dachte Tony unwillkürlich an die Abbildung eines Zwerges aus einem Kinderbuch. Der Alte stolzierte an Tony vorbei, ohne ihn zu beachten. Steele sah die Blicke der Männer, die sich auf den Aborigine richteten, er sah das Gesicht des blondierten Oberaufsehers und er wusste, was geschehen würde.

Es würde jetzt sofort eine fürchterliche Menge Ärger geben.

Aus dem Türspalt drang der Geruch nach Essen – es musste irgendetwas mit Sauerkraut, Schweinebraten und Klößen sein, sehr deftig, aber auch sehr appetitlich.

»Ja, bittääää?«

Dorkas konnte von dem Wesen, das ihn durch den Türspalt betrachtete, nur ein Auge erkennen. Jetzt wusste er zumindest, dass er sich einer Frau gegenübersah und dass diese Frau auch einen Mund zu haben schien.

Die Worte, die diesem Mund entflohen, verwirrten Dorkas allerdings ein wenig. Er hatte sich in den letzten Tagen einen Intensivkurs der deutschen Sprache verordnet und war mit sei­nen Kenntnissen recht zufrieden. Den Härtetest glaubte er bestanden zu haben, als er die Erklärungen eines Bahnbeamten auf dem Münchner Hauptbahnhof begreifen und erfolgreich umsetzen konnte.

Aber der Zungenschlag dieser Frau war ihm gänzlich neu und er fragte sich verzweifelt, ob die Bewohner von Heidelberg diese Sprechart traditionell nutzten oder ob diese Frau auch so eine Art Intensivkurs gemacht hatte wie er selbst.

Dorkas räusperte sich und schaute auf die massive Türkette, die vor dem Gesicht der Frau baumelte und ebenso entmutigend wirkte wie das verrammelte Stadttor einer mittelalterlichen Siedlung.

»Wir würden gern Doktor Troiger sprechen. Wir haben gestern mit Doktor Troiger telefo­niert. Wir haben einen Brief für Doktor Troiger, von einem Kollegen.«

Nervös klopfte sich Dorkas die Taschen ab, fand den Brief und entfaltete ihn wie eine Parlamentärsflagge.

»Bittäää wartäään wolläään, ich gähää Doktor Troigääär fragään.«

Damit wurde die Tür zugeschlagen und Dorkas und Little sahen sich achselzuckend und entmutigt an. Sie standen in einem verglasten Vorbau, der am Ende einer Eingangstreppe die Haustür vor Wind und Wetter schützen sollte. Troiger wohnte in einer einzeln stehenden Villa, die in einer Kartusche oberhalb eines großen dreiteiligen Fensters die Jahreszahl 1883 trug.

»1883 – in diesem Jahr brachte Kluge das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache heraus und Stevensons Schatzinsel wurde veröffentlicht«, hatte Dorkas erklärt, als er die quietschende Gartentür aufdrückte und den schmalen, von nassen Blättern bedeckten Weg zur Eingangstreppe entlang ging. »Es war also sicherlich ein erinnerungswürdiges Jahr, selbst wenn ich mir aus der Rückschau immer die Frage stelle, wieweit die Verwerfungen unseres scheußlichen Jahrhunderts, das ja nun Gott sei Dank erledigt ist, schon spürbar waren.«

Little beantwortete Dorkas’ enthusiastische Kurzvorlesung nicht. Er betrachtete mit Skepsis das Haus. Es lag in einem großen Garten, eigentlich mehr einer Rasenfläche, aus der einige alte Bäume erhoben. Von Weitem sah der Rasen gepflegt aus, bei näherem Hinsehen erkannte Little, dass das Gras fast vollkommen durch Moosflächen verdrängt worden war. Kleine Zweige und Rindenstücke bedeckten den Boden, bei jedem Windstoß tanzten braune Blätter von den Bäumen. Die Villa selbst wirkte hochherrschaftlich und auch hier hielt der erste Eindruck dem zweiten Blick nicht stand. Moos auf dem Dach, eine löchrige Regenrinne und abgeblätterte Fassadenfarbe zeugten von einer Vernachlässigung, die sich bald auch dem ers­ten Blick enthüllen würde.

Vor den Fenstern waren die Rollläden herabgelassen. Auch hier blätterte die Farbe vom Holz, sammelte sich grauer Schmutz in den Fugen, der vom Regen wieder herausgewaschen wurde und lange dunkle Streifen hinterließ.

Es hätte Little nicht gewundert, wenn draußen ein Schild mit der Aufschrift Zum Verkauf gestanden hätte.

Insofern war Little schon überrascht, als sich auf Dorkas anhaltendes Klingeln aus der Tiefe des Hauses schlurfende Schritte näherten und die Tür wenigstens einen Spalt weit geöff­net wurde. Jetzt rammte er die Fäuste in die Manteltaschen und zog den Kopf in den Kragen. Es war nicht die unangenehm feuchte Kälte oder der heftige Herbstwind, der ihn frösteln machte. Little spürte an diesem Ort eine große Einsamkeit, als befände er sich auf einer Insel weit draußen in einem Meer, in dem keine Schiffe mehr fahren.

»Dieser Vorbau passt zu dem Haus wie die Faust aufs Auge«, sagte Little plötzlich. »Ob es hier keinen Denkmalschutz gibt?«

»Tatsächlich? Ist mir gar nicht aufgefallen. Na ja, dieses weiße Plastik hier ist sicherlich nicht original«, murmelte Dorkas. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich einen besonde­ren Empfang auszumalen, insofern war er weder überrascht noch enttäuscht. Nur etwas beun­ruhigt, denn was sollten sie machen, wenn sich Troiger weigerte, sie zu sehen?

Eine Weile standen die beiden Männer stumm herum. Little betrachtete die dicken Spinnweben in den oberen Ecken des Vorbaus, und Dorkas untersuchte angelegentlich die moderne Konstruktion und versuchte, das Baujahr zu erraten.

Die Minuten verrannen. Jene Zeitspanne des Wartenlassens, die die Höflichkeit erlaubt, war schon längst abgelaufen. Inzwischen wäre es eine Frage der Selbstachtung für die beiden Männer gewesen, zu gehen. Aber sie blieben und warteten. Geflissentlich beobachtete Dorkas einen gelben Postwagen, der in den Häusern der Nachbarschaft Pakete ablieferte. Er war so in seine Betrachtung vertieft, dass ihn das Rasseln der Kette auf der anderen Türseite zusam­menzucken ließ.

Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, zuerst nur einen Spalt, durch den das schon bekannte Auge spähte.

Dann, mit einem: Bittäää, wolläään einträtään, die Härrrschaffttään, wich die Tür zur Seite und gab den Blick auf eine untersetzte Frau fortgeschrittenen Alters frei. Sie trug einen wei­ßen Kittel, der ihr ein wenig den Aspekt einer Krankenschwester gab, der allerdings durch Pantoffeln mit rosa Pompoms konterkariert wurde.

»Ich bin Haushältäärin von Doktor Troigär, bittäää wollään folgään die Härrschaffttään.«

Die Haushälterin von Doktor Troiger schloss die Tür, nachdem sie einen misstrauischen Blick nach draußen geworfen hatte, als befürchte sie das plötzliche Auftreten eines dritten Gastes. Sie drückte die Tür leise und vorsichtig zu und ging dann vor den beiden Männern einen Flur entlang. Es war dunkel, ein unbestimmter muffiger Geruch stieg in die Nase, der staubige Geruch lange Zeit ungelüfteter Räume.

Sie wurden durch eine Küche geführt. Durch eine halb offene Tür erkannte Dorkas ein Wohnzimmer. Aus einem Radio drang böhmische Blasmusik. Eine Glastür schloss den kur­zen Flur, in den sie nun traten, ab.

Die Frau deutete die Richtung an, nickte und verschwand.

Fortsetzung folgt …