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True Crime: Totmacher 1

True crime ist ein Sachgenre in der Literatur und im Film, in welchem der Autor ein wirklich stattgefundenes Verbrechen untersucht und über die Handlungen von echten Protagonisten ausführlich berichtet. Die Verbrechen schließen meistens Mord ein, aber Kriminalität beinhaltet auch andere Rechtsverletzungen. Abhängig vom Schriftsteller kann bei der Darlegung eines wahren Verbrechens grundsätzlich an gesicherten Erkenntnissen festgehalten werden, oder sie kann höchst spekulativ sein. Einige true crime-Werke sind »Bücher für einen Augenblick«, die auf vielfachen Wunsch schnell mal gedruckt wurden, während andere die jahrelange wohlüberlegte Forschung und Ermittlung widerspiegeln und einen hohen literarischen Wert besitzen. Andere wiederum überdenken historische Verbrechen (oder angebliche Verbrechen) und schlagen Lösungen vor, wie zum Beispiel Bücher zu Fragen politischer Morde, zu bekannten ungelösten Morden oder zum Tod von Prominenten.
In Totmacher 1 findet der geneigte Leser unheimliche Kriminalfälle deutscher Serienmörder in der Zeit zwischen 1945 und 1977, zusammengestellt von Gerd Frank, veröffentlicht im Verlag Kirchschlager Arnstadt.

Gerd Frank
Totmacher 1
Der Vampir von Nürnberg und andere unheimliche Kriminalfälle deutscher Serienmörder (1945 – 1977)
Taschenbuch, Verlag Kirchschlager Arnstadt, Juni 2014, 200 Seiten, 12,80 Euro, ISBN: 9783934277465

Leseprobe:

Am Freitag, dem 5. Mai 1972, saß der Leichenwärter Georg Wurm gegen 22.30 Uhr in seiner Dienstwohnung neben dem Krematorium am Nürnberger Westfriedhof. Er sah fern, aber das Programm sagte ihm nicht sonderlich zu. Seit Wochen schon beschäftigte ihn ein berufliches Problem und das auch noch nach Dienstschluß!

Ende April hatten sich einige Angehörige Verstorbener an ihn gewandt und sich darüber beklagt, daß den Toten offensichtlich Eheringe und andere Schmuckstücke abgenommen worden seien. Das allein hatte den beleibten Mann nicht aus der Ruhe bringen können. Des öfteren schon hatten sich derlei Verwandte geirrt, waren die vermißten Gegenstände in den Wohnungen der Verstobenen wiedergefunden oder – wegen ihres hohen Wertes – von der Leichenfrau vorsorglich abgenommen und für die Hinterbliebenen aufbewahrt worden. Seit aber eines Tages die »Bierkasse« des Friedhofspersonals aufgebrochen auf dem Tisch im Wartezimmer gestanden hatte, war Wurm klar, daß tatsächlich ein Dieb zu später Stunde durch die Hallen und Räume des Gebäudes schleichen mußte.

Der ehemalige Soldat, den die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges zu seinem Beruf gebracht hatten, nahm an, daß der Langfinger unter den Bediensteten der Gräberanlage zu suchen sein müsse, denn an den Türen fanden sich keine Spuren eines gewaltsamen Aufbrechens. Um nicht unnötigen Wirbel zu verursachen und die ganze Belegschaft in Verruf zu bringen, hatte Wurm den Vorfall bisher geheimgehalten und sich vorgenommen, den Täter selbst zu stellen. Mit ein paar Ohrfeigen und der sofortigen Rückgabe der gestohlenen Schmuckstücke durch den ertappten Schurken wollte er die Sache aus der Welt schaffen.

Plötzlich schrillte das Telefon. Eine Rentnerin, die gegenüber dem Osteingang des Friedhofes wohnte, hatte zwischen den Gräbern eine »dunkle Gestalt« herumhuschen sehen. Die Frau wollte Wurm vor dem Eindringling warnen. Doch der Leichenwärter nahm den Hinweis unerschrocken zur Kenntnis und machte sich mit grimmiger Entschlossenheit allein auf den Weg. Auf Zehenspitzen begab er sich in das Büro im Hochparterre und wartete ab. Die Zeit verging zunächst, ohne daß etwas geschah.

Der ungebetene Besucher war zudem schon in der Leichenhalle. Bereits viermal hatte der Eindringling in der Vergangenheit diesen schmucklosen Saal aufgesucht. Viele- licht trachtete er tatsächlich danach, etwas zu stehlen. Doch trieb den Einbrecher auch noch etwas Anderes an die Särge.

Vielleicht fand sich darin wieder einmal ein hübsches Mädchen, dessen Blut er trinken konnte!

Er mußte sich lediglich vor seinem Bruder Georg in acht nehmen. Denn der hatte vor kurzem gefragt: »Sag einmal, spinnst du, Kuno? Warum studierst du die Todesanzeigen in den Zeitungen? Warum besuchst du grundlos die Leichenhalle? Willst du dich etwa an den toten Frauen vergnügen?« Natürlich hatte er ihm nicht geantwortet, doch er war vorsichtiger geworden. Der Intimbereich der Toten interessierte ihn nämlich nur in zweiter Linie. Er fühlte sich befreit und erregt, wenn er Leichenblut sah – so, wie damals bei dem Mädchen am Südfriedhof.

Der Einbrecher stutzte. Zwar konnte er Wurms Schritte nicht hören, denn er war taub, doch in der Leichenhalle brannte ungewohnterweise Licht. Eine innere Stimme warnte ihn. Irgend etwas war diesmal nicht in Ordnung. Hastig wandte sich der Dieb um und stolperte die Stufen zum Ausgang hinaus. Vorsichtshalber zog er dabei seine Pistole. Sein Bruder hatte ihm – und sich selbst – eine solche Waffe vom Kaliber 7,65 mm (für 500 DM das Stück) über einen Ausländer besorgt. Der Flüchtende liebte Pistolen und Gewehre. Mit Waffen konnte man anderen Menschen seinen Willen aufzwingen. Menschen, die ihn sonst keines Blickes würdigten, weil er so klein war, nicht hören konnte und auch nicht in der Lage war zu sprechen.

Schon stand der verhinderte Dieb an der Türe, da packte ihn plötzlich jemand von hinten am Kragen. Er war entsetzt. War es ein Leichnam oder ein richtiger Mensch? Für einen Augenblick wich aus dem Ertappten alle Kraft, denn die 1,80 m große Gestalt hinter ihm mit ihrem dunklen Kinnbart sah gar nicht furchterregend aus.

Leichenwärter Georg Wurm hatte der Zorn des Gerechten gepackt. Wütend zerrte er seine Beute drei Meter weit ins diffuse Licht am Aufzug: Ein fremder Mann von kleiner Statur, Mitte 30, mit einer Brille auf der knolligen Nase, kurz: ein mickriges Kerlchen, das da zwischen seinen Fäusten zappelte. Schon hob Wurm die Hand und wollte dem Langfinger ein paar runterhauen.

Wurm erklärte später: »Da tut es plötzlich einen Knall. Ich zucke zusammen und lasse den Burschen los, geh in die Knie, wie ein geschlagener Boxer. Ich hab noch bemerkt, wie der Kerl dreckig gegrinst hat, dann ist er davongewetzt.« Wurm griff sich an den linken Oberbauch. Warm und klebrig begann sich dort eine Blutlache auf dem Hemd abzuzeichnen. Die Wunde schmerzte nicht. So konnte der Angeschossene auf allen Vieren zurück zum Telefon ins Büro kriechen.

Mit zitternder Hand wählte Wurm die 110. Der Beamte am anderen Ende der Leitung schaltete schnell. Streifenwagen und ein Sanka rasten schon Sekunden später los in Richtung Tatort. Zu diesem Zeitpunkt kroch Wurm zur Toilette, um seine Notdurft zu verrichten. Das war ein lebensgefährliches Unternehmen, denn die Kugel hatte – wie sich später herausstellte – Dünn- und Dickdarm sowie die Blase verletzt. Wurm mußte für zwei Wochen das Bett hüten, dann wurde er wieder nach Hause entlassen. Vier Jahre später war er dennoch tot, denn er war einem Herzinfarkt erlegen. Hatten aber nicht doch die Nachwirkungen der Schußverletzungen eine Rolle gespielt?

Während sein schwerverletztes Opfer mit fast übermenschlicher Kraft noch die Polizei alarmiert hatte, radelte der rücksichtslose Schütze über Grabwege davon in Richtung Südumzäunung. Hastig warf er das Fahrrad, das er aus einem Arbeiterraum am Osteingang entwendet hatte, zu Boden, kletterte über die Holzpfähle und schwang sich auf sein rotes Mofa, das er dort im Gebüsch verborgen hatte.

Während auf der gegenüberliegenden Seite mit Blaulicht die Funkstreifen vorbeirasten, fuhr der verhinderte Mörder seelenruhig nach Hause.

Kripo und Erkennungsdienst begaben sich mittlerweile an den Tatort, um erste Untersuchungen vorzunehmen. Am Morgen ging man daran, den Computer anzuzapfen: Alle bereits polizeilich bekannten Totengräber, Sittlichkeitsverbrecher, Leichenschänder und Friedhofseindringlinge mußten überprüft werden. Wenige Stunden später wurden 50 Kriminalbeamte auch aus anderen Ressorts abgestellt, um mit den Alibi-Überprüfungen zu beginnen. Viele der Betroffenen schliefen an diesem Samstagmorgen noch, machten einen Ausflug, kauften ein oder waren aus sonstigen Gründen nicht zu Hause anzutreffen. Man wartete, suchte andere Adressen auf. Der Tag verrann wie im Flug, doch man kam nicht richtig voran.

Ob der unbekannte Schütze noch einmal zuschlagen würde? Wie berechtigt eine solche Frage war, zeigte sich zur selben Stunde an einem Waldrand, etwa 1,3 km von der Ortschaft Lindelburg im Landkreis Lauf/Pegnitz, östlich von Nürnberg. Dort parkte ein hellgrauer Mercedes. In ihm schlief – nach einem Picknick – das Liebespaar Markus Adler (24) und Ruth Lissy (19). Der junge Mann leitete mit seiner Mutter eine Spedition in Oberhausen, die junge Frau war Verkäuferin in Nürnberg. 1969 hatte sich das Paar während eines Jugoslawienurlaubs kennen- und liebengelernt. Seitdem waren beide unzertrennlich. Sooft Markus Zeit fand, fuhr er mit seinem flotten Wagen nach Nürnberg zu seiner hübschen Verlobten.

Auch am 6. Mai war er wieder morgens vor Lissys elterlicher Wohnung in der Peterstraße vorgefahren. Zwei Stunden hatten die beiden bei Ruths Mutter verbracht, dann war man mit dem Mercedes zu einem unbeschwerten Samstagsausflug losgebraust. Wo sich die jungen Leute bis gegen 18 Uhr überall aufgehalten hatten, ließ sich nie mehr klären. Erst die Zeit danach und das sich allmählich anbahnende Drama konnten später von der Landeskriminalpolizeiinspektion Schwabach rekonstruiert werden.

Um die Zeit der Abenddämmerung näherte sich der nächtliche Schütze vom Westfriedhof dem geparkten Mercedes. Seit neun Uhr morgens war er mit seinem Mofa unterwegs gewesen. Er hatte, wie schon so oft, die Wälder im Nürnberger Osten durchstreift und dort Schießübungen veranstaltet. Zwar hörte er das Krachen der Waffe nicht, wenn aber die Projektile runde Löcher in Verkehrszeichen stanzten oder Holzstücke aus Bäumen fetzten, machte ihm das großen Spaß. Ebenso das Schießen in einen Sprung Rehe, auf den er zufällig traf.

Hin und wieder war der kleine Mann mit dem schwarzen Pullover und der braunen Hose auch in Gaststätten eingekehrt, hatte ein Bier getrunken und deftig Fränkisches gegessen. Doch sein Ausflug hatte noch andere Grunde, als nur Schießübungen zu veranstalten. Er wollte Blut sehen, Blut, das schön und stark machen sollte, ihm vielleicht half, hören und sprechen zu können. Vor allem aber sollte es ihm zur Macht über Frauen verhelfen. Nur im Bordell, in Pornoheften und Filmen hatte er bisher das kennengelernt, was seine Bekannten unter »Liebe machen« verstanden. Die Dirnen hatten ihm gegenüber nie Zuneigung gezeigt, sondern immer nur rasch »das Geschäft« erledigt. In ihren Mienen hatte der Ausgestoßene immer nur Ekel gelesen.

Aber er wollte auch geliebt werden, zärtlich und auf Dauer, endlich vergessen, daß er für das andere Geschlecht bisher nur ein Mensch zweiter Klasse gewesen war. Schon als Kind hatte ihn sein trunksüchtiger und geisteskranker Vater immer nur windelweich geprügelt. Seine Mutter behauptete sogar, aufgrund dieser Schläge seien er und Georg taubstumm geworden (ein Arzt hatte dagegen in den 30er Jahren die Krankheit als Folge einer Mittelohrentzündung der beiden Buben diagnostiziert).

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Anmerkung: Der Text der Leseprobe wurde nicht auf der Grundlage der neuen deutschen Rechtschreibung korrigiert, da der Verlag ausschließlich die alte deutsche Rechtschreibung verwendet.

(wb)