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Das Geisterschiff – Kapitel 1

John C. Hutcheson
Das Geisterschiff
Kapitel 1
Die Stern des Nordens

Die Sonne versank an jenem Abend in einem rubinrotgoldenen Flammenmeer hinter dem Horizont. Das Abendrot überflutete den Ozean bis zum Zenit nach Westen hin mit einer Fülle schillernden Lichts, welches Meer und Himmel gleichermaßen in eine lebendig wirkende Pracht verwandelte. So großartig und herrlich war die leuchtende Harmonie der kaleidoskopischen Färbung, die den Himmelsbogen und das Wasser unter ihm aufleuchten ließ. Ja, von Augenblick zu Augenblick änderte sich der Farbton mit einer erstaunlichen Schnelligkeit in endloser Abfolge und Vielfalt!
Den ganzen Tag über sah das Wetter mehr als bedrohlich aus. Zu früher Stunde hatte der Wind ständig seine Richtung geändert, um an Stärke zu gewinnen. Das Meer erhob sich, die weißen Pferde Neptuns hatten bereits begonnen, über die Kämme der anschwellenden Wellen zu springen, die sich nach oben und unten hoben und mit einem schweren ächzenden Ton wie ein langer, tiefgezogener Seufzer vorwärts rollten.

Es schien, als ob der alte Monarch, verärgert durch die Neckereien übermütiger Zephire, sich allmählich in einen Zorn hineinsteigerte und sich sehr wahrscheinlich in seiner Art und Weise abreagieren würde, als dieses melancholische Gejammer, was als untypisch im Vergleich zur üblichen Donnerstimme des Meeresgottes bezeichnet werden konnte.

Ja, das sah wahrhaftig bedrohlich aus!

Vor dem Frühstück wehte eine frische Brise aus Richtung Nordost, bis Mittag blies der Wind aus Nord und zum Nachmittag hin drehte er zunächst auf Nordost, danach auf Ost. Von Stunde auf Stunde frischte der Wind immer mehr auf, zum Sonnenuntergang hin häufig von starken Böen begleitet. Ein Zeichen für das geübte Auge des Matrosen, dass sich nach und nach etwas Heftigeres zusammenbraute.

Mit einem Blick über den Rand bemerkte ich, dass unser tapferes Schiff Stern des Nordens sehr unruhig wurde.

Sie lief unter ihrem Klüver und Focksegel, mit dem vorderen Mars- und Bramsegel wie die meisten Ozeandampfer vorwärts. Um Kohlen zu sparen und die Motoren zu schonen, hatte der Skipper ebenso die vorderen und wichtigen Sturmsegel mit Gaffeltoppsegel und Stagsegel setzen lassen, und jeden verfügbaren Fetzen, den er ausbreiten konnte.

Der enormen Druck auf das Segeltuch überstieg fast dessen Belastbarkeit. Die arme alte Bark krängte immer mehr, da sie mehrere Breitseiten, verursacht durch heftige Böen, welche über Achtern hinwegrollten, über sich ergehen lassen musste. Das Heck hob sich durch einige größere Brecher, die sich unter dem Kiel ihren Weg bahnten, sodass die Schraube wirkungslos ohne Kontakt mit dem Wasser die Luft durchwirbelte. Racing, wie die Matrosen es in ihrer Sprache sagen, verbunden mit einer harten knirschenden Erschütterung, die mir durch und durch ging. Es schien mein Rückenmark zum Vibrieren zu bringen, als ich für einen Moment an Deck unmittelbar über der sich drehenden Schiffswelle stand.

Zur gleichen Zeit, als sich das Heck des Schiffes gegen die wogenden Wassermassen aufbäumte, stürzte der Stevenschuh wiederum mit einem nachhallenden Schlag in das Wellental zwischen diesem und dem nächsten Brecher hinab. Die gute alte Bark tauchte ihren Bug mit der sternengekrönten und goldgelockten Jungfrau in das Wasser unter. Es sah so aus, als ob die Galionsfigur mit ihrem glitzernden schwarzen Rumpf die aufgebrachten Wellen teilte und sie mit den Händen daran hinderte, an Bord zu springen; zuerst nach Backbord und dann nach Steuerbord, als das Schiff zu kentern drohte.

Es war jedoch nur ein vergeblicher Versuch der närrischen Schergen Neptuns, sich sowohl rücksichtslos als auch im Zorn anzustrengen, weil das Schiff sie mit dem Stevenschuh verschmähte, die sternengekrönte Jungfrau von ihrem Platz oberhalb der Wasserstag sich zu ihnen spöttisch vor Freude verbeugte und über sie triumphierend ritt, sodass die verdutzten Krakeeler gezwungen waren, sich nach ihrem tollkühnen Angriff in kreisenden Wirbeln nach Achtern zurückzuziehen, wo sie sogleich durch die grausame Schiffsschraube mit ihren erbarmungslosen Blättern in Stücke gerissen wurden – jeder Wirbel mit ohrenbetäubender Monotonie. Dumm-dumm, dumm-dumm …

Die SS Stern des Nordens war ein großer Segelschoner mit stählernen Schotten und fast zweitausend Pferdestärken, welcher voll beladen und unter Volldampf fast die Hälfte an Knoten eines normalen Passagierschiffes erreichen konnte. Sie gehörte zu einer bedeutenden Reederei, die eine Schifffahrtslinie zwischen Liverpool und New York unterhielt. Das Schiff befand sich auf seiner letzten Fahrt des Jahres, gemäß unseren Berechnungen vom Mittag auf einer Position von 42° 35′ nördlicher Breite und 50° 10′ westlicher Länge, d. h. direkt unterhalb der Grand Banks von Neufundland und etwas südlicher als der für die Saison üblichen Kurs zu unserem amerikanischen Hafen. Dies war infolge des Wunsches von Kapitän Applegarth, unserem Skipper, der, wie ich bereits sagte, die Vorteile der wechselnden Winde des Nordatlantik so weit wie möglich ausnutzen wollte, um Kraftstoff einzusparen. Kein leichtes Unterfangen, bei niedrigem Wasserstand über den Großen Teich zu fahren, wie es die Yankees nennen. Ja, sie müssen ihre Betriebskosten auf niedrigem Niveau halten, um wettbewerbsfähig bleiben zu können. Da ist volle Fahrt auf der gesamten Route nicht angebracht. Im Fall der Postschiffe und erstklassigen Passagierschiffe mit enormer Dampfkraft, entsprechend hoher Geschwindigkeit und einer hohen Kohlerechnung sieht das schon anders aus. Sie sind wahre Windhunde der Ozeane, welche die Passage zwischen Queenstown und Sandy Hook innerhalb von sechs Tagen vollbringen. Ja, auch dieser Rekord verspricht in naher Zukunft gebrochen zu werden.

Einen Tag vor unserer Abreise von Liverpool ereilte mich ein Ereignis sehr zu meiner Überraschung und Freude, welches ich mir in den kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. Der Eigentümer des Schiffes beförderte mich unerwartet vom »Lehrburschen« zum Vierten Offizier. Bis zu unserem letzten Auslaufen verlor ich keinen einzigen Gedanken an einen so schnellen Aufstieg. Natürlich musste ich meinen alten Freund Kapitän Applegarth für mein Glück danken, da der Skipper ein gutes Wort für mich eingelegt hatte. Ich kann nicht genau wiedergeben, aus welchem Grund er dies tat. Ich war noch sehr jung, gerade mal im siebzehnten Jahr, recht jungenhaft und bartlos noch dazu! Aber sei es, wie es sei, ich war in dieser Zeit, von der ich berichte, Vierter Offizier.

Ich erinnere mich noch ganz genau an jenen Abend.

Es war am 7.  November an meinem Geburtstag, ein Umstand, der allein ausreichen würde, dieses Datum im Gedächtnis zu behalten. Ich wäre bereit, all dies zu vergessen. Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich.

Nein, ich versichere es Ihnen, dass ich dies nicht tun werde.

Es wäre unhöflich von mir, Sie im Unklaren zu lassen, da Sie es sich sicherlich bereits bequem gemacht haben, um meine Geschichte kennenzulernen.

Ich möchte Ihnen erzählen, was geschehen ist. Danach werden Sie selbst in der Lage sein, ein Urteil darüber abzugeben.

4 Antworten auf Das Geisterschiff – Kapitel 1