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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 6 – 4. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
4. Kapitel

Eine Entdeckung

Ein Geräusch im Nebenzimmer ließ sie auffahren.

»Ist jemand dort?«, fragte sie erschreckt.

Statt der Antwort schlug der Detektiv die Portiere zurück und stand nun im hellerleuchteten Türrahmen.

»Mr. Holmes … Sie …«

»Erschrecken Sie nicht, Miss Sommerfield. Ich glaube, dass ich zur rechten Zeit komme.«

Noch immer starrte die junge Dame den Detektiv wie entgeistert an.

»Aber, ich habe doch niemand klingeln hören. Wer hat Ihnen denn die Korridortür geöffnet?«

»Ich mir selbst; ich möchte Sie bitten, mich mit anderem Maß zu messen als das übrige Publikum«, setzte er lächelnd hinzu, »hätte ich nicht unter Umständen den von uns gesuchten Verbrecher für immer verscheuchen können, wenn ich auf die gewöhnliche Art und Weise mir Eintritt bei Ihnen verschafft hätte?«

Edith errötete bis in die Schläfen.

»So sind Sie Zeuge meiner Unterhaltung mit Walter Wortmann gewesen?«

»Allerdings.«

»Um Gotteswillen; nun werden Sie ihn verhaften.«

Sherlock Holmes lächelte eigentümlich, ja überlegen. »Ich sehe keinen Grund hierfür«, erwiderte er.

»Aber haben Sie nach allem, was Walter Wortmann mir zugestanden hat, noch einen Zweifel, dass er der Mörder Robert Nortons, meines unglücklichen Bräutigams, ist oder sein Helfershelfer?«

»Fragen Sie mich lieber nicht, Miss Edith. Ich könnte Ihnen auf alle Fragen, welche Sie anscheinend auf dem Herzen haben, doch nicht antworten. Im Übrigen schadet es der Sache durchaus nicht, wenn Sie ihn für den Mörder halten.«

»Aber wollen Sie mir nicht den Grund Ihres eigenartigen Besuches mitteilen? Nehmen Sie Platz.«

»Zunächst wollte ich Erkundigungen einziehen, ob Sie vielleicht irgendein Lebenszeichen von Ihrem Bräutigam oder vielleicht demjenigen erhalten haben, der sich für diesen ausgibt?«

»Nichts, Mr. Holmes; es sind ja auch erst wenige Stunden seit unserer ersten Unterredung verflossen. Glauben Sie überhaupt, dass, wenn ein Mord vorliegt, der Mörder sich hierher nach London begeben wird?«

»Er ist schon hier.«

»Mr. Holmes, Sie erschrecken mich«, rief Edith mit zitternder Stimme. »Irren Sie sich auch nicht? Ich bin überzeugt, dass Sie ein äußerst kluger und gewandter Detektiv sind, aber wie sollte es Ihnen möglich sein, in dieser kurzen Zeit eine so schwerwiegende Entdeckung gemacht zu haben?«

Der Detektiv ergriff ihre Hände und zog sie wieder auf den Sessel nieder, von dem sie aufgefahren war.

»Fassen Sie sich und beruhigen Sie sich«, sagte er dann, »Sie müssen nach wie vor mit der Tatsache rechnen, dass Robert Norton tot ist.«

»Ich bin davon überzeugt«, erwiderte sie seufzend.

»Nun, dann kann die Mitteilung, welche ich Ihnen machen will, Sie nicht niederschmettern. Robert Nortons Vermögen ist heute Vormittag bei der Barrowbank abgehoben worden von einem Menschen, der, wie ich selbst erfahren habe, eine große Ähnlichkeit mit Norton hat. Mir haben es hier unzweifelhaft mit einem lang vorbereiteten Streich zu tun, denn der Verbrecher – und für mich steht ein Verbrechen außer Frage – muss einen Mithelfer hier haben.«

Trotz aller Energie und Selbstbeherrschung, welche Edith Sommerfield in hohem Grade besaß, traf sie dieser Schlag doch stärker, als Holmes vermutet hatte. Mochte ihr Herz auch nicht mehr mit der Innigkeit an dem Bräutigam hängen, wie zu der Zeit, als er sie verließ, die Gewissheit aber, dass an ihm ein Verbrechen begangen sein musste, dass der, an dessen Seite sie sich in ihren Träumen für ihre Lebenszeit gesehen hatte, ihr unwiederbringlich entrissen war, raubte ihr fast die Besinnung.

Der Detektiv ließ sie ausweinen. Was für einen Trost hätte er der Unglücklichen spenden können, welche den Bräutigam und den, welchen sie wie einen Bruder geliebt hatte, an einem Tag verloren geben musste. Endlich hatte sich der heftige Schmerz gelegt.

»Ich könnte mich nun entfernen, Miss Edith«, wandte sich Holmes an die Weinende, »nachdem ich mich überzeugt habe, dass der Betrüger Ihnen keinen Besuch abgestattet hat, wie ich befürchtete. Aber ich habe in meiner Tasche zufällig das Stückchen Zeitungspapier gefunden, welches dem Brief des unglücklichen Robert Norton entfiel und welches ich für einen Teil eines Bilderrätsels ansehe. Vielleicht entsinnen Sie sich, dass Sie schon mehrfach derartige Zettel in den Briefen Ihres Bräutigams gefunden haben.«

Edith blickte noch etwas verstört auf das unscheinbare Blatt.

»Nein«, erwiderte sie, »ich weiß bestimmt, dass Roberts Briefe niemals derartige Einlagen enthalten haben.«

»Hm, ich kann mich nicht von der Idee trennen, dass dieses Blatt nicht zufällig in den Brief geraten, sondern absichtlich beigefügt worden ist.«

»Dann müsste dies von dem Verbrecher selbst hineingelegt worden sein, da dieser nach Ihrer Ansicht den Brief geschrieben hat.«

»Ganz meine Meinung.«

»Aber was kann ihm daran liegen, dass mir jenes Blatt in die Hände kommt?«

Holmes lächelte wie stets, wenn seine Klienten seinem Gedankengang nicht zu folgen vermochten.

»Ich glaube nicht, dass ihm daran sonderlich gelegen war, aber würden Sie mir wohl gestatten, dass ich in Ihrer Wohnung eine kleine Durchsuchung vornehme?«

»Wenn Sie es für notwendig und zweckmäßig halten, gewiss, obwohl ich mir keinen Vers aus Ihrem Vorhaben machen kann.«

»Würden Sie dann die Liebenswürdigkeit haben, Ihre Bediensteten auf kurze Zeit fortzuschicken?«

»Ich habe für meine kleine Häuslichkeit nur ein Dienstmädchen, außerdem ist noch eine entfernte Verwandte als Gesellschafterin bei mir. Ersteres unter irgendeinen Vorwand fortzuschicken, ist mir ein Leichtes; wie ich aber Helene zum Ausgehen bewegen soll, ist mir vorläufig noch rätselhaft.«

»Versuchen Sie es nur.«

Kaum hatte sich die Dame entfernt, als sich der Detektiv ihrem Schreibtisch zuwandte. In einem Schubfach steckte der Schlüssel. Ein Druck – und das Innere des Faches lag den Blicken des unberufenen Mannes frei.

»Der Aufbewahrungsort ihrer Liebesbriefe«, murmelte er, als er einen Blick auf die dort liegenden Schriftstücke geworfen hatte. Dann unterwarf er den Schlüssel einer eingehenden Besichtigung.

»Ich dachte es mir«, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort, indem er den Schlüssel in die Westentasche steckte.

»Nun«, wandte er sich an Miss Sommerfield, die in diesem Augenblick eintrat, »ist die Luft rein?«

»Ja«, versetzte die Angeredete, »wir können von Glück sagen; meine Cousine Helene ist vor einigen Minuten ausgegangen, und mein Dienstmädchen habe ich mit einem Auftrag fortgesandt, der es mindestens eine halbe Stunde der Wohnung fernhält. Genügt Ihnen das?«

»Vollkommen; wollen Sie mich zunächst in das Zimmer Ihrer Cousine führen.«

»Vielleicht fangen Sie hier bei mir an, Mr. Holmes!«

»Ist bereits erledigt.«

»Und haben Ihre Nachforschungen Erfolg gehabt?«

»Ganz die, welche ich erwartet hatte.«

»Wissen Sie, Mr. Holmes, dass ich anfange, mich vor Ihnen zu fürchten?«

»O nicht doch, Miss Edith; alle meine Berechnungen sind so einfacher Art, dass ich mich fast schäme, sie Ihnen mitzuteilen. Später sollen Sie alles erfahren.«

Die Dame des Hauses schritt dem Detektiv nun voran und wies auf eine Tür, welche jenseits des Korridors zu einem Hinterzimmer führte.

»Hier wohnt meine Cousine Helene; brauchen Sie mich zu Ihrer Durchsuchung?«

»Im Gegenteil; es wäre mir lieb, wenn Sie hier auf dem Korridor den Aufpasser spielten, damit ich nicht überrascht werde.«

Holmes trat in das unverschlossene Zimmer ein. Es war, wie er bei dem Gaslicht bemerkte, das die Bewohnerin zu löschen vergessen hatte, nur klein. In einer Fensternische stand ein altmodischer kleiner Ecktisch, der, wie die Schreibmappe und das Schreibzeug bewiesen, als Schreibtisch benutzt wurde. Schnell durchstöberte Holmes die Mappe, in der sich jedoch nur unbenutzte Briefbogen befanden.

Schon wollte er sie beiseitelegen, als er plötzlich aufsah und die an der Wand hängenden Bilder und Fotografien musterte. Sein Kopf streckte sich wie bei einem auf Beute ausgehenden Geier vor. Eine ziemliche Zeit stand er in dieser beobachtenden Stellung unbeweglich da. Dann griff er wieder zur Schreibmappe und riss hastig die beiden oberen Löschblätter, welche vollständig mit Tintenflecken bedeckt waren, heraus. Dann versuchte er mit dem aus Ediths Zimmer mitgenommenen Schlüssel die Schublade des Ecktisches zu öffnen. Es gelang sofort.

Edith Sommerfield klopfte an die Tür.

»Ich glaube, meine Cousine kommt.«

»Ich bin auch mit meiner Durchsuchung zu Ende«, versetzte der Detektiv im Hinaustreten. »Vorläufig leben Sie wohl; wenn Sie irgendetwas Merkwürdiges erleben sollten, machen Sie mir umgehende Mitteilung.«

Im Begriff, die Korridortür zu öffnen, prallte er mit einer hochaufgeschossenen, ziemlich verblühten Dame zusammen. Eine gewisse Familienähnlichkeit mit Edith ließ den Detektiv in ihr die Cousine Helene erraten.

Mit einer kurzen Verbeugung verabschiedete sich Holmes, nicht ohne die wortlos Vorübergehende noch einmal scharf gemustert zu haben.

»So«, sagte er halblaut, als er auf der Straße stand, »jetzt werde ich beweisen, dass ich doch nicht der Esel bin, den mich Walter Wortmann vor Fräulein Sommerfield genannt hat.«

»Wer weiß«, flüsterte diese in demselben Augenblick, »ob Robert Norton nicht trotzdem am Leben ist und selbst sein Vermögen abgehoben hat. Irren kann auch der schlauste Detektiv.«

Sherlock Holmes begab sich ungesäumt zu seiner Wohnung in der Bakerstreet, die er schon seit einem Jahrzehnt innehatte.

»Aha«, murmelte er, als er das Abendessen bemerkte, das seine Wirtin ihm vorsorglich zurechtgestellt hatte, »ich scheine noch nicht zu Abend gegessen zu haben.«

Während er rein mechanisch die Speisen verschlang, blickte er unverwandt auf die beiden Löschblätter, welche er aus seiner Brusttasche hervorgezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte.

»Hier habe ich offenbar den Schlüssel zur Lösung des Rätsels vor mir«, sagte er vor sich hin. »Es ist eine Aufgabe, wie ich sie mir seit Langem gewünscht habe: außergewöhnlich, aus dem Rahmen des täglichen Einerlei heraustretend, die ganze Spannkraft erfordernd, um sich nicht durch Zufälligkeiten, welche in jede Sache hineinspielen, ablenken zu lassen. Freilich fühle ich, dass die ganze Lösung dieses interessanten Falles von dem Entziffern des Bilderrätsels abhängig ist. Aber zuerst das Nächstliegende.«

Nachdem er die Reste der Abendmahlzeit beiseitegeschoben hatte, breitete er ein Löschblatt so auf den Tisch aus, dass das Licht voll auf die kreuz und quer laufenden Tintenstriche, mit denen das Blatt ganz bedeckt war, fiel. Gespannt musterte er die Zeichen.

»Nur durch Fotografie möglich«, murmelte er, als er auch das zweite Blatt einer eingehenden Besichtigung unterworfen hatte. Er holte einen etwa mannshohen Rahmen hervor, befestigte die beiden Löschblätter auf demselben und stellte sie nun in kurzer Entfernung dem Spiegel gegenüber auf. Dann setzte er seinen fotografischen Apparat zusammen, stellte die im Spiegel sichtbaren Löschblätter auf der Mattscheibe ein, schob die Platte in den Falz – ein Druck auf den Ballon der Magnesiumlampe – ein greller Blitz, und die Arbeit war getan.

»Das Weitere werde ich nur bis morgen aufsparen«, murmelte er. »Ich bin überzeugt, dass mir die fotografische Platte das Hauptgeheimnis enthüllen wird.«

Er kleidete sich sorgfältig an, überzeugte sich, dass Frack und Beinkleid tadellos saßen, steckte seinen Revolver, ohne welchen er nie ausging, wieder ein und verließ zum zweiten Mal die Wohnung.

Fortsetzung folgt …