Werbeclip

Archive

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 6 – 2. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
2. Kapitel

Auf Robert Nortons Spur

Kaum hatte Edith Sommerfield – so lautete der Name der Dame auf der von ihr zurückgelassenen Karte – den Detektiv verlassen, als dieser schnell ans Fenster trat und ihr nachblickte.

»Ich dachte es mir«, murmelte er, »bei Gott, ich habe keine Zeit zu verlieren.«

Schnell steckte er seinen Revolver ein, warf sich seinen Havelock über, stülpte sich einen breitrandigen Kalabreser auf den Kopf und stürmte die Treppe hinunter.

Vor ihm ging Edith Sommerfield in Begleitung eines Herrn, der eifrig auf sie einredete.

»Wallstreet 3«, murmelte er, als die beiden Per­sonen vor einem Haus Halt machten, »hier ist die Woh­nung von Fräulein Sommerfield.«

Er schritt schräg über den Damm, um nicht mit dem Herrn, von dem sich die Dame soeben verabschiedet hatte, zusammenzuprallen. Dann folgte er ihn bis zu einem Haus der Edwardstreet, in dem dieser verschwand.

»Walter Wortmann, Advokat«, las Holmes an dem an der Haustür angebrachten Schild. »Aha, der Sohn des Vormundes; ich weiß genug. Halt!« rief er einem vorüberfahrenden Droschkenkutscher zu, »fahren Sie mich so schnell wie möglich zur Kriminalpolizei, New Scotland Yard.«

Als er vor dem massiven Bau stand, in welchem die Londoner Kriminalpolizei untergebracht ist, blickte er zur Uhr.

»Vier Uhr«, sagte er, »um fünf Uhr schließen die Banken, ich habe also noch eine Stunde Zeit und muss sie nach Kräften ausnutzen.«

An des Polizeiinspektors Wilson Tür klopfte er bescheiden.

»Herein! Ach, ein seltener Besuch«, rief der joviale Beamte dem eintretenden Holmes entgegen. »Sicher ein großer Fall, der dich zu mir führt, denn auf andere Weise bekomme ich dich ja nie zu sehen.«

»Lieber Freund«, versetzte Holmes, »wenn ich so viel Zeit hätte, wie ein königlich-englischer Polizeibeamter, würde ich öfter bei dir vorsprechen und mir deine inter­essanten Fälle von dir erzählen lassen. Solange aber das Londoner Publikum mehr Vertrauen zu meiner Tätigkeit hat, wie zu der euren, musst du mir meine Saumseligkeit verzeihen.«

Der Inspektor lachte behaglich vor sich hin.

»Eigentlich sollte ich mit dir auf dem Kriegsfuß stehen«, sagte er, »dass du uns die besten Sachen wegnimmst und uns etwas in Misskredit bringst; aber du weißt, ich bin ein guter Kerl und einer deiner aufrichtigsten Be­wunderer; außerdem …«

»Lebst du dadurch auch viel bequemer als ich, der gehetzte Privatdetektiv«, ergänzte Holmes lächelnd, »aber lieber Wilson«, fuhr er ernst fort, »ich habe leider keine Zeit, um Artigkeiten zu sagen oder solche anzuhören.«

»Nun denn – los.«

Holmes zog sich einen Stuhl an den Arbeitstisch seines Freundes und reichte ihm die beiden Briefe.

»Um es kurz zu machen«, sagte er, als Wilson die Briefe gegen das Licht hielt und Miene machte, nach einem Vergrößerungsglas zu greifen. »Der Brief von dem unglücklichen Norton unterschrieben, ist eine grobe Fälschung, die ein Kind sehen könnte …«

»Wenn es deine Augen und Erfahrungen hätte, lieber Holmes«, unterbrach ihn der Polizeiinspektor.

»Und der andere Brief des glücklichen Norton ist echt; es ist dies leicht an der flotten Schrift, den glatten Rändern der Buchstaben und dem gleichmäßigen Fluss der Tinte, die selbst unter meiner ausgezeichneten Lupe keine Absätze zeigt, zu erkennen.«

»Du hast recht; auch ich halte den ersten Brief für gefälscht, warum aber in aller Welt will denn der Fälscher später eintreffen? Er muss doch befürchten, dass der wirkliche Norton vor ihm eintrifft.«

»Das ist ja das Furchtbare eben«, rief der Detektiv, »er wusste beim Absenden seines Briefes genau, dass der wirkliche Norton nicht mehr eintreffen konnte, weil er ihn entweder schon ermordet hatte oder in der nächsten Zeit ermorden wollte.«

»Dann sehe ich aber immer noch nicht ein, warum der Mörder überhaupt an die unglückliche Braut ge­schrieben und seine Rückkehr in Aussicht gestellt hat; er hätte den Bräutigam einfach verschwinden lassen können.«

»Das durfte er nicht, weil er befürchten musste, dass die Braut bei den Bankhäusern Nachfrage halten würde, ob der Bräutigam, den sie vermisste, nicht schon sein Gut­haben abgehoben hätte. Unter diesen Umständen aber musste sie von Tag zu Tag auf ihn warten, was sie ja auch in dem Glauben, beide Briefe rührten von ihrem Bräutigam her, redlich getan hat.«

»Glaubst du denn überhaupt, dass der Mörder, falls wirklich ein Mord vorliegen sollte, bei der Braut erscheinen wird? Er muss doch befürchten, als Betrüger angehalten zu werden.«

Sherlock Holmes zuckte die Achseln.

»Vier Jahre sind eine lange Zeit, in welcher ein

junger Mensch sich sehr verändern kann. Glaubst du denn, dass die Braut ihren Bräutigam sofort wieder­erkennen würde, selbst wenn sie seine Fotografie be­sitzt? Im Übrigen glaube ich vorläufig auch nicht daran, dass er die Frechheit besitzt, von der Braut des Ermordeten Besitz zu ergreifen.«

»Aber lieber Holmes, du sprichst immer von einem Mörder und einem Ermordeten, bisher sind beide doch erst Produkte deiner Fantasie. Hast du dich denn über­haupt schon überzeugt, ob das Bankguthaben des Mr. Robert Norton abgehoben ist? Es wird, selbst wenn der Eigentümer ermordet wäre, noch ruhig in den Geldschränken der betreffenden Bank liegen. Wie sollte der Mörder auch so genau die Adresse der Bank kennen?«

»Darum gerade, lieber Wilson, komme ich zu dir. Willst du mir den Gefallen tun und sofort durch deine Beamten anfragen lassen, an welche Bank Robert Norton sein Vermögen hat überweisen lassen, und ob es bereits abgehoben ist?«

»Sehr gern, lieber Holmes, in 15 Minuten hast du Antwort.«

Der Detektiv blickte zur Uhr.

»Noch 25 Minuten hätte ich dann Zeit bis zum Bank­schluss«, versetzte er. »Diese Frist würde zu meinen Fest­stellungen vollständig genügen.«

Der Polizeiinspektor hatte sich erhoben und im Telefonzimmer seine Befehle gegeben.

»Schau nicht so finster drein, alter Freund«, wandte er sich wieder lachend an den Detektiv, »glaube mir, du siehst Gespenster; Robert Norton liegt wahrscheinlich wirklich krank in New York oder ist womöglich ganz heil und gesund schon hier in London und lacht seine Braut und dich wegen Eurer Furcht aus.«

»Warum sollte er dann seine Braut nicht aufge­sucht haben?«

»Lieber Himmel, wie viel Gründe gibt es für einen jungen Mann, der nach vierjähriger Abwesenheit London wiedersieht, einen Tag lang einmal seine eigenen Wege zu gehen! Vielleicht hat er Reisegefährten gehabt, die ihn zu einem Abschiedsdiner in irgendein Vergnügungslokal verschleppt haben. Er mag irgendwo seinen Rausch ausschlafen oder irgendeine alte Liebe aufgesucht haben, kurz, es gibt hundert Ursachen, um nicht pünktlich bei seiner Braut zu sein.«

Sherlock Holmes schüttelte energisch den Kopf.

»Ich glaube nicht daran«, sagte er, »das sieht nicht dem Bild ähnlich, welches Edith Sommerfield von ihrem Bräutigam entworfen hat.«

»Nun, wir werden ja sehen; vorläufig glaube ich an kein Verbrechen«, erwiderte der Polizeiinspektor, sich wieder an seinen Schreibtisch setzend.

Die 15 Minuten waren noch nicht verstrichen, als ein Beamter mit einem Depeschenformular eintrat.

»Nun?«, fragte Wilson, »schon Antwort von einer Bank?«

»Jawohl, Herr Inspektor; soeben meldet die Bank von Barrow & Co., dass heute Vormittag das Guthaben des Herrn Robert Norton auf den von diesem selbst präsentierten Scheck abgehoben worden sei.«

Sherlock Holmes war aufgesprungen; er hatte in der plötzlichen Erregung mit der Faust auf den Tisch geschlagen, dass es knallte.

»Zu spät«, murmelte er, »einen Vorsprung von kaum sechs Stunden hat der Schurke, und doch wird er meinen Händen entschlüpfen – wenn er keinen Fehler begeht. Adieu, Wilson, vielen Dank.«

»Halt, ich begleite dich; du willst doch zur Barrow-Bank.«

»Allerdings.«

»So nimm mich mit, ich bin gespannt, wie der Scheckpräsentant beschrieben wird. Schade, dass wir von dem Bräutigam der jungen Dame keine Fotografie haben.«

Holmes lachte spöttisch auf.

»Die habe ich bereits in der Tasche«, versetzte er, »weil ich die Entwicklung der Sache genauso voraussah, wie sie eingetroffen ist.«

Während dieses Gespräches waren beide Herren in eine Droschke gestiegen, die ein Beamter auf einen Wink seines Inspektors in weniger als einer Minute herbei­geholt hatte. Die Weltfirma Barrow & Co. hatte ihren Sitz in der Wallstreet, in nicht zu weiter Entfernung von New Scotland Yard. Während der Fahrt sprachen die Freunde kein Wort; ein jeder von ihnen war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt.

Nur noch zehn Minuten fehlten an dem Schluss der Geschäftsstunden, als die Droschke vor dem mächtigen Bankgebäude hielt. Die Herren mochten wohl schon er­wartet worden sein, denn sie wurden, als Wilson seinen Namen und Amtscharakter nannte, sofort zu einem der Direktoren in dessen Privatkontor geführt.

»Sie hatten vorhin wegen des Bankguthabens des Mr. Robert Norton angefragt, nicht wahr?«, wandte er sich an Wilson.

»So ist es; wollen uns zunächst erkundigen, ob Ihren Beamten irgendwelche Bedenken betreffs der Person, welche den Scheck präsentiert hat, aufgestoßen sind?«

»Nicht im Geringsten; das Guthaben wurde uns von unserer New Yorker Filiale vor einigen Wochen überwiesen, und der uns heute Vormittag präsentierte Scheck war unzweifelhaft der von jener Filiale ausgestellte, wie wir an Geheimzeichen bestimmt erkannt haben.«

»Würde wohl der Beamte, der den Scheck in Emp­fang genommen und mit Norton verhandelt hat, diesen nach der Fotografie wiedererkennen?«

»Ganz bestimmt; ich selbst habe nämlich jenem Herrn das Geld ausgezahlt.«

»Wie hoch war die Summe?«, fragte Holmes.

»20.000 £ (40.000 Mark).«

»Alle Achtung, das hat sich gelohnt«, rief Wilson überrascht, »wenn nämlich ein Verbrecher seine Hand im Spiel haben sollte«, setzte er vorsichtig hinzu.

Der Detektiv zog die Fotografie, welche ihm Edith Sommerfield gegeben hatte, hervor.

Aufmerksam betrachtete sie der Direktor.

»Es ist kein Zweifel«, sagte er dann, »ich glaube bestimmt, dass der Herr, den diese Fotografie vorstellt, von mir das Geld erhalten hat.«

Der Polizeiinspektor Wilson brach in schallendes Gelächter aus.

»Also hat der wirkliche Robert Norton, der glück­liche Bräutigam, den du, mein lieber Holmes, für er­mordet hieltest, sein Vermögen richtig abgehoben und sich in London einen vergnügten Tag gemacht. Mag sein, dass er sich schon wohlbehalten in den Armen seiner Braut befindet.«

Holmes blickte finster zu Boden.

»Und ich sage dir«, erwiderte er mit fester Stimme, »dass mich diese Rekognition nach der Fotografie auch nicht einen Moment an meinen Mutmaßungen irre machen kann. Sie beweist nur, dass ich es im vorliegenden Fall mit einem außerordentlich gewieften und vorsichtigen Verbrecher zu tun habe.«

»Das nennst du vorsichtig, lieber Freund«, versetzte Wilson, »wenn der Verbrecher hier vor aller Leute Augen das Geld sich auszahlen lässt?«

»Sehr vorsichtig war er sogar, aber du würdest all meinen Ausführungen doch keinen Glauben schenken und alles für Hirngespinste und Fantasiegebilde halten, wo sich doch nur Stein auf Stein zu dem Gebäude fügt, das ich seit einer Stunde schon im Geist sehe. Lebewohl.«

Ohne weiter auf den Polizeiinspektor zu achten, schritt der Detektiv zur Tür hinaus.

»Es hat eigentlich keinen Zweck, Miss Sommerfield aufzusuchen«, murmelte er im Davongehen, »aber ich will ihr wenigstens die letzte Hoffnung, die sie haben könnte, nehmen; es ist unsinnig, sie noch länger im Zweifel zu lassen.«

Hastig trat er in einen tiefeingebauten Torweg, ein Griff in seine schier unergründlichen Taschen, und im Nu hatte er sein Gesicht mit einem kurzen Vollbart entstellt.

»Es ist nicht nötig, dass mich Miss Sommerfields Um­gebung in meiner wahren Gestalt kennenlernt; ich weiß nicht, ob ich nicht noch mehrfach bei ihr vorsprechen muss.« Und eilig machte er sich auf den Weg zur Wallstreet.

Fortsetzung folgt …