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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 3 – 8. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 3
Das Rätsel am Spieltisch
8. Kapitel

Maître Ganache

Vor einem armseligen Vorstadthaus in Paris hielt ein eleganter Wagen, der Schlag wurde von innen geöffnet und ein hochgewachsener, sehr elegant gekleideter Herr sprang heraus.

Man sah ihm sofort den Aristokraten an und ein Menschenkenner hätte in ihm einen Engländer erkannt.

»John«, wandte er sich an seinen Diener, einen feisten Kutscher mit einem Bulldoggengesicht, »fahre mit den Pferden ein wenig auf und ab, aber nicht in dieser Gasse, sondern dort auf dem Boulevard der Vorstadt. Ich dürfte etwa eine Viertelstunde in Anspruch genommen sein und werde dich dann aufsuchen.«

Der Kutscher lüftete steif den Hut, und der Wagen entfernte sich, während der vornehme Herr an die Haustür trat und kopfschüttelnd ein kleines, armseliges, metallenes Schild musterte, auf dem die Worte standen: Pierre Ganache, Advokat.

»Unbegreiflich!«, stieß der englische Aristokrat hervor. »Was mag denn der Mann von mir wollen? Sein Schreiben war so dringend und in einem so rätselhaften Ton gehalten – nun, wir werden sogleich sehen.«

Er zog die Klingel und bald darauf wurde die Tür durch einen jungen Menschen geöffnet, der offenbar der Advokatenschreiber war. Sein Anzug hätte besser sein können, und er machte ein Gesicht, als ob er beständig heftigen Hunger spürte.

»Ist Maître Ganache zu Hause?«, fragte der vornehme Herr, in den Hausflur tretend.

»Er ist in seinem Büro.«

»Bringen Sie ihm meine Karte.«

Aber kaum hatte der Advokatenschreiber einen Blick auf die Karte geworfen, als er ausrief: »Ah, Baronet Rudyard Biscount; Maître Ganache erwartet Sie; haben Sie die Güte, mir zu folgen!«

Über eine alte gebrechliche Holztreppe führte der junge Mann den Fremden hinauf ins obere Stockwerk.

Baronet Biscount vermied es, seine Hand mit dem schmutzigen Geländer der Treppe in Berührung zu bringen, denn er fürchtete, seine gelben Glacehandschuhe zu verderben.

»Treten Sie ein, Monsieur«, sagte der Schreiber und öffnete dienstfertig die Tür. In einem Gemach, welches, wie es schien, zugleich Schlafzimmer und Büro war, denn in einer Ecke gewahrte der vornehme Herr hinter einer zerrissenen spanischen Wand ein armseliges Bett, saß an einem wurmstichigen Schreibtisch ein, wie es schien, in sich zusammengesunkener Mann mit einem echten verkniffenen Advokatengesicht.

Runzeln bedeckten das Gesicht, und unter dem schwarzen Samtkäppchen, das er trug, stahlen sich spärliche graue Haare hervor. Das Männchen hatte einen sehr fadenscheinigen schwarzen Rock an, schützte den rechten Ärmel desselben aber trotzdem noch durch einen von Fett und Tintenflecken starrenden Schreibärmel.

»Sie sind Maître Ganache?«, fragte der Baronet mit fast verächtlichen Blicken.

»Zu dienen«, antwortete das Männchen, während er eine tiefe Verbeugung machte, »Maître Ganache, Advokat.«

»Sie haben mir geschrieben«, fuhr der Baronet fort, »und zwar in so seltsamer Weise, dass ich mich veranlasst gesehen habe, Ihrer Einladung zu folgen.«

»Wollen Euer Gnaden nicht die Güte haben, sich zu setzen?«, sagte Maître Ganache mit knarrender Stimme. »Junge, wirf diese Akten vom Sessel, wisch den Staub ab und rücke ihn Seiner Herrlichkeit zurecht, dann entferne dich.«

Nachdem dies geschehen war, befanden sich Maître Ganache und der vornehme Besucher endlich allein.

»Sie haben«, fuhr der Baronet fort, einen Brief aus der Tasche ziehend, »mir geschrieben, dass Sie mich in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen müssten. Sie behaupten, dass Sie in den Besitz von Papieren gelangt seien, durch welche Sie mir sehr unangenehm werden könnten. Es ist also, wie ich merke, auf eine Erpressung abgesehen.«

»Euer Gnaden wählen eine sehr unliebsame Bezeichnung für die Verhandlungen, die wir miteinander zu führen haben«, versetzte der Advokat, »aber nennen Sie es immerhin so.«

»Also dann kurz heraus – um was für Papiere handelt es sich?«

»Um jene Papiere«, antwortete Ganache mit scharfer, knarrender Stimme, während er die Blicke seiner grauen Augen fest auf das Antlitz des Baronets richtete, »welche den Tod Lord Frederic Woodvilles herbeigeführt haben!«

Baronet Bicount fuhr von seinem Sessel empor und trat dicht an den Schreibtisch des kleinen Advokaten.

»Was wissen Sie von dem Tod Lord Woodvilles?«, rief er. »Welche Papiere können Sie besitzen, die darauf Bezug hätten? Es ist nicht wahr, was Sie sagen – Sie lügen!«

»Leugnen Sie, Lord Frederic Woodville gekannt zu haben?«, fragte Ganache.

»Wie könnte ich das denn leugnen? Lord Woodville war mein Freund; das heißt, bis vor zwei Jahren, dann veruneinigten wir uns wegen einer Kleinigkeit.«

»Wegen einer Kleinigkeit?«, fragte der Advokat lauernd. »Nun, so geringfügig dürfte wohl nicht der Anlass ihres Freundschaftsbruches gewesen sein, denn von dieser Zeit an, Herr Baronet, waren Sie ja beständig darauf bedacht, Lord Woodville aus dem Weg zu räumen.«

»Wer behauptet denn das?«, stieß der Baronet mit heiserer Stimme hervor.

»Wer? Erstens die Papiere, die ich in den Händen habe, zweitens der Zuchthäusler, den Sie gedungen haben, Lord Woodville zu ermorden und dem es leider nur zu gut gelungen ist, seinen Auftrag auszuführen und drittens …«

Der Baronet sank förmlich zusammen. Ein düsterer Schatten flog über sein Gesicht. Für einen Moment schimmerten seine Augen feucht, aber er drängte die Tränen mit Gewalt zurück.

»Ich habe genug gehört«, rang es sich über seine Lippen, »ich weiß, dass ich mich in Ihren Händen befinde. Ich weiß auch, welche Papiere es sind, durch welche Sie mich zur Zahlung einer Summe zwingen wollen. Es sind die unglückseligen Briefe meiner Frau.«

Maître Ganache knackte mit seinen mageren Händen, rückte das Samtkäppchen von einer Seite des Kopfes

auf die andere und antwortete: »Sie vermuten ganz recht, Herr Baronet, es sind Briefe Ihrer Frau Gemahlin.«

»Welche die Unglückselige an Lord Woodville geschrieben hat«, stieß der Baronet hervor. »Ah, es war mir nicht möglich, diese Briefe von ihm zu bekommen; diese Briefe, welche jetzt noch meine Ehre vernichten, obwohl das Äußerste geschehen ist, obwohl Lord Woodville von Mörderhand hinweggerafft wurde!«

»Von einer Mörderhand, welche Sie geleitet haben, Mylord!«

»Quälen Sie mich nicht, Maître Ganache«, presste der Baronet hervor, »wir beide werden einig werden. Ich werde Ihnen die Briefe, die Sie haben – meine Frau hat mir gestanden, dass es im Ganzen siebzehn sind – abkaufen. Ich werde ihnen für jeden Brief tausend Franc zahlen!«

»Und ich werde ihnen die Briefe nur unter einer Bedingung verkaufen«, versetzte Ganache. »Tausend Franc – ich könnte tausend Pfund Sterling erpressen – aber ich will es nicht, ich begnüge mich mit dieser Summe, immer jedoch nur, wenn Sie mir offen und ehrlich eingestehen, weshalb Sie Lord Frederic Woodville ermorden ließen.«

»Weshalb ich ihn ermorden ließ?«, presste der Baronet hervor. »Ich hatte ein gutes Recht dazu, sein Leben gehörte mir – es war mir verfallen! Und jene Bluttat, die im Hotel de Paris in Monte-Carlo geschehen ist, war kein Mord, sondern eine Hinrichtung!«

»Das Leben Lord Woodvilles gehör te Ihnen, sagen Sie?«, nahm Maître Ganache nach einer kleinen Pause das Wort. »Ich verstehe, ein amerikanisches Duell!«

»Ja, ein amerikanisches Duell …«

»Nachdem Sie Lord Frederic eines Tages bei Ihrer Frau überrascht haben!«

»Das haben Sie aus den Briefen ersehen! Haha, ich stehe im Begriff, mich mit meiner Frau auszusöhnen und nach Australien auszuwandern.«

»Ich habe von Ihnen nichts mehr zu hören«, versetzte Maître Ganache. »Die Sache ist klar! Ein Ehebruch im Haus des Baronet Biscount. Lord Frederic Woodville hat Gefallen an seines besten Freundes Weib gefunden. Der Freund entdeckt die Schuldige – ein amerikanisches Duell ist die Folge. Der Unterliegende muss in einem bestimmten Zeitraum von der Welt verschwinden; der Unterliegende war Frederic Woodville.«

»Er war es«, unterbrach ihn der Baronet mit heiserer Stimme, »er war es, und doch war – er zu feige, um sich zu töten.«

»Er hatte dafür eine Entschuldigung«, versetzte Maître Ganache mit eigentümlicher Stimme, die sogar einer gewissen Weichheit nicht entbehrte. »Er hatte indessen die wahre Liebe kennengelernt, er hatte Miss Nancy Elliot gefunden, zu der er sich aufrichtig hingezogen fühlte. Um ihretwillen trat er sogar seine Ehre mit Füßen und das Ehrenwort nicht ein, das er Ihnen verpfändet hatte!«

»So ist es, Maître Ganache, und nun sagen Sie selbst, hatte ich nicht

ein gutes Recht, ihn zu töten, da sein Leben verfallen war und er den Mut nicht aufbringen konnte, es selber zu tun? Zwischen uns beiden war außerdem, bevor das amerikanische Duell durch eine Partie Picket durchgeführt wurde, ausgemacht, hatte der Sieger das Recht haben sollte, ihn auf offener Straße niederzuschießen, oder aber ihn auf irgendeine andere Weise umzubringen.«

»Und das haben Sie redlich versucht, Herr Baronet«, versetzte Ganache, während ein Lächeln seine Lippen umspielte. »Zuerst in Indien, dann in der Regent Street in London, dann im Coupé des Schnellzuges in Paris, dann durch eine Feuerbrunst, die Sie im Woodville House anlegen ließen, und nachdem dies alles fehlgeschlagen war, kam die große Katastrophe von Monte- Carlo. Ist es nicht so, Baronet?«

»Warum sollte ich es leugnen? Es ist so. Und Maître Ganache, Sie überraschen mich nicht mit dieser Mitteilung. Im Übrigen können Sie alles wissen, denn Sie werden mich nicht verraten. Sie werden mir die Briefe verkaufen, ein gutes Geschäft gemacht haben und dann – nun, Monsieur, geben Sie mir die Briefe. Ich habe mich mit Geld versehen und will Ihnen die siebzehntausend Franc sogleich auszahlen, morgen befinde ich mich auf dem Weg nach Sidney!«

In diesem Moment nahm der kleine Advokat sein Samtkäppchen ab und legte es vor sich nieder, dann seinen Kahlkopf, der eine Perücke war, und plötzlich richtete er sich vom Sessel auf. Und siehe da, seine kleine Gestalt wuchs und wuchs, bis ein schlanker, hagerer Mann mit kühnem Gesicht und klugen, rätselhaften Augen vor dem zurücktaumelnden Baronet stand.

»Eine Verkleidung!«, schrie der englische Edelmann auf und machte Miene, zur Tür zu flüchten. »Man hat mich getäuscht, hintergangen …«

»Geben Sie sich keine Mühe, Baronet, durch diese Tür zu entfliehen«, antwortete die ruhige Stimme des langen, hageren Mannes, »die Tür ist von außen verschlossen, und sie wird sich nur mit meinem Willen für Sie auftun. Ich bin Sherlock Holmes, der Detektiv, und nun werden Sie wissen, was Sie zu tun haben.

Das elende Werkzeug, das Sie aussandten, Lord Woodville zu töten, befindet sich seit zwei Tagen in den Händen der Justiz von Monte-Carlo, nachdem es mir gelungen war, den ganzen Mordplan zu enthüllen. Doch fürchten Sie nichts, Unglücklicher. Ich habe nicht die Absicht, Sie ins Zuchthaus, oder auf die Guillotine zu bringen, Sie werden selbst den Weg kennen, den Sie gehen müssen.«

Der Baronet stand wie zu Stein erstarrt da, seine Züge waren erschlafft, jeder Blutstropfen aus seinem Gesicht verschwunden.

»Also alles – alles am Tage!«, rief er.

»Alles, es fehlte nur noch ein Schlussstein, und den habe ich jetzt von Ihnen erhalten: Das amerikanische Duell. Und nun hören Sie mich an, Baronet, und prägen Sie sich jedes meiner Worte scharf ein. Es ist jetzt«, Sherlock Holmes zog die Uhr hervor und blickte auf das Zifferblatt derselben, »genau elf Uhr, zwanzig Minuten vormittags. Die Pariser Kriminalpolizei, die von Monte-Carlo benachrichtigt worden ist, wird Sie um zwei Uhr nachmittags verhaften. Sie haben also genau zwei Stunden, vierzig Minuten Zeit, in der Sie – Ihre Reise antreten können.«

»Meine Reise nach Australien?«, rang es sich über die Lippen des Baronets. »Sie wollten mich wirklich entfliehen lassen?«

»Ich habe nichts von Australien gesagt, ich sagte, einfach Ihre Reise. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass Sie auf Schritt und Tritt von Detektiven bewacht werden, und zwar seit gestern Abend. Baronet, ich habe die Ehre mich Ihnen zu empfehlen. Ich scheide von Ihnen mit der Überzeugung, dass Ihr unglücklicher Freund Woodville, der allerdings einen großen Teil der Schuld an allen diesen unglückseligen Verwicklungen trägt, bald gerächt sein wird.«

Der Baron verbeugte sich tief und eilte zur Tür. Sherlock Holmes stieß einen kurzen Pfiff hervor, und die Tür wurde wie von Geisterhänden geöffnet. Wenige Minuten später ging unten die Haustür. Dann betrat der Advokatenschreiber, der natürlich kein anderer war als Harry, das Gemach des angeblichen Maître Ganache.

»Hast du soeben einen Todeskandidaten aus dem Haus hinausgehen sehen, Harry?«, fragte Sherlock Holmes. »So wie dieser Baronet Biscount sieht ein Mann aus, der nicht mehr über eine Stunde zu leben hat. Merk es dir, mein Junge, so gehen die Menschen zugrunde: Die besten Freunde, einer hätte für den anderen ohne Weiteres sich ein Ohr oder eine Hand abhauen lassen – eines Tages begegnet sich ihr Interesse auf demselben Punkt und da bricht die Freundschaft auseinander und sie reiben sich gegenseitig auf.

Harry, wir reisen heute noch nach London zurück – wir haben unsere Pflicht getan!«

Auf dem Boulevard der Vorstadt stieg der Baronet Biscount in sein Coupé ein und befahl dem Kutscher, ihn nach Hause zu fahren. Als der Diener vor dem Portal des Hauses, welches der Baronet und seine junge schöne Frau bewohnten, den Kutschschlag öffnete, fiel ihm die Leiche seines Herrn entgegen. Der Baronet hatte sich während der Fahrt in seinem Coupé erschossen. Niemand konnte sich erklären, weshalb der reiche, vornehme, scheinbar so glückliche Engländer den Selbstmord begangen hatte. Noch weniger ahnte irgendein Mensch, dass der gewaltsame Tod des Baronets zusammenhing mit – der Bluttat von Monte-Carlo!

ENDE