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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 3 – 6. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 3
Das Rätsel am Spieltisch
6. Kapitel

Die verschleierte Dame

Harry hatte die leuchtenden Steine für ihn ausgestreut, wie er es immer tat, wenn er dem Detektiv einen Weg bezeichnen wollte. Diesmal führte der Weg über das Hotel de Paris hinweg zum Park. Sherlock Holmes hatte seine Schritte so beschleunigt, dass er am Eingang des Parkes bereits auf Harry stieß.

»Dort«, sagte Harry und deutete dabei auf eine dunkle Gestalt, die eine herrliche Palmenallee durchschritt, »dort ist er.«

»Gut, mein Junge«, antwortete Sherlock Holmes, weitergehend und ohne einen Moment stillzustehen, »hat der Fremde auf dem Weg mit jemanden gesprochen oder ein Zeichen gewechselt?«

»Weder das eine noch das andere, Mr. Sherlock Holmes, aber er ging sehr eilig und blickte mehrmals auf die Uhr, als ob er eine Verabredung einhalten müsse.«

»Vortrefflich – bleib immer hinter mir, Harry, im nötigen Abstand. Wenn ich dich brauchen sollte – das dritte Signal gilt!«

Harry blieb stehen. Sherlock Holmes eilte weiter und befand sich bald nur noch vierzig Schritt hinter dem Fremden.

Dieser drang immer tiefer und tiefer ins grüne Gewirr des Parkes von Monte-Carlo, in dieses Paradies von Bäumen und Blumen, dem kein zweites auf Erden gleicht.

»Man könnte glauben«, sagte sich Sherlock Holmes, »dass sein Spielverlust ihn zur Verzweiflung getrieben hat, und er seinem Leben, wie viele andere vor ihm, im Park von Monte- Carlo ein Ende bereiten will. Aber der Umstand, dass er mehrmals auf die Uhr gesehen hatte, schließt diese Vermutung fast sicher aus. Einem Menschen, der mit dem Leben abschließt, ist es gleichgültig, was die Uhr geschlagen hat. Ah – er steuert dort auf die Bank zu, die in dem von Rhododendronbüschen umgebenem Rondell steht. Umso besser, so werde ich mich in der Nähe der Bank verbergen können.«

Sherlock Holmes schlüpfte in das Gebüsch, während der Fremde ungeduldig neben der Bank auf- und abschritt. Der Detektiv bemühte sich, der Bank näherzukommen. Aber eine Kaktushecke hinderte ihn daran, trotzdem befand sich Sherlock Holmes etwa nur zehn Schritt von der Bank entfernt. Er ließ sich auf die Knie nieder und wartete ruhig – wenigstens um vieles ruhiger als der Fremde, der immer die Uhr hervorzog und ungeduldig mit dem Fuß aufstampfte und bald nach rechts und bald nach links sich umschaute.

»Es ist klar«, sagte sich der Detektiv, »er erwartet hier eine Person. Ah, das enttäuscht ein wenig – nichts als ein zärtliches Tête-à-Tête? Verdammt, das wäre wenig!«

Dort, wo das Rondell einen schmalen Weg bis zum Strand hinuntersandte, war eine schlanke Frauengestalt aufgetaucht. Ein langer, eleganter Mantel umschloss ihre Gestalt, von dem kleinen Hut fiel ein Schleier herab, der ihr Gesicht vollständig verhüllte.

»Endlich!«, stieß der Fremde hervor und eilte der verschleierten Dame entgegen. »Du hast mich sehr lange warten lassen.«

»Sind wir allein – ganz allein – kann uns hier niemand sehen und beobachten?«

»Es gibt keinen einsameren Platz im ganzen Park. Hier sind wir sicher. Übrigens, was willst du denn – warum hältst du denn so sehr darauf, mit mir nicht gesehen zu werden?«

»Das fragst du noch? Um deiner schrecklichen Vergangenheit – um des furchtbaren Hauses willen, das du erst vor wenigen Wochen verlassen hast!«

»Bah, wer weiß darum. Ich spiele den Kavalier, leider nicht mit Glück. Du musst mir nochmals aushelfen. Deshalb habe ich dir meinen Brief geschickt und dich hierher gerufen,

sträube dich nicht, es muss sein!«

»Es wird sein«, antwortete die Frauenstimme, bei deren Klang Sherlock Holmes den Oberkörper streckte und die Augen öffnete, wie ein Schlachtross, das den ersten Trompetenton hört und nicht mehr zu halten ist, »es wird sein, aber nur unter einer Bedingung.«

»Und diese Bedingung?«

»Du schwörst mir, noch heute Nacht Monte-Carlo zu verlassen. Das hast du mir zwar schon vor einigen Tagen gelobt, als wir uns auf dem Meer trafen, aber – du hast natürlich nicht Wort gehalten, wie immer; du hältst dein Ehrenwort ja niemals!«

»Ich bitte, keine Beleidigung! Und unterlasse diese Moralpredigt. Gib mir zwanzigtausend Franc, und ich bin in vierzehn Tagen in Amerika!«

»Zwanzigtausend Franc? So viel habe ich nicht bei mir, ich habe eine kleinere Summe mitgebracht. Warte, ich will nachsehen – sind wir aber wirklich allein? Mich belästigt der Schleier, ich will ihn heben.«

»Tu es getrost, ich versichere dir, dass dich niemand sieht. Ich verspreche dir auch, heute Nacht noch abzureisen. Ich werde dir keine Ungelegenheit mehr bereiten. Also nur schnell, gib mir vorläufig das Geld, was du bei dir hast, morgen kannst du mir auf irgendeine Weise den Rest der zwanzigtausend Franc zukommen lassen.«

In diesem Moment hob die leise zitternde Hand des schlanken, jungen Weibes den Schleier empor.

»Nancy Elliot!«, rang es sich fast entsetzt über die Lippen Sherlock Holmes’. Seine Unterlippe zitterte, und seine Züge druckten Trauer und Enttäuschung zugleich aus. »Teufel – in welche Geschichte ist das junge, schöne Weib da verwickelt? Halt, ihr Gesicht – und das des Fremden. Die nussbraunen Augen – Hölle und Teufel, was ist das?«

Sherlock Holmes hatte von rückwärts plötzlich einen fürchterlichen Stoß erhalten und war vornübergefallen, sodass er einen Moment mit der Stirn die Erde berührte.

Eine dunkle Gestalt war über ihn hinweggesprungen, aber auch von allen Seiten stürmten jetzt Männer auf das Rondell zu, und eine befehlende Stimme rief: »Umzingelt sie – sie können uns nichts entgehen. Steht – Miss Nancy Elliot – Ihr seid meine Gefangene!«

»Tölpel von einem Polizeipräfekten!«, fluchte Sherlock Holmes, indem er aufsprang. »Da stürzte sich alles auf ein junges Weib, und der andere – haha, er hat einen der Detektive niedergeschlagen und ist in die Büsche gesprungen! Warte, mein Junge, wenn dich die Jäger nicht fassen, so soll wenigstens der Jagdhund hinter dir her sein und deine Fährte verfolgen.«

Sherlock Holmes sprang über die Kaktushecke hinweg, er fragte nicht danach, dass er sich dabei seinen Anzug zerriss und seine Hände ein wenig verletzte. Im nächsten Moment tauchte er im Rondell auf, wo sich in diesem Augenblick eine erschütternde Szene abspielte.

Nancy Elliot lag bewusstlos in den Armen des Polizeipräfekten von Monte-Carlo, umringt von zehn Detektiven, welche ihr die Revolver entgegenstreckten.

»Es wird nicht nötig sein, sie zu fesseln«, hörte Sherlock Holmes den Polizeipräfekten sagen. »Sie kann uns nicht entgehen, wir haben die Mörderin Lord Frederic Woodvilles, Leute, und haben damit eine Aufgabe gelöst, auf die wir stolz sein können.«

»Den Teufel haben Sie gelöst, Herr Polizeipräfekt«, rief Sherlock Holmes, der in diesem Moment seine sonstige Ruhe nicht bewahren konnte. »Lassen Sie Miss Elliot, denn sie ist unschuldig an dem Mord des Lords, wie Sie, Herr Präfekt, und ich es sind! Den Mörder des Lords haben Sie soeben entfliehen lassen!«

Dann kümmerte sich Sherlock Holmes nicht weiter um den Polizeipräfekten und die Detektive, sondern eilte, so schnell er es vermochte, den Weg zum Strand hinunter. Schon hörte er das Murmeln der Wellen, schon erblickte er das vom Mond beleuchtete Meer, als er plötzlich mit Harry zusammenprallte, und zwar so hart, dass der Junge zu Boden fiel.

»Schafskopf!«, rief Sherlock Holmes seinem Famulus zu. »Warum kriechst du mir denn zwischen den Beinen herum, da ich ihm auf der Fährte bin?«

»Wem, Mr. Sherlock Holmes?«, fragte Harry, indem er sich vom Boden erhob, »meinen Sie denn den Fremden, den wir vorher verfolgt haben?«

»Ja – ihn – ihn! Bist du ihm begegnet, Unglücksmensch? Warum bist du ihm nicht auf den Fersen geblieben?«

»Bin ich ja, Mr. Sherlock Holmes, aber ich konnte beim besten Willen nicht dorthin folgen, wohin er gegangen ist!«

»Wohin denn?«

»Ins Meer«, antwortete Harry, »er hat sich vor meinen Augen den Tod gegeben – er hat sich ins Meer gestürzt!«

»Guter Junge«, versetzte Sherlock Holmes, indem er Harry lächelnd die Wangen klopfte, »du glaubst auch, wenn einer eine Tabakpfeife zeigte, müsste es etwas zum Rauchen sein? Ins Meer gestürzt hat sich der Bursche wohl, das glaube ich, aber sich den Tod gegeben? Nein, Harry Taxon, der Mörder Lord Frederic Woodvilles ist ein guter Schwimmer, und schwimmend ist er uns entkommen – für den Moment, wollen wir hoffen. Komm nun nach Hause, Harry!«

Fortsetzung folgt …