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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 3 – 3. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 3
Das Rätsel am Spieltisch
3. Kapitel

Doppelter Verdacht

»Da, Herr Polizeipräfekt«, rief das Stubenmädchen, »dieses Dolchmesser, diese Uhr, diese Brillantnadel habe ich soeben in der Kammer Baptistes gefunden. Sehen Sie, an der Klinge des Dolches klebt noch Blut – o, es ist entsetzlich!«

Der junge Kellner stand bleich und regungslos da. Er wollte sprechen, er bewegte die Lippen, aber er vermochte kein Wort hervorzustoßen.

»Bewacht ihn!«, befahl der Polizeipräfekt seinen Detektivs, und sogleich stellten sich zwei von ihnen neben dem jungen Mann auf, bereit, jeden Fluchtversuch zu vereiteln. Der Präfekt trat mit dem Dolchmesser an das Fenster und betrachtete es genau.

»Blut«, rief er, »frisches Blut, ein italienisches Stilett! Ganz wie Sie, Herr Doktor, es gesagt haben. Damit ist der Mord ausgeführt worden.«

»Ich glaube«, rief der Arzt, der jetzt das Dolchmesser in die Hand nahm und dicht vor seinen Augen hielt, »es haften noch kleine Fleischfasern an der Klinge. Mit dem Mikroskop würde ich es genau feststellen können. Ja, man würde sogar zu bestimmen in der Lage sein, ob diese Reste dem Herzmuskel angehören oder aber der Lunge des unglücklichen Lords.«

»Uns genügt«, erwiderte der Präfekt, »wenn wir wissen, dass mit diesem Instrument das Verbrechen verübt worden ist. Das aber steht für mich außer allem Zweifel.

Miss Elliot, wollen Sie die Güte haben, diese Uhr und diese Brillantnadel in Augenschein zu nehmen? Haben diese Kleinodien dem Lord Frederic Woodville gehört?«

»Sie sind sein Eigentum«, antwortete Miss Elliot schaudernd und sank dann wieder neben der Leiche auf die Knie, um, wie sie es vorher getan hatte, ihr ganz mit Tränen überströmtes Gesicht auf die Knie des Ermordeten zu legen.

»Kommen Sie her«, rief der Polizeipräfekt dem als Anklägerin auftretenden Mädchen zu.

»Wie heißen Sie?«

»Mary Tillon!«

»Sie sind eine Engländerin?«

»Ich stamme aus Dublin, Herr Präfekt, seit zwei Jahren diene ich im Hotel de Paris. Ich glaube, der Herr Direktor wird mir ohne Weiteres das beste Zeugnis ausstellen können.«

»Wie kamen Sie dazu, die Kammer des Kellners Baptiste zu betreten? Was hatten Sie da zu tun?«

Mary Tillon errötete ein wenig. Dann aber hob sie entschlossen das Haupt, als wollte sie durch ihre Bewegung sagen, dass sie sich über alle Skrupel hinwegsetzen würde, und antwortete: »Herr Polizeipräfekt, ich habe ein Liebesverhältnis mit Baptiste Hillard unterhalten. Seit vier Wochen hat er sich plötzlich von mir zurückgezogen, und – ich muss gestehen, die Eifersucht trieb mich, in seinen Sachen einmal nachzusehen, ob ich etwa die Liebesbriefe einer anderen finden könnte. Ich öffnete daher sein Schubfach. Da fand ich zuerst ein paar wollene Strümpfe gewickelt, Uhr und Busennadel und dann ganz hinten eingeklemmt – das Dolchmesser. Da wurde mir sofort klar, dass Baptiste der Mörder sein müsse, umso mehr, als er ja der Letzte war, der das Zimmer des Lords betreten hat.«

»Sie folgern sehr richtig, Zeugin«, sagte der Polizeipräfekt. »Ich habe schon vorhin auf den Burschen Verdacht gehabt, und nun ist mir derselbe zur Gewissheit geworden. Baptiste Hillard, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes als den Mörder Lord Woodvilles.«

Hillard zuckte zusammen. Dann stieß er, während Tränen aus seinen Augen schossen, die Worte hervor: »Ich schwöre Ihnen, Herr Polizeipräfekt, ich bin unschuldig! Ich kann mir nicht erklären, wie dieser Dolch und diese Preziosen in mein Schubfach gekommen sein sollen. Ich beschwöre dich, Mary, mach mich nicht unglücklich, bringe mich nicht ins Zuchthaus oder gar vielleicht auf die Guillotine! Ich weiß es ja, du bist böse auf mich, weil ich mich von dir zurückgezogen habe, aber das ist doch kein Grund, einen Menschen zum Mörder zu stempeln! Jesus Maria, wie soll ich denn beweisen, dass ich unschuldig bin!«

»Das können Sie dem Untersuchungsrichter beweisen, wenn Sie es überhaupt zu beweisen vermögen«, rief der Polizeipräfekt. »Jetzt müssen wir Sie unbedingt mit uns nehmen. Meine Herren, arretieren Sie diesen Gefangenen und machen Sie dabei möglichst wenig Aufsehen. Und jetzt fordere ich jedermann, der nicht ins Zimmer gehört, auf, dasselbe zu verlassen!«

Diesem Befehl wurde unverzüglich Folge geleistet. Nun wurde der Tote auf sein Lager im Schlafzimmer gebettet, wohin Nancy folgte. Sie ließ sich auf dem Rand des Bettes nieder und starrte tränenlos vor sich hin. Nur der Hoteldirektor und der Polizeipräfekt weilten noch in dem Raum, in dem das schreckliche Verbrechen verübt worden war.

»Sie sehen mich sehr deprimiert, Herr Präfekt«, wandte sich der Hoteldirektor zu dem Beamten, »denn abgesehen davon, dass der Mord in unserm Hotel ausgeführt wurde, handelt es sich um ein Verbrechen, das einer unserer Angestellten verübte. Ich fürchte sehr, das wird unser Hotel in Misskredit bringen.«

»Du lieber Gott«, antwortete der Polizeipräfekt achselzuckend, »Sie können doch den Menschen nicht ins Herz sehen, Herr Direktor. Diesen Burschen haben Sie wahrscheinlich angestellt, weil er ihnen gute Zeugnisse vorweisen konnte.«

»Die besten, Herr Präfekt, und ich muss hinzufügen, dass ich in diesem Baptiste Hillard niemals einen Schurken und Mörder gesucht hätte. Seine Führung im Hotel war musterhaft, und wenn er schließlich mit Mary ein Verhältnis begonnen hat – daraus kann man ihm am Ende keinen Vorwurf machen.«

»Er gehört zur Kategorie der Gelegenheitsverbrecher«, gab der Präfekt zu Antwort. »Die kostbaren Kleinodien, welche der Lord an sich trug, reizten seine Begierden, und da er dem Lord als ein anderer Angestellter Ihres Hotels nähergetreten war – er schien, wie ich höre, oft um die Person Woodvilles beschäftigt – so mag er auch von dem heutigen Spielgewinn des Lords Kenntnis gehabt haben, und da hat er beschlossen, sich in den Besitz des Geldes und der Preziosen zu setzen. Ja, Herr Direktor, oft genügt ein einzelner unglücklicher Moment im Leben des Menschen, um ihn zum Schurken zu machen, und wenn er bis dahin die Ehrlichkeit selbst gewesen wäre!«

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür des Zimmers. Unangenehm berührt, blickte der Polizeipräfekt auf, als er einen elegant gekleideten Herrn mit grauem Schnurrbart eintreten sah.

»Verzeihen Sie, mein Herr«, rief der Polizeipräfekt, »aber das Betreten dieses Gemaches, in welchem sich ein so unglückseliges Verbrechen abgespielt hat, ist jedermann auf das Strengste verboten. Der Direktor des Hotels und ich stehen gerade im Begriff, den Raum gleichfalls zu verlassen, und ich werde an die Tür ein Siegel anlegen.«

»Ich bitte um Verzeihung«, antwortete der Herr, dessen gerade Haltung außer allem Zweifel stellte, dass er Militär war und der, wie der Präfekt erst jetzt bemerkte, das Bändchen der Ehrenlegion im Knopfloch trug. »Ich glaube, ich habe Ihnen eine sehr wichtige Mitteilung zu machen – gestatten Sie, dass ich mich vorstelle, ich bin der Oberst Legardin.«

»Ein sehr lieber und treuer Gast unseres Hotels«, ergänzte der Direktor.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, erwiderte der Polizeipräfekt, und die beiden Herren schüttelten sich die Hände, »stehen Ihre Mitteilungen in Verbindung mit dem hier verübten Mord?«

»So ist es, Herr Präfekt, aber bevor ich spreche, möchte ich sowohl Sie als auch den Herrn Direktor um strengste Diskretion bitten.«

»Das ist doch selbstverständlich.«

»Es ist immer eine fatale Sache, der Polizei einen Wink zu geben, es sieht denunziantenhaft aus. Was soll man aber tun, wenn man glaubt, die Verpflichtung dazu zu haben?«

»Man soll in jedem Fall reden, Monsieur«, gab der Polizeipräfekt von Monte-Carlo zur Antwort. »Die Behörde wird dann schon die Spreu von dem Weizen zu unterscheiden wissen. Haben Sie irgendeinen Verdacht, Herr Oberst?«

»Verdacht? Ich habe mich in meinen Vermutungen bisher noch nicht so weit aufschwingen können, dieselben zum Verdacht zu erheben, aber ich möchte Ihnen, Herr Polizeipräfekt, ganz einfach eine Tatsache mitteilen. Wie der Herr Direktor mir bestätigen wird, forderten Sir Woodville zu einer Spazierfahrt nach Kap Martin auf. Die Einladung wurde angenommen. Miss Elliot fuhr in Begleitung meiner Frau, meiner Tochter und der seinen nach Kap Martin. Dort kehrten wir in dem Kaffeehaus auf der Landzunge ein, und die Damen nahmen eine kleine Erfrischung. Plötzlich entfernte sich Miss Elliot und zu unserem größten Erstaunen blieb sie eine volle Stunde verschwunden. Ich wurde unruhig, denn ich hatte gesehen, wie sie den Weg zum Strand eingeschlagen hatte, und ich fürchtete deshalb, dass ihr ein Unglück passiert wäre. Ich ging ebenfalls zum Strand hinab, wanderte denselben entlang, konnte Miss Elliot jedoch nicht entdecken. Plötzlich bemerkte ich draußen auf der See zwei Boote. Da dieselben zu weit von mir entfernt waren, um mit bloßen Augen zu erkennen, wer sich in diesen Booten befände, nahm ich meinen Feldstecher zur Hand, den ich gewöhnlich bei meinen Spaziergängen in Monte-Carlo bei mir führe, und mein gutes Glas ließ mich denn auch erkennen, dass in dem einen Boote Miss Elliot saß, in dem anderen aber – ein Mann.«

»Ein Mann?«, stieß der Polizeipräfekt überrascht hervor und legte das Gesicht in Falten. »Ich glaube, Herr Oberst, Ihre Mitteilungen haben mehr als gewöhnliches Interesse – ich bitte, fahren Sie fort. Können Sie mir vielleicht sagen, was diese zwei Personen im Boote taten?«

»Dass sie lebhaft miteinander sprachen, glaube ich annehmen zu dürfen, dann trennten sich die beiden Boote, und ich kehrte so schnell wie möglich zu meiner Gattin und meiner Tochter zurück, denen ich aber nicht erzählte, was ich gesehen habe. Als Miss Elliot wieder unserem Tisch zurückkehrte, erschien sie mir sehr bleich und ihre Augen spiegelten eine große, Erregung wider.

›Ich bitte um Vergebung, meine Freunde‹, sagte sie zu uns, ›aber der herrliche Anblick des Meeres hat mich verleitet, ganz spontan ein Boot zu nehmen und hinauszurudern.‹

›Aber das muss ja sehr langweilig gewesen sein, so ganz mutterseelenallein auf dem Meer dahinzufahren‹, sagte ich zu ihr.

›O, glauben Sie es nicht‹, erwiderte sie mit gezwungenem Lächeln, ›das Meer ist nie langweilig.‹

Sie sehen also, Herr Polizeipräfekt, dass Miss Elliot mir bewusst die Unwahrheit sagte, denn sie hätte mir doch auf meine Bemerkung über die Langweiligkeit einer einsamen Bootsfahrt erzählen können, dass sie einen Bekannten auf dem Meer getroffen hatte. Sie verschwieg diese Begegnung, die demnach nicht ganz harmlos gewesen sein kann.«

»Verzeihen Sie, Herr Oberst«, sagte der Polizeipräfekt, »es ist mir von großer Wichtigkeit, festzustellen, wann Sie Miss Elliot mit dem fremden Herrn zusammen sahen. Können Sie mir die Uhrzeit angeben?«

»Ganz genau sogar«, gab der Oberst zur Antwort, »wir sind sogleich nach dem Dejeuner abgefahren. Nach dem Kap Martin hat uns der Wagen in fünfundzwanzig Minuten gebracht. Es ist unbedingt etwa drei Uhr gewesen, als ich Miss Elliot bei ihrem seltsamen Tête-à-Tête auf hoher See beobachtete.«

»Und der Mord ist etwa um halb fünf Uhr ausgeführt worden?«, fragte der Präfekt den Direktor.

Dieser nickte bejahend.

»Das wäre eine Zeitdifferenz von eineinhalb Stunden. Folglich kann jener Mann, mit dem Miss Elliot gesprochen hat, immerhin der Mörder des Lords gewesen sein, denn eine Zeit von eineinhalb Stunden ist völlig ausreichend gewesen, dieses Verbrechen zu verüben. Herr Oberst, ich bitte Sie, von Ihren Beobachtungen gegen jedermann zu schweigen, und ich danke Ihnen für diese Mitteilungen. Ich glaube durch Sie auf eine neue Spur geleitet worden zu sein – nun verlassen wir diesen Raum, in dem sich eine so erschütternde Tragödie abgespielt hat.«

Wenige Minuten später hafteten die großen Siegel der Polizei von Monte- Carlo an der Zimmertür, hinter welcher Lord Frederic Woodville seinen letzten Seufzer ausgehaucht hatte.

Der Polizeipräfekt hatte das Hotel verlassen und der Hoteldirektor befand sich bereits auf dem Weg nach Nizza, um in allen Zeitungsredaktionen unter goldenen Händedrücken zu bitten, den im Hotel de Paris geschehenen Mord in den Blättern so kurz und flüchtig wie möglich darzustellen.

Die Händedrücke des Direktors mussten wohl sehr ergiebig gewesen sein, denn in den am Abend erscheinenden Zeitungen von Nizza und Monte- Carlo las man nur folgende kurze Notiz:

Im Hotel de Paris wurde heute kurz nach dem Dejeuner Lord Frederic Woodville, ein vornehmer und reicher Gast des Hotels, tot vor seinem Schreibtisch aufgefunden. Die im Monte-Carlo verbreiteten Gerüchte, es liege hier ein Mord vor, sind übertrieben und verfrüht. Viel eher ist an einen Selbstmord Lord Woodvilles zu glauben, da der unglückliche Engländer schon in letzter Zeit deutliche Spuren von Schwermut gezeigt haben soll.

»Uff!«, stieß Sherlock Holmes hervor, als er auf dem Bahnhof in Nizza eine dieser Zeitungen kaufte und las. »Das ist eine Berichterstattung, die dem ARIZONE KICKER, dem berüchtigten humoristischen Zeitungsblatt des amerikanischen Westens, alle Ehre machen würde.

Selbstmord! Wer weiß es besser als ich, dass der arme Lord Frederic Woodville sehr gegen seinen Willen aus dem Leben abberufen wurde. Aber ich denke, Harry, wir steigen wieder in den Zug, damit wir endlich einmal ans Ziel kommen.«

Der Detektiv und sein Famulus kletterten in den bereitstehenden Wagen und kamen eine halbe Stunde später in Monte-Carlo an.

»Hotel de Paris!«, rief Sherlock Holmes, als er durch das von elegant aussehenden Lohndienern und Hotelportiers gebildete Spalier schritt, »Hotel de Paris!«

Der Abgesandte des Hotels meldete sich sofort und führte die beiden Ankömmlinge zu einem Omnibus, der sie in kurzer Zeit zum Hotel brachte.

Sherlock Holmes nahm zwei Zimmer und betonte, dass er sehr gerne in der ersten Etage wohnen möchte – das leidige Asthma zwinge ihn dazu. Im Übrigen schrieb er sich sogleich in das Fremdenbuch des Hotels ein: Thomas Smith, Kaufmann aus London, und Sohn Harry.

Er erhielt in der ersten Etage zwei Zimmer, die den Gemächern, welche Lord Woodville bewohnt hatte, gerade gegenüberlagen.

»Alles in bester Ordnung, Harry«, sagte Sherlock Holmes, »aber jetzt gib acht. Du musst mich Papa nennen. Hast du verstanden?«

»Sehr wohl, Papa!«

»Erzähle den Leuten, falls sie dich fragen sollten, eine rührende Geschichte von deiner Mama, die kurz nach deiner Geburt gestorben sei.«

»Ich werde ihnen sogar erzählen, wenn Ihr wünscht, dass sie vor meiner Geburt gestorben ist«, erwiderte Harry.

Sherlock Holmes lachte sein behagliches, lautloses Lachen. Er wusch sich, kleidete sich an, und wandte sich dann an Harry.

»Bleibe jetzt hier – ich gehe zu Miss Nancy Elliot. Aus ihrem Mund muss ich hören, wie es geschehen ist. Du wirst guttun, Harry, dich damit zu beschäftigen, die Angeln der Türen unserer Zimmer zu ölen, denn wir können leicht in die Lage kommen, sie bei Nacht sehr lautlos öffnen zu müssen.«

»Ich werde die Türen ölen, Papa«, antwortete Harry.

Sherlock Holmes nickte zufrieden und ging auf den Korridor hinaus.

Fortsetzung folgt …