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Der Welt-Detektiv Nr. 8 – 6. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 8
Der Mann im Nebel
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

6. Kapitel

Der Mann im Nebel

Ein hässlicher, weißer Nebel hüllte alles ringsum­her ein, als der Zug in Royton einlief. Jonny verließ als einer der Ersten das Stationsgebäude. Es trieb ihn förmlich mit Riesenkräften den beiden Gasthöfe zu. In einem derselben musste Sherlock Holmes abge­stiegen sein.

Er hatte Glück, denn gleich im ersten, das er betrat, erfuhr er aus dem Mund des Wirtes, dass hier ein Möbelvertreter seine Wohnung genommen habe. Jonny fieberte.

»Führen Sie mich bitte, sofort zu ihm!«, bat er.

Hierzu war der Wirt aber nicht imstande, weil der Reisende nicht anwesend war. In aller Frühe hatte er das Zimmer verlassen, um sich nach Schloss Tramp­well zu begeben, war aber bisher nicht zurückge­kehrt, was eigentlich merkwürdig war, denn es fehlte nur noch wenig Zeit an Mitternacht.

Jonny Buston war es, als hingen sich Zentnerge­wichte an seine Brust. Es war gar nicht anders mög­lich: Sherlock Holmes musste ein Unglück zugesto­ßen sein! Was tun? Was tun? Blindlings nach Schloss Trampwell zu laufen, zumal dies mitten in der Nacht und bei dem Nebel töricht gewesen wäre. Und den­noch musste irgendetwas geschehen. Es ging nicht an, dass er die Zeit nutzlos vertrödelte.

Schließlich fiel ihm ein, die örtliche Polizeibehör­de aufzusuchen, vielleicht dass er dort etwas über den Verbleib des Meisters in Erfahrung bringen konnte. Gesagt – getan.

Er ließ sich vom Wirt den Weg beschreiben und kämpfte sich durch den dichten Nebel, bis er die grüne Laterne gewahrte, die ihm den Sitz der Station verriet. Zu seiner Überraschung fand er sie in Alarmbereitschaft. Das war – wie er ein wenig später erfuhr – durchaus kein Zufall, sondern hing mit den Vorgängen zusammen, die den sonst so stille Ort heimgesucht hatten.

Seit dem Mord auf offener Straße waren etwa vier­zig Gendarmen unterwegs, den flüchtigen Ian Payne aufzustöbern, und die Station in Royton wartete stündlich auf einen Anruf, der sie von der Festnahme des gefährlichen Verbrechers unterrichten sollte. Zu seiner Freude erfuhr Jonny, dass sich Sherlock Hol­mes den Beamten zu erkennen gegeben hatte. Als diese vernahmen, dass sie es in dem jungen Mann mit dem Gehilfen des weltberühmten Kriminalisten zu tun hatten, begegneten sie ihm mit ausgesuchter Liebenswürdigkeit. Dennoch zuckten sie die Schul­tern, als Jonny erregt erklärte, dass Sherlock Holmes bisher nicht in das Gasthaus zurückgekehrt sei. Nun, mitten in der Nacht ließ sich nichts unternehmen: Daran war nun eben nichts zu ändern.

Vielleicht hätte Jonny die ganze Nacht voll fie­bernder Spannung bei den Polizeibeamten verbracht, wenn sich nicht etwas ereignet hätte, das die Situati­on mit einem Schlag änderte. Plötzlich rasselte nämlich das Telefon im Zimmer des leitenden In­spektors. Als dieser den Hörer von der Gabel hob, schlug ihm die vor Aufregung heisere Stimme eines Mannes namens Gravensville entgegen, der seit Jahren in Royton wohnte und am Ende es Ortes einen Handel mit Getreide und Futtermitteln betrieb.

»Kommen Sie sofort!«, keuchte er. »Einbrecher sind in meinem Haus!«

Der Inspektor stieß eine Verwünschung aus. War denn seit gestern der Teufel in Royton los?

Seit Jahr und Tag hatte kein Verbrechen die ehr­samen Bewohner des Ortes aufgeschreckt, und nun …

»Vielleicht ist es Payne, der Mörder, der mich be­rauben will!«, scholl noch einmal des Getreidehänd­lers aufgeregte und mühsam gedämpfte Stimme durch den Draht. »Schnell, kommen Sie, kommen Sie! Der Kerl muss vom Garten her eingedrungen sein!«

Im Nu erteilte der Inspektor seine Befehle. Dann ging es im Sturmschritt durch die vernebelte Nacht. Jonny hatte sich den Beamten angeschlossen. Um keinen Preis der Erde wäre er zurückgeblieben.

Der Polizeitrupp hatte das stattliche Haus mit den zahlreichen Nebengebäuden am Ende des Ortes noch nicht ganz erreicht, als bereits ein paar Schüsse krachten, die fraglos im Inneren des Hauses abgefeu­ert worden waren. Wahrscheinlich war es der Händ­ler selbst, der die Schüsse abgegeben hatte. Der Einbrecher musste mit ihm zusammengestoßen sein. Den ganzen Komplex zu umzingeln, war unmöglich, weil er Inspektor zu wenig Beamte zur Verfügung hatte. So musste er sich damit begnügen, die Zugän­ge zu besetzen, und stürmte dann mit einigen seiner Leute ins Haus.

Sekunden später erblickte Jonny, der seitwärts, den Scheunen gegenüber auf der Lauer lag, einen Mann, der in wilder Hast aus einem Fenster kletterte und etwas in der Hand hielt, das wie ein Gewehr aussah. Es war zu nebelig, die Gesichtszüge des Menschen zu erkennen, der, ohne sich umzusehen, sofort in aller Eile davonstürmte, den Wäldern zu. Aber Jonny zweifelte keinen Augenblick daran, dass es der Einbrecher war, der auf diese Weise versuch­te, den Verfolgern zu entgehen.

Seine Zähne knirschten aufeinander, als er an die Möglichkeit dachte, dass es sich bei dem Fliehenden dort um Ian Payne, den verruchten Gesellen, handeln konnte. Zum Teufel, nein! Den Burschen durfte er nicht entwischen lassen. Er riss den Browning hervor, schoss dann aber doch nicht, weil der Nebel und die Dunkelheit ein sicheres Ziel unmöglich machten. Dafür aber nahm er blitzschnell die Verfolgung des Fliehenden auf, wobei ihn mehr die Geräusche des flüchtenden Schrittes als der Mensch selbst leiteten.

Erst als der Wald den Unbekannten aufnahm, ver­langsamte dieser seine Eile. Hier schien er sich si­cher zu fühlen. Er lief nicht mehr, sondern eilte mit schnellen Schritten vorwärts, wobei der weiche Waldboden fast jedes Geräusch seiner Füße ver­schluckte; eine Tatsache, die Jonnys Beginnen sehr erschwerte, aber ihn keineswegs von der Spur abbringen konnte. Dazu waren seine Sinne in Sherlock Holmes Lehre viel zu sehr geschärft worden.

Kein Knacken, kein Rascheln entging seinen scharfen Ohren, und oft genug war er dem flüchten­den Burschen so nahe, dass er dessen dunkle Silhou­ette geisterhaft durch den Nebel schimmern sah. Wie eine Katze folgte er dem Burschen. Wohin mochte der Mann seine Schritte lenken? Jonny Bustons Spürsinn war erwacht. Er gedacht gar nicht mehr daran, sich seines Schießeisens zu bedienen. Nein, wissen wollte er nun, welchem Ziel der Kerl zu­strebte. Wo er seinen Unterschlupf hatte und ob er vielleicht noch weitere Komplizen besaß. Wie lange er so durch den dunklen Wald ging, wusste Jonny nicht. Nur eines bemerkte er plötzlich, dass der Bur­sche vor ihm endlich sein Ziel erreicht zu haben schien.

Deutlich sah Jonny, wie er stehen blieb, hinter sich schaute und sich dann mit einem undeutlichen Ge­murmel zu Boden warf. Jonny schaute zur Uhr, de­ren hell leuchtende Radiumziffern ihm verrieten, dass es bereits scharf auf drei Uhr ging. Noch eine Stunde – und das Dunkel der Nacht musste dem Licht des neuen Tages weichen.

Reglos, hinter dem Stamm einer dicken Eiche ver­borgen, stand Jonny und lauschte. Viel vernahm er nicht. Nur von weither schrien ein paar Käuzchen, und in der Nähe rauschte ein Wasser, das tief in der Erde dahinzustürmen schien. Das war alles. So ver­strich Minute um Minute, Viertelstunde um Viertel­stunde. Der Mann, der sich dort drüben ins Gras ge­worfen hatte, rührte sich nicht. Jonny aber lag auf der Lauer, die Hand schussbereit am Abzugshahn des geladenen Brownings. Die nächste Stunde, in der der erste Sonnenstrahl den Bann des Nebels und der Dunkelheit brach, musste ihm die erwünschte Auf­klärung und, wenn es sich in dem Menschen dort wirklich um Ian Payne, den Raubmörder, handelte, die Entscheidung bringen!

Fortsetzung folgt …