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Der Welt-Detektiv Nr. 8 – 5. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 8
Der Mann im Nebel
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

5. Kapitel

Das Geheimnis des Schlosses

Der Roytoner Raubmord erregte in London un­geheures Aufsehen, und die Tatsache, dass es in den Täter um einen eben aus dem Zuchthaus entlassenen Verbrecher handelte, rief allgemeines Entsetzen her­vor.

Ganz offen sprachen die Zeitungen die Vermutung aus, dass diese Schreckenstat wohl kaum die letzte sei, die Ian Payne begehen würde, und dass die Be­wohner Roytons und der weiteren Umgebung erst dann wieder ruhig schlafen könnten, wenn es gelun­gen sei, den tollen Amokläufer zu ergreifen. Ein­dringlich wurde die Regierung aufgefordert, Militär zur Verfügung zu stellen, das die infrage kommen­den Wälder umstellen und absuchen sollte.

In den spaltenlangen Berichten wurde auch der Möbelreisende erwähnt, auf den der Ver­brecher eine Anzahl Schüsse abgegeben hatte, ehe er über einen Zaun in der Dunkelheit verschwand.

Bis auf einen Menschen ahnte niemand in London, dass dieser Reisende kein anderer als Sherlock Hol­mes gewesen war. Dieser eine jedoch, der sofort im Bilde war, hieß Jonny Buston. Das Entsetzen Jonnys war unbeschreiblich, als er den Bericht überflog. Wusste er doch nun, dass jener geheimnisvolle Rad­fahrer, der Sherlock Holmes folgte, Ian Payne war. Wusste er doch nun auch, dass dieser Schurke in seinem lodernden Hass fest entschlossen war, den Detektiv zu töten, und dass er Sherlock Holmes nur zur Erreichung dieses Zwecks nach Royton gefolgt war!

Diese Erkenntnis raubte Jonny jede Ruhe. Er zitterte vor jedem Klingeln des Telefons, jeder neuen Zeitungsausgabe, jedem Läuten an der Vorsaaltür, immer wartend, die Kunde von des geliebten Meisters Tod zu vernehmen. Bis er es nicht länger aushielt. Warum hatte ihn Sherlock Holmes in London zurückgehalten? Damit er die Wohnung gegen ein vielleicht vonseiten Ian Payes erfolgendes Attentat schützen konnte! Nun aber war der Beweis erbracht, dass der Verbrecher London verlassen hatte.

Was sollte er, Jonny, also noch in London? War es nun nicht besser, er reiste dem Meister Hals über Kopf nach Royton nach, um ihm dort in seinem schweren Kampf beistehe zu können? Jonny Boston fieberte. Nein, er konnte gar nicht anders handeln! Er musste nach Royton, um an Sherlock Holmes’ Seite gegen diesen Unhold zu kämpfen! Fort mit allen Bedenken: Noch heute reiste er ab!

Nun war es sieben Uhr abends. Um acht ging der nächste Zug. Den würde er benutzen! Und Jonny begann, in fieberhafter Eile seinen Koffer zu packen. Zahnbürste, Seife, Handtuch, Rasierapparat, etwas Wäsche, Revolver, Handschellen schleppte er herbei. Aus der Küche holte er ein halbes Brot, Wurst, Butter und Eier. Die Eier entglitten seiner Hand, gaben auf dem Fußboden einen röchelnden Laut von sich und lösten sich in ihre einzelnen Bestandteile auf. Zum Unglück trat Jonny in seiner Hast mitten in das unfreiwillige Rührei hinein, rutschte aus und saß gleich darauf mit seiner ganzen unteren Breitseite in der gelbfarbenen Geschichte. Dabei kollerte ihm das Brot aus der Hand und prallte gegen das Stuhlbein. Auf dem Stuhl stand der Koffer, der sich seinerseits ärgerlich zur Seite neigte und herunterkippte, hierbei seinen ganzen Inhalt wieder ausspeiend. Jonny packte die Verzweiflung.

Er raste in das Schlafzimmer zurück, um sich um­zuziehen. Das war nicht ganz einfach, denn in seiner fiebernden Eile entglitt ihm nicht nur der Kragen­knopf, der sich sogleich voll tückischer Bosheit unter dem Waschtisch versteckte, sondern auch der Schlüs­sel zum Kleiderschrank. Ehe er die Suche nach dem vermaledeiten Ding mit Erfolg beenden konnte, schrillte die Korridorglocke.

Jonny raufte sich das Haar und stieß ein paar gräss­liche Flüche aus. Da die Klingel aber anfing, Sturm zu läuten, überwand er das unangenehme Gefühl, das ihm das immer noch an seinem Beinkleid haftende Eiergulasch bereitete, und stürzte zur Tür.

Draußen stand Wilkins, ein Detektiv von Scotland Yard.

»Mr. Holmes da?«, rief er hastig. »Schnell, Mr. Buston, führen Sie mich sofort zu ihm. Ich muss ihn dringend sprechen!«

Jonny rang nach einem Entschluss. Er hatte von Sherlock Holmes strikte Weisung erhalten, keinem Menschen, einschließlich der Herren vom Polizei­präsidium, das Ziel seiner Reise zu verraten. Nun waren inzwischen Verhältnisse eingetreten, die zwar allerlei geändert hatten, aber immerhin: Befehl war Befehl! Sherlock Holmes konnte sehr ungemütlich werden, wenn seine Anweisungen nicht wunschge­mäß befolgt wurden. So wählte Jonny den Mittel­weg.

»Im Augenblick ist er nicht da, Mr. Wilkes, aber vielleicht kann ich ihm etwas ausrichten?«

Der Detektiv nickte, betrat den Korridor und schloss die Tür hinter sich.

»Hören Sie gut zu, Mr. Buston«, sagte er. »Wir ha­ben nämlich soeben Reginald Trampwell verhaftet, der angeblich von seinem Schloss verschwunden sein sollte.«

»Trampwell?«, murmelte Jonny entgeistert. »Ja, der Kerl führte ein Doppelleben. Wollte eben nach New York entwischen, aber wir waren etwas schneller und nahmen ihn fest. Der Mann hat jahrelang mit noch ein paar Komplizen auf seinem Schloss Falsch­geld hergestellt. Bis auf einen wissen wir noch nicht, wer diese Helfershelfer sind. Dieser eine aber ist Jim Whitman. Den Namen kennen Sie doch auch, was? Whitman ist der berüchtigtste Falschmünzer, den London je gesehen hat.

Wir entdecken den Namen dieses Burschen in Papieren, die Trampwell unvorsichtigerweise bei sich trug. Haben Sie alles behalten, was ich Ihnen bisher erzählt habe?«

»Ja«, antwortete Jonny etwas benommen.

»Also weiter. Scotland Yard bittet Sherlock Holmes dringend, sich an der Suche nach den Komplizen, insbesondere an der Jagd auf Whitman, dem Haupträdelsführer, zu beteiligen. Die Burschen müssen unbedingt hinter Schloss und Riegel gebracht werden. Drei Inspektoren sind schon zum Schloss unterwegs, um die Fälscherwerkstatt zu besichtigen und von dort aus nach den Spuren zu suchen. Eigentümlich, dass sich just in derselben Gegend gestern Ian Payne gezeigt hat. Vielleicht kann der Kerl bei dieser Gelegenheit gleich mitgefasst werden. Also, wir verstehen uns, nicht wahr? Sagen Sie Mr. Holmes sofort nach seiner Rückkehr, dass man ihn dringend in Scotland Yard erwartet, ja? Also gut, erledigt. Good evening, Mr. Buston!«

Jonny vergaß die Spiegeleier. Er blickte nur auf das Zifferblatt seiner Taschenuhr und bemerkte, dass nur noch vierzehn Minuten an der Abfahrt seines Zu­ges fehlten.

Da stülpte er sich seine Mütze auf den Kopf und stürmte davon, und erst als er mit Mühe und Not den Zug im Augenblick seiner Abfahrt erreicht hatte und sich atemlos auf den Polstersitz niederließ, stellte er erschauernd fest, dass der Bann des Eiergulasch noch immer nicht gewichen war, dass es sich sogar ganz niederträchtig in klebender Weise bemerkbar mach­te. Aber daran war nun nichts zu ändern. Gegen das Schicksal ließ sich eben nicht ankämpfen.

Fortsetzung folgt …