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Der Welt-Detektiv Nr. 8 – 4. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 8
Der Mann im Nebel
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

4. Kapitel

Die Schlucht des Grauens

Sherlock Holmes stieß einen Fluch aus. Mit einem Schlag erriet er den Zusammenhang. Ian Payne schien entschlossen zu sein, seinen Schwur zu erfül­len.

Er war ihm, dem verhassten Todfeind, hierher gefolgt, wobei es Sherlock Holmes rätselhaft schien, auf welche Weise Payne von dieser Reise Kenntnis erhalten haben konnte. Jedenfalls aber war er ihm bis in diesen Flecken hier gefolgt, daran war nicht zu zweifeln, und wenn diese Tatsache auch vorerst noch so unbegreiflich erschien, Paynes geringe Mittel, die er aus dem Zuchthaus mitgebracht hatte, waren wahrscheinlich zur Neige gegangen. So war viel­leicht in ihm der Entschluss gereift, den erstbesten Menschen, er ihm über den Weg lief, zu überfallen.

Die Absicht, zu töten, brauchte ihn nicht be­herrscht zu haben. Zum Mord war es vielleicht erst durch die Gegenwehr des Überfallenen gekommen. Aber ganz gleich, so oder so: Ian Payne befand sich in Royton! Ian Payne und kein anderer war der Mör­der! Noch in derselben Stunde teilte Sherlock Hol­mes seine Kenntnis den Polizeibehörden mit, die ihrerseits sofort alle Schritte unternahmen, des Flüchtigen habhaft zu werden.

Sämtliche Gendarmerien, Bahnhöfe und Dampferstationen wurden verständigt, und eine Stunde später funkte bereits die Londoner Polizei-Bildfunkstation das Foto und den Fingerabdruck Paynes an alle englischen Stationen. Das Netz um den Mörder war gesponnen. Er konnte aus England nicht mehr ent­kommen.

Um sich selbst machte sich Sherlock Holmes, wie immer, wenig Sorge. Ian Payne würde nun wohl an­deres zu tun haben, als an seine hasstriefenden Ra­chegelüste zu denken. So nahm der Weltdetektiv wenigstens an. Die Erlebnisse des nächsten Tages ließen ihn allerdings anderen Sinnes werden …

Da er die Polizeibehörde um strengstes Still­schweigen über seine Persönlichkeit gebeten hatte, ahnte niemand, dass der Möbelreisende, der so tat­kräftig handelte, der Welt berühmtester Detektiv war.

Schon gegen 6 Uhr morgens verließ Sherlock Holmes den kleinen Ort und trat den Weg an, der sowohl zur Schlucht als auch zum Schloss führte. Getreu seiner Rolle, trug er ein Köfferchen, in dem sich aber keine Möbelkataloge, sondern ein Seil und ein fotographischer Apparat befanden, bei sich.

Da er scharf ausschritt, erreichte er bereits nach zweieinhalbstündiger Wanderung die Lichtung, an deren Ende die Schlucht steil abfiel. Hatte er wäh­rend des Marsches schon mehr als einmal hinter sich geschaut, um sich vor etwaigen Verfolgungen und Beobachtern zu sichern, so verdoppelte er nun seine Aufmerksamkeit. Aber alles blieb ringsumher still. Nur das Rauschen des tief unten in der Schlucht da­hinstürmenden Wildbachs traf sein lauschendes Ohr.

Schon schickte er sich an, mit raschen Schritten die Lichtung zu überqueren, als er ein leises Kna­cken vernahm. Blitzschnell fuhr er herum und mus­terte seine Umgebung. Aber sein spähender Blick sah nur Büsche und Bäume. Weit und breit war kein menschliches Wese zu erblicken.

»Unsinn!«, murmelte er vor sich hin. »Niemand außer Ian Payne weiß, dass ich mich nach Royton begeben habe, und dieser Bursche wird alles daransetzen, sein Fell in Sicherheit zu bringen, statt seine Zeit damit zu vertrödeln, mir nachzuschleichen.«

Dennoch verharrte er einige Minuten und lauschte in den Wald hinein. Als sich das Geräusch nicht wie­derholte und auch sonst nichts Verdächtiges zu be­merken war, durchmaß er die Lichtung und stand gleich darauf an jener Stelle, an der die beiden unbe­kannten Männer einen Dritten in die Schlucht ge­schleudert hatten.

Ein Schauder packte ihn, als er in den grausigen Abgrund starrte, der sich da zu seinen Füßen auftat. Zackig fielen zu beiden Seiten die Felswände steil in die Tiefe.

Wer hier herabstürzte, war rettungslos verloren. Sein Körper musste auf den kantigen Blöcken, die den Grund des Baches bedecken, zerschmettert wer­den. Aber nur wenige Augenblicke konnte die Schlucht Sherlock Holmes schrecken. Er war hierhergeeilt, das Verbrechen aufzuklären. Der schauervolle Anblick vermochte es nicht, ihn von seinem Plan abzuhalten.

Dieser Plan bestand aus mehreren Unternehmen, deren erstes es war, dem Grund der Schlucht einen Besuch abzustatten. Um dieses Ziel zu erreichen, war nur ein Weg möglich: sich an einem Seil in die Tiefe zu lassen.

Ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, dass es bereits neun Uhr geworden war. Es galt zu handeln. Schnell öffnete er den Koffer und entnahm ihm das Seil, dessen eines Ende er kunstgerecht um einen Baum­stumpf wickelte und fest verknotete. Das andere warf er in die Tiefe und stellte zu seiner Freude fest, dass es bis auf den Grund der Schlucht hinabreichte.

Noch einmal ließ er den Blick rings in die Runde schweifen. Dann packte er das Seil mit nervigen Fäusten, kroch über den Rand des Abgrunds und ließ sich, die Beine kräftig zu Hilfe nehmend, langsam in den halbdunklen Schlund hinab. Hier und da ritzte er sich die Hände an den scharfen Steinwänden blutig, wenn er ihnen unbeabsichtigt zu nahekam. Aber was machte ihm das aus? Hier ging es um mehr als Schrammen. Hier ging es um die Aufklärung eines gemeinen Verbrechens, um das Dingfestmachen zweier Mordbuben, die nicht lange – Sherlock Hol­mes schwor es sich – über das Gelingen ihrer Untat triumphieren sollten.

Je mehr er sich seinem Ziel näherte, umso lauter wurde das dumpfe Brausen des Baches. Die steil abfallenden Wände, oben von der Sonne ausgedörrt, zeigten immer stärkere Feuchtigkeit. Schwamm und Moos breiteten sich hier ungestört aus, machten das Gestein glatt und verwehrten so Sherlock Holmes’ Füßen immer mehr den festen Halt, sodass er ge­zwungen war, den Rest der lebensgefährlichen Reise lediglich am Seil allein zurückzulegen.

Als er schließlich den Grund erreichte und vorerst auf dem erstbesten Steinblock zu sitzen kam, standen ihm die Schweißperlen auf der Stirn. Aber er achtete ihrer nicht, wie es ihm auch in diesem Au­genblick gleichgültig war, dass sein Schuhwerk bin­nen weniger Sekunden von dem den Steinblock um­schäumenden Wasser durchnässt wurde.

Nur eines konnte sein Interesse erwecken – und dies war ein menschlicher Körper, der, kaum drei Meter von ihm entfernt, mit dem Kopf nach unten im Wasser lag. Eine kleine, zackig hervorspringende Felsenklippe hatte sein Fortschwemmen verhindert. Sherlock Holmes’ Augen schossen Blitze.

Blindlings sprang er in das Wasser hinein. Es reichte ihm bis über die Knöchel, aber er scherte sich nicht darum. Als er den reglosen Körper erreicht und ihn unter Aufbietung aller seelischen und körperliche Kräfte herumdrehte, entglitt ein Ruf der Verblüffung seinen Lippen. Nicht der junge Besitzer des Schlosses war es, der seit vorgestern spurlos verschwunden war, sondern ein älterer Mann von vielleicht fünfzig Jahren mit dunkelblondem Haupt- und Barthaar … ein Mann, den Sherlock Holmes nur zu gut kannte, war er doch kein anderer als Jim Whitman, Londons berüchtigter Falschmünzer!

Wahrhaftig, diese Entdeckung war dazu angetan, Sherlock Holmes’ Kombination mit einem Schlage über den Haufen zu werfen. Seine ursprüngliche Vermutung, es könnte sich in den Tätern um Perso­nen aus dem Schloss gehandelt haben, empfing einen empfindlichen Stoß.

Was konnte der Schwerverbrecher mit Schloss Trampwell zu tun haben? Ob die beiden Täter Leute waren, die sich nur zufällig in diese Gegend verirrt hatten oder unter Umständen extra von London in diese Einsamkeit gekommen waren, um hier ihre unheilvolle Tat auszuführen?

Eine wahre Flut neuer Gedanken und Kombinatio­nen durchströmte Sherlock Holmes, als er auf Jim Whitman niederschaute. Nachdem er sich kurze Zeit mit dem Toten beschäftigt hatte, musste er eine weitere unerwartete Feststellung machen, dass der Tote nämlich schon tot gewesen war, als man ihn in den Abgrund schleuderte.

Dennoch war Whitman keines natürlichen Todes gestorben. Eine Kugel, die vom Rücken her seine linke Brust durchbohrte, hatten seinem Leben ein vorschnelles Ende bereitet. Whitman war hinterrücks niedergeschossen worden! Sherlock Holmes richtete sich auf. Sein Antlitz war hart wie Stein. Nur in sei­nen grauen, klarblickenden Augen glomm ein ge­fährliches Feuer.

Wer auch die Täter waren, sie wollten sich ver­rechnet haben, wenn sie angenommen hatten, dass Whitmans Leichnam niemals gefunden werden wür­de. Nicht eher wollte er ruhen, bis diese Untat seine Sühne gefunden hatte. Vorläufig musste er den Toten in der Schlucht zurücklassen, da es ein Ding der Unmöglichkeit war, ihn allein zu bergen. So wandte sich Sherlock Holmes kurz entschlossen ab und wa­tete durch das aufspritzende Wasser dem Seil zu. Doch was war das? Narrte ihn ein Spuk? Eine Halluzination? Wo war das Seil? Ein eisiger Schreck durchzuckte den Detektiv.

Sein Blick glitt erregt an den zackigen Felswänden entlang. Hier – ja, hier war er an dem Seil herunter­gekommen. Ganz deutlich sah er die Spuren im feuchten Moos, die seine Füße vorhin zurückgelassen hatten. Zum Teufel, was bedeutete das? Sekundenlang stand Sherlock Holmes wie versteinert auf ein und demselben Fleck. Bis dann plötzlich etwas geschah, das mit einem Schlag das scheinbare Rätsel löste.

Plötzlich verdunkelte sich nämlich die Schlucht. Sherlock Holmes starrte nach oben. Um keinen Augenblick zu früh, denn unter furchtbaren Getöse stürzte ein riesiger Felsblock herab. Für den Bruch­teil einer Sekunde stand der Weltdetektiv wie gelähmt. Dann aber sprang er mit einem mächtigen Satz zur Seite, gerade noch rechtzeitig genug, um nicht von den herabsausenden Riesensteinen zerschmettert zu wer­den. Der Aufschlag war schrecklich. Das Wasser spritzte zischend auf und durchnässte Sherlock Hol­mes bis auf die Haut. Ein wahrer Sprühregen von splitterndem Gestein erfüllte die Schlucht. Dann aber wurde es still. Der Block lag inmitten des Baches, so ruhig und friedlich, als hätte er schon immer dort gelegen.

Ein Schauer rann Sherlock Holmes über den Rücken. Wäre er einen Augenblick später zur Seite ge­sprungen, hätte diese Schlucht des Grauens ihr zwei­tes Opfer verschlungen. Dann jedoch erfasste den Kriminalisten eine wilde Wut. Das Herabstürzen des Steinblocks war kein Zufall! Eine teuflische Hand musste ihn an den Rand des Abgrundes gewälzt und von dort aus hinabgestoßen haben! Dieselbe Hand, die zuvor in aller Stille das Seil hinaufgezogen hatte, um auf diese Weise dem Detektiv den Rückweg ab­zuschneiden!

»Ian Payne!«, durchzuckte es Sherlock Holmes. Und wie zur Bestätigung seiner Wahrnehmung er­schien hoch oben am Rand der Schlucht das hassverzerrte Gesicht des entlassenen Zuchthäuslers.

»Hund!«, knirschte Sherlock Holmes. Seine Hand fuhr in die Tasche. Der Browning blitzte in seiner Hand. Aber ehe er dazu kam, den ersten Schuss abzugeben, war der Unheimliche bereits wieder ver­schwunden.

Fortsetzung folgt …