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Der Welt-Detektiv Nr. 8 – 3. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 8
Der Mann im Nebel
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

3. Kapitel

Von Gefahren umlauert

In dem sportmäßig gekleideten Mann, der gegen Abend das Haus des Weltdetektiv verließ und eine vor der Tür stehende Autodroschke bestieg, hätte niemand Sherlock Holmes vermuten können. Ein paar geschickt mit dem Schminkstift gezogene Stri­che hatten sein Antlitz völlig verändert.

Jonny Buston stand oben am Fenster und wohnte von hier aus mit gemischten Gefühlen der Abfahrt des Meisters bei. Noch einmal schaute Sherlock Holmes zu ihm hinauf und winkte mit der Hand den Abschiedsgruß. Dann setzte sich der Wagen in Be­wegung und fuhr in raschem Tempo die Surry Street hinab.

Noch ehe er aber im Dunkel verschwunden war, geschah etwas Sonderbares. Eine Männergestalt löste sich aus dem Schatten des gegenüberliegenden Hau­ses, schwang sich auf ein Fahrrad und jagte hinter dem Auto her.

»Das ist Ian Payne!«, durchzuckte es Jonny, aber ehe er auch noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, waren Auto und Rad seinen Blicken ent­schwunden. Fünfzehn Minuten später bestieg Sherlock Holmes den Zug, nicht ahnend, dass sein Todfeind im nämlichen Augenblick das Gleiche tat.

Nach dreistündiger Fahrt wurde Royton erreicht. Royton war ein kleiner Marktflecken, von dem aus Schloss Trampwell in dreistündigem Fußmarsch zu erreichen war. Da Mitternacht nicht mehr sehr fern war, beschloss Sherlock Holmes, die wenigen Stunden bis zum nächsten Morgen in einem der kleinen Gasthäuser zuzubringen.

Zu seiner Verwunderung fand er das Gastzimmer des ersten Gasthofes, den er betrat, stark besucht. Das war erstaunlich, denn die Bewohner Roytons und ähnlicher kleiner Orte pflegten um die Zeit längst zu schlafen. Er nahm ein Zimmer für die Nacht, begab sich aber, ehe er sich niederlegte, noch einmal in das Gastzimmer hinab, um einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen.

Anfangs schenkte er der Unterhaltung der Anwe­senden wenig Aufmerksamkeit, dann aber erwachte jäh sein Interesse. Das geschah, als klar und deutlich an einem Tisch das Wort Trampwell fiel. Von die­sem Augenblick an ließ er sich keine Phase der Unterhaltung entgehen. Bald genug merkte er, dass es an all den Tischen nur einen Gesprächsstoff gab: Schloss Trampwell!

Reginald Trampwell, der Herr des prächtigen Sit­zes, war verschwunden! Gegen 10 Uhr vormittags des gestrigen Tages war er zur Jagd ausgezogen, ohne bisher zurückgekehrt zu sein. Sherlock Holmes hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. An­gestrengt lauschte er. Die tollsten Gerüchte flogen von Tisch zu Tisch. Hier behauptete man, es stecke eine Wette dahinter, dort war man der Ansicht, der Schlossherr habe sich zu Unrecht in den Besitz des väterlichen Erbes gesetzt und sei nun geflohen, weil er die Rache seines älteren Bruders fürchtete, der in den nächsten Tagen aus Indien zurückkehren würde.

Wieder andere Stimmen vertraten den Standpunkt, es läge ein Unglück vor, während ein Teil der aufge­regt diskutierenden Männer schlankweg von einem Verbrechen sprachen, dem der Besitzer des Schlosses zum Opfer gefallen sei. Sherlock Holmes winkte den Wirt herbei und bat ihn, ein Glas Wein mit ihm zu trinken.

»Ich bin Vertreter einer Londoner Möbelfabrik«, sagte er, »und wollte morgen zum Schloss hinauf. Zu meinem Schrecken höre ich aber soeben, dass dort etwas Schreckliches geschehen ist. Verhält sich das wirklich so?«

Der Wirt nickte eifrig.

»Niemand weiß etwas Bestimmtes«, meinte er. »Mr. Trampwell soll spurlos verschwunden sein. Aber ich …«

»Ah, Sie nehmen an, dass …«

»Ich nehme eigentlich gar nichts an«, erwiderte der Wirt behaglich, »aber ich kenne Mr. Trampwell zu gut. Ist ein toller Kerl, dieser Trampwell. Der Sekt fließt im Strömen, wenn er sich einmal zu mir verirrt. Hat sich schon manches Stückchen geleistet, der junge Herr. Einmal war er drei volle Tage fort, und dann stellte es sich heraus, dass er bloß heimlich nach London gefahren war, um dort zu spielen.«

»Karten?«

»Dachten Sie vielleicht, Mr. Trampwell spielte Fußball?« Der Wirt lachte aus vollem Hals und leer­te das vor ihm stehende Glas in einem Zug. »Nein, der liebe Herr liebt das Kartenspiel wie nichts auf der Welt. Und darum denke ich, es wird diesmal genauso sein. Während man auf dem Schloss das Schlimmste befürchtet und sogar schon nach London wegen Verstärkung durch einige Polizeibeamten telegra­fiert hat, sitzt der Verschwundene sicher in irgendeinem Londoner Spielclub und …« Der Wirt hielt plötzlich inne. Gleichzeitig verstummte auch das vorher so lebhafte Gespräch der übrigen Gäste

Schuld daran trug ein seltsamer Laut, der von draußen her durch den Raum schallte. Da! Noch einmal! Diesmal konnte niemand mehr über seine Bedeutung im Zweifel sein: Ein Mensch schrie um Hilfe!

Ein wildes Durcheinander entstand, aber ehe noch jemand die Ausgangstür erreichen konnte, befand sich Sherlock Holmes bereits im Freien. Ein paar schwach brennende Gaslaternen erhellten die Straße nur notdürftig. Mit blitzenden Augen sah sich der Weltdetektiv um. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Da hallte zum dritten Mal der Schrei durch die Nacht, nur dass es diesmal wie das letzte, verzweifel­te Röcheln eines Sterbenden klang. Sherlock Holmes jagte die Straße entlang der Stelle zu, von welcher der Schrei erklungen war.

Dort, wo die Straße einen Knick machte, lag ein Mensch am Boden. Ein Zweiter kniete auf ihm, sprang aber auf die Füße, als er Sherlock Holmes heranstürmen sah, und griff blitzschnell in die Rock­tasche.

Ehe sich der Detektiv niederwerfen konnte, krach­ten bereits die ersten Schüsse. Rechts und links pfiffen die ersten Kugeln an seinem Kopf vorbei. Die vierte durchlöcherte seine Mütze, und die fünfte hät­te fraglose seinen Kopf zerschmettert, wenn er nicht instinktiv einen wilden Satz zur Seite gemacht hätte. Da blitzte aber auch schon in seiner Hand der Brow­ning. Doch bevor er zum Feuern kam, ergriff er Un­bekannte die Flucht, rannte in wildem Zickzack zu dem Zaun, der sich zur rechten Seite der Straße be­fand, schwang sich darüber und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Als die erregten Wirtshausbesucher herankamen und hier und dort auch schon Fenster und Türen auf­gerissen wurden, kniete Sherlock Holmes bereits neben dem Mann, der reglos auf dem Straßenpflas­ter lag. Auf den ersten Blick erkannte er in ihm einen der Gäste wieder, der sich gleichzeitig in der Gast­wirtschaft aufgehalten, aber vor wenigen Minuten das Lokal verlassen hatte, um den Heimweg anzutre­ten.

Der Mann war tot. Ein paar mit grausamer Heftigkeit geführte Messerstiche hatten seinem Leben ein gewaltsames Ende bereitet. Der übrige Befund ließ klar auf einen Raubmord schließen. Die Uhr fehlte. Sie war in wilder Hast von der Kette gerissen worden. Die innere Rocktasche war leer. Hier hatte der Unglückliche wahrscheinlich seine Geldtasche aufbewahrt. Aber nein, dort lag ein kleines Ledertäschchen! Sherlock Holmes griff danach und schaute hinein. Aber es war nicht das Eigentum des Toten, das er in der Hand hielt, sondern das des Mörders.

Wahrscheinlich hatte es zwischen ihm und seinem Opfer einen Kampf gegeben, bei dem der Schurke diese Tasche verloren hatte. Sie enthielt nicht viel. Nur einen Quittungsschein über ein auf dem Londoner Bahnhof aufgegebenes Fahrrad … Ja, und noch etwas! Einen Schein, in dem die Entlassung aus dem Zuchthaus bescheinigt wurde. Der Name des Sträflings war genau angegeben. Er lautete: Ian Payne!

Fortsetzung folgt …