Der Welt-Detektiv Nr. 8 – 2. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 8
Der Mann im Nebel
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
2. Kapitel
Ein unheimlicher Film
Als Sherlock Holmes dem Direktor der Filmfabrik gegenüberstand, war er überzeugt, dass wirklich etwas außergewöhnlich Furchtbares geschehen sein müsse, denn Mr. Regusser zitterte vor Aufregung.
»Wir sind hinter eine grässliche Bluttat gekommen, Mr. Holmes«, sprach er, nachdem er die Tür seines Privatbüros hinter sich geschlossen und die Besucher zum Platznehmen aufgefordert hatte. »Gestern flog einer unserer Operateure nach Manchester und drehte unterwegs einige Meter Film, als die Maschine die malerische Gegend in der Nähe von Schloss Trampwell überflog. Der Filmstreifen – es handelt sich um insgesamt dreißig Meter – wurde entwickelt und kopiert. Als wir uns soeben ahnungslos in unserem Vorführungsraum diesen kleinen Film ansahen, stellte sich heraus, dass … dass …« Der Mann suchte in seiner Erregung nach passenden Worten. »Nein«, rief er schließlich, »warum soll ich lange Reden führen? Bitte, sehen Sie selbst, was der Operateur ahnungslos fotografierte!«
Sherlock Holmes und Johnny folgten dem Direktor in den Vorführraum. Regusser klatschte in die Hände. Der Raum verdunkelte sich, die Vorführung nahm ihren Anfang. Sie währte kaum drei Minuten, aber was Sherlock Holmes in dieser winzigen Zeitspanne erblickt hatte, ließ selbst sein Herz schneller schlagen.
Der Film zeigte Schloss Trampwell aus der Vogelperspektive. Das Flugzeug, von dem aus das Stückchen Film aufgenommen worden war, schwebte in etwa 50 Meter Höhe über dem prachtvollen Bau, der ringsum von Wald umgeben war.
Südlich des Schlosses erfuhren die Waldung eine Unterbrechung. Hier klaffte eine tiefe Schlucht. Steil und zackig fielen zu beiden Seiten die Felswände ab. Tief unten auf dem Grund schäumte das Wasser eines über Steinblöcke und Geröll dahinstürmenden Wildbaches. Es war kein Wunder, dass dieses herrliche Landschaftsbild den Filmoperateur zu einer Aufnahme gereizt hatte. Was jedoch seinen Augen entgangen war, hatte die unbestechliche Kamera auf den Filmstreifen gebannt!
Zwei Männer standen hart am Abgrund der Schlucht. Sie wirkten zwar klein, aber waren doch deutlich zu erkennen, zumal sich ihre dunkle Kleidung scharf von dem hellen Felsgestein abhob. Nun bückten sie sich und hoben etwas vom Boden auf. Dieses Etwas war ein menschlicher Körper! Sie schwangen ihn zweimal, dreimal hin und her und schleuderten ihn in die Tiefe. Der Sturz des menschlichen Körpers bot einen schrecklichen Anblick. Sich unzählige Male überschlagend und dabei mehr als einmal die zerrissene Wände berührend, sauste er in die furchtbare Tiefe. Die beiden Männer standen Sekunden unbeweglich. Dann starrten sie plötzlich in die Luft. Erst jetzt schienen sie das Flugzeug zu bemerken. Diese Entdeckung schien sie für den ersten Augenblick zu lähmen, denn wie erstarrt standen sie am Abgrund und rührten sich nicht. Dann aber stürmten sie gemeinsam davon, den Wald zu. in dem sie auch verschwanden.
Als im Vorführraum das elektrische Licht wieder aufflammte, fragte Regusser erregt: »Tat ich nicht gut, Mr. Holmes, Sie sofort von dieser fotografischen Zufallsaufnahme zu verständigen?«
Sherlock Holmes antwortete nicht. Mit undurchsichtiger Miene saß er im Sessel und blickte unter halb geschlossenen Lidern vor sich nieder. Er hatte schon manches in seiner Praxis erlebt, aber ein gefilmtes Verbrechen handelte es sich hier, daran war nicht zu zweifeln. Zwei Männer hatten einen dritten in mörderischer Absicht in den Abgrund geschleudert.
Wer waren die Mörder? Wer war das unglückliche Opfer? Sherlock Holmes’ Hirn arbeitete fieberhaft.
Die Schlucht mochte sich nach ungefährer Schätzung 600 Meter vom Schloss Trampwell befinden. Da dieses Schloss vom nächsten Ort etwa drei Stunden entfernt lag, war anzunehmen, dass es sich bei den Tätern nicht um ortsfremde, sondern um Personen handelte, die auf Trampwell wohnten. Entschlossen richtete sich der Weltdetektiv auf.
»Bitte«, wandte er sich an den Direktor der Gesellschaft, »lassen Sie den Film noch einmal laufen.«
Zum zweiten Mal zog das schreckliche Schauspiel auf der weißen Wand vorüber. Als es wieder hell wurde, erhob sich Sherlock Holmes vom Sessel und reichte dem Direktor die Hand.
»Ich danke Ihnen für den telefonischen Anruf«, sagte er. »Und wenn ich noch eine Bitte an Sie richten darf, so ist es die, über den Inhalt dieses Films unverbrüchliches Schweigen zu bewahre, ganz gleich, was auch geschehen mag.«
»Ihr Wunsch ist mir Befehl, Mr. Holmes!«
»Gut, ich verlasse mich ganz auf Sie, Mr. Regusser. Wer hat außer ihnen noch Kenntnis von dieser Aufnahme?«
»Der Operateur, der den Film drehte, und der Mann, er uns soeben das schreckliche Bild vorführte.«
»Kann ich die beiden Männer sofort sprechen?«
Sie waren bald zur Stelle. Beide versicherten ehrenwörtlich, das Gesehene für sich zu behalten. Dann zog Sherlock Holmes den Operateur zur Seite.
»Beantworten Sie mir bitte noch einige Fragen«, sagte er.
»Herzlich gern, Mr. Holmes«, erwiderte der Mann, »doch fürchte ich, Ihnen wenig berichten zu können, denn während ich die Aufnahmen machte, galt mein Blick nur der malerischen Landschaft im Allgemeinen.«
»Langsam, langsam, lieber Freund«, sprach der Weltdetektiv. »Ich schätze, Sie werden mir sogar sehr viel erzählen können, was zur Klärung der Bluttat beitragen wird. Vor allen Dingen: Wie spät war es, als Sie die Aufnahmen vom Flugzeug aus machten?«
»Wenige Minuten nach zwölf. Mr. Holmes.«
»Gestern?«
»Jawohl.«
»Wie war das Wetter?«
»Zur Zeit der Aufnahme ausgezeichnet. Kurz zuvor hatte es allerdings stark geregnet, und die Maschine musste mit heftigen Böen kämpfen.«
»Das ist nicht unwichtig«, meinte Sherlock Holmes und machte sich eine kurze Notiz. »Gehen wir weiter. Nach der Aufnahme überflogen Sie das Schloss. Schauten Sie hinab? Bemerkten Sie irgendetwas, das Ihr Interessen erregte?«
Der Operateur verneinte dies. »Wenn mir etwas auffiel«, sagte er, »so nur der Umstand, dass der ganze Komplex einen stillen friedhofsähnlichen Eindruck auf mich machte, so, als ob auf dem Schloss alles ausgestorben sei. Ich musste unwillkürlich an das Dornröschenschloss denken«, schloss er lächelnd.
Der Kriminalist nickte.
»Allerdings verflog der Märchenzauber schnell«, ergänzte der Operateur, »denn ich sah bald ein Automobil auf der Straße, die mitten durch den Hochwald führt.«
»Ein Automobil? Erinnern Sie sich der Richtung, in die es fuhr?«
»Gewiss. Es kam von dem Schloss.«
Sherlock Holmes ließ die Finger knacken, wie er es immer tat, wenn schwerwiegende Gedanken hinter seiner Stirn arbeiteten.
»So, so«, sagte er gleichmütig, »vom Schloss her also. Hm, wäre es wohl möglich, dass dieses Automobil den beiden Männern, die einen Dritten in die Schlucht warfen, zur Flucht gedient hat?«
Der Operateur überlegte, um dann die Frage entschieden zu verneinen.
»Das ist ausgeschlossen, Mr. Holmes. Als ich den Kraftwagen sah, waren höchstens zwei Minuten seit der Aufnahme verstrichen. In dieser Zeit können die Mörder unmöglich das Schloss erreicht haben, und außerdem befand sich ja der Wagen schon in einiger Entfernung von Trampwell. Nein, nein. Das Auto muss bereits, kurz bevor das Verbrechen in er Schlucht begangen wurde, vom Schloss fortgefahren sein.«
»Aha«, konstatierte Sherlock Holmes, um dann mit einem leisen Lächeln fortzufahren: »Und da glaubten Sie, mir wenig berichten zu können! Sie haben mir sogar sehr viel erzählen können, mehr, als ich eigentlich erwartet hatte!«
Er gab dem Verdutzten die Hand und verabschiedete sich dann von Mr. Regusser mit dem Versprechen, bald von sich hören zu lassen. Wieder auf der Straße, konnte sich Jonny Buston nicht länger beherrschen.
»So ein feiges Bubenstück!«, sagte er. »Aber die vermaledeiten Schurken ahnen nicht, dass ihr Verbrechen gefilmt wurde. Wir reisen doch noch heute nach Schloss Trampwell, Mr. Holmes, nicht wahr?«
»Wir?« Der Weltdetektiv lachte. »Nein, höchstens ich. Du wirst hübsch zu Hause bleiben und die Wohnung hüten.«
Jonny starrte den Meister fassungslos an.
»Zu … Hause … bleiben?«, stammelte er.
»Ja«, antwortete Sherlock Holmes, »denn einer muss doch dableiben und ein wenig auf Ian Payne aufpassen, der mir das Lebenslicht ausblasen will. Den aber scheinst du über den Film völlig vergessen zu haben!«
Allerdings, an den entlassenen Zuchthäusler hatte Jonny nicht mehr gedacht, und eine tiefe Falte grub sich in seine Stirn, als er die Möglichkeit eines heimtückischen Anschlages in Erwägung zog, den der Verbrecher vielleicht plante.
Fortsetzung folgt …
Neueste Kommentare