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Der Welt-Detektiv Band 6

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Von der Freude

Otto Gysae

Von der Freude

Der gute, alte König war gestorben. Alle, die ihn gekannt oder auch nur von ihm gehört hatten, weinten um ihn. Denn wenn jemand stirbt, dann weint man, besonders wenn es ein lieber, alter König ist, der immer gut und weise für sein Volk gesorgt hatte. Es war eine große, schöne Insel, wo er regiert hatte, und sein Schloss lag auf einem hohen Felsen dicht am Meer. Starke Säulen standen da und trugen graue Mauern, hohe Fenster schauten weit über das Wasser und glühten, wenn die Sonne unterging, und auf dem Turm flatterte eine blaue Fahne. Die weißen Wolken, die vorüberzogen, erzählten ihr von fernen Ländern. Die Gärten waren voller Rosen, und Efeu rankte über den Mauern, Laubgänge und dichte Hecken gab es, stille Teiche und tiefe Brunnen. Jeden Tag war der alte König da spazieren gegangen, und das Volk konnte ihn sehen. Wer ein Anliegen hatte, durfte durch das große, goldene Gitter zu ihm hereinkommen und auf den Wegen gehen, auch wenn sie gerade fein geharkt waren.

Aber nun war der alte König tot, und der junge König und alle seine Leute hatten ihn begraben. Nicht in der unterirdischen Halle mitten im Wald, wo all die früheren Herrscher auf steinernen Thronen zusammensaßen, sondern in einer tiefen Gruft unter dem Schloss. Es ging nämlich die Sage, dass die dort im Walde weiterlebten und dass der Letzte von ihnen zuzeiten sich dem Volk zeigte. Und von solchen Sachen mochte der junge König nichts wissen. Ich hatte wohl schon erzählt, dass das Volk sehr traurig war? Wo nur vom alten König gesprochen wurde, da weinte man, und alle sagten, so gut wie unter seiner Regierung würden sie es nie wieder haben. Die Alten mit den weißen Bärten meinten sogar, er sei gar nicht tot, und brannten im Wald große Feuer an, damit der alte König sich zurechtfinden konnte, falls er durch das Land ginge. Einige wollten ihn auch gesehen haben, als er an einem Feuer sich die Hände wärmte. Der junge König aber durfte davon nichts erfahren, sonst wurde er bitterböse. Denn er war dabei gewesen, als sein Vater starb, und er hatte ihn begraben und selbst die Tür zur Gruft geschlossen. Er ließ die Glocken läuten, den ganzen Tag und auch die Nacht hindurch, damit alle es hörten, dass der alte König wirklich tot war.

Nun begann ein strenges Regiment. Der alte König hatte so gern auf dem Söller seines Schlosses gesessen; denn von da aus konnte er beinahe die ganze Insel überblicken, die tiefen undurchdringlichen Wälder und die weiten Wiesen. Er hatte sich gefreut, wenn das alles so behaglich und friedlich zu seinen Füßen schlief, wenn er sah, wie die Kinder mit den Tieren des Waldes spielten, und wie die Alten vor ihren Hütten saßen und sich sonnten. Dann war er glücklich und fühlte sich so recht wie ein Vater von ihnen allen.

Aber der junge König fand, dass das nicht so weitergehen konnte. Sein Volk hatte noch gar nichts Rechtes geleistet und musste einmal ordentlich arbeiten. Damit er selbst mit gutem Beispiel voranginge, zog er hinein in die Stadt und nahm seinen ganzen Hofstaat mit. Des Königs Räte bekamen nun zu tun, mussten schreiben, bis sie Tintenfinger kriegten. Es wurde ein Mann angestellt, der den ganzen Tag keine andere Beschäftigung hatte, als Federn zurecht zu schneiden. Da wurden Pläne entworfen und Berechnungen angestellt, und der König rechnete selbst alles nach. Wenn es nicht stimmte, diktierte er eine Strafarbeit.

Eines Morgens gab es mitten im Wald, wo es ganz dunkel ist und niemals die Sonne hinkommt, ein lautes Krachen. Als die Köhler des Waldes herbeiliefen, um zu sehen, was das sein mochte, da prasselte es. Große Äste kamen brechend herunter. Sie mussten schnell aus dem Weg springen, damit sie nicht totgeschlagen würden. Denn eine große Eiche fiel zu Boden, und der Wald hallte wider von dem lauten Schrei, den der Baum in seiner Todesangst ausstieß. Fremde Männer standen dabei, mit Sägen und blanken Beilen, und sagten, hier solle eine Sägemühle gebaut werden, und der ganze Wald müsse abgehauen werden. Da erschraken sie alle sehr. Aber keiner wagte, etwas dagegen zu sagen, denn sie wussten, wie streng der König war. Monatelang hörte man nun nichts anderes als das Kreischen der Sägen und das Schlagen der Beile. Die Vögel wussten nicht mehr, wo sie ihre Nester bauen sollten. Alle Blumen wurden zertreten. Die großen Hirsche und die kleinen Rehe wurden vertrieben und viele flinke Eichhörnchen mussten ihr Leben lassen. Und was das Schlimmste war: Alle Köhler und alle Jäger, die dort im Wald wohnten, mussten selbst mithelfen, die Bäume zu fällen. Nach einem Jahr stand die Sägemühle da, und überall auf der ganzen Insel standen Sägemühlen, und ihr Kreischen und Knarren war lauter als die Brandung des Meeres.

Aber das war nur der Anfang. Denn die fremden Männer mussten irgendwo wohnen, und darum bauten sie sich Häuser. Dann mussten sie doch etwas zu essen haben, und da, ja, das war nun freilich eine schlimme Geschichte, denn bei dem Häuserbauen wurden die Felder zertreten, auf denen das Getreide wuchs. Weil der Wald nicht mehr da war und das Korn vor dem Wind schützte, lag es nun ganz danieder. Der Staub von Kalk und Ziegeln legte sich darüber und es gab eine schlechte Ernte. Da mussten also Schiffe gerüstet werden, um von anderen Inseln Getreide und Lebensmittel herüberzuholen. Um Schiffe zu bauen, wurde nun wieder Holz gebraucht, und das war noch nicht genug, denn man musste auch welches verkaufen können, damit man Geld bekam, denn das Getreide musste bezahlt werden. Die Schiffe segelten nun hinaus und waren bis oben hin mit Holz beladen. Nach Wochen und Monaten kamen sie zurück und brachten Getreide. Da hatten sie nun zu essen und hatten an dem Holz noch obendrein einen hübschen Batzen Geld verdient. Aber es kamen wilde Stürme, und graue Wolken, Regen und Gischt hüllten die Insel wie in einen nassen Sack. Riesige, grüne Wogen spielten Fangball mit den Schiffen. Die wussten gar nicht mehr, wo sie waren, und konnten den Hafen nicht finden. es geschah oft, dass sie auf scharfe Klippen stießen und jämmerlich zugrunde gingen. Dann warteten sie auf der Insel und warteten – aber das Schiff kam nicht, denn es war längst zerbrochen. Bis eines Tages irgendwo Planken ans Land spülten; da konnten sie sich wohl denken, wo das Schiff geblieben war. Dann bekamen sie es natürlich mit der Angst, und keiner wollte sich mehr hinaustrauen aufs Wasser.

Aber der König wusste Rat. Dicke Fässer mit Pech ließ er hinausbringen zu dem Turm, wo der alte König immer so behaglich gesessen hatte. Nun brannte in jeder Nacht dort oben ein helles Feuer. Es saß immer einer dabei und musste aufpassen, dass es nicht ausging. Da sahen die Schiffer nun schon von Weitem, wo die Insel war und wo es in den Hafen ging.

Der König wusste überhaupt immer Rat. Einmal gab es einen furchtbaren Sturm, der von Norden kam und eine ganze Woche lang über die Insel fegte. das Meer brüllte dazu und rannte den Strand hinauf, warf sich in das Land hinein, brauste über die Felder und spülte ganze Häuser weg. Das war nun ein großes Unglück, und viele Menschen kamen dabei um. Da befahl der König, dass die, welche einen Spaten hatten – und den hatten sie ja alle –, kommen sollten, um zu helfen. Da wurde ein Deich gebaut – ein breiter hoher Damm, über den das Meer nicht hinwegkonnte, und wenn es noch so wütend war. Das war freilich eine harte Arbeit und kostete auch viel Geld. Aber es war gut, dass der Deich gebaut wurde, denn einige Jahre später kam wieder eine Sturmflut, und die war schlimmer als die erste und hätte gewiss noch viel mehr Schaden angerichtet. Aber da stand nun der Deich wie eine feste Mauer. Man brauchte gar keine Angst zu haben, konnte in der warmen Stube bleiben und noch ein paar Scheite in den Kamin werfen, dass es dann so recht prasselte und krachte. Das taten sie auch und feierten ein Fest. Es ging hoch her dabei und sie tranken auf die Gesundheit des Königs.

Das muss überhaupt nun gesagt werden, dass sie dahinterkamen, was es eigentlich für ein kluger und starker König war, den sie hatten. Denn früher gab es ja auch satt zu essen, Erbsen und Speck und Braunbier; aber nun hatten sie jeden Tag Fleisch und Wein. Früher sparten sie sich mühsam ein paar Groschen zusammen; aber nun besaßen sie ihre eisenbeschlagenen Truhen. Darin häuften sich harte Taler. Ja, sie sahen ein, dass Fleiß Geld ins Haus bringt.

Aber nun kommt das Schlimme: Sie dachten nämlich nur noch an das Geld; dass sie hier zu wenig verlangt hätten und dort mehr verdienen wollten, dass sie neue Häuser für ihre Waren bauen wollten, dass die Schiffe ihnen im nächsten Jahr noch mehr Geld einbringen sollten als in diesem. Vom Morgen bis zum Abend gönnten sie sich keine Ruhe, vergaßen Feiertag und Sonntag – ach – nicht nur die Sonntage: Alles andere vergaßen sie darüber! Sie dachten nicht mehr an ihren alten König, sie lachten nicht mehr, wenn die Sonne schien, und jubelten nicht mehr, wenn der Himmel blau war. Die bunten Blumen auf den Wiesen sahen sie überhaupt nicht mehr.

Nun ist die Sonne gewiss recht gutmütig und scheint noch lange, auch wenn sie gar nicht beachtet wird; aber schließlich wird es ihr auch einmal zu viel. Sie zieht die grauen Wolkengardinen vor und lässt sich nicht mehr blicken. So machte sie es auch bei den Leuten auf der Insel. Der blaue Himmel und das blaue Wasser hatten nur darauf gewartet und taten es ihr nach, und die Blumen wurden vor Ärger ganz blass, grämten sich zu Tode und starben. Nun sah es bei allem Reichtum doch sehr traurig auf der Insel aus. Dicker, grauer Dunst und zäher Nebel, qualmende Wolken und tropfender Regen. Und die Gesichter alle so mürrisch und verstimmt. Griesgrämig und hastig liefen sie durch die Straßen. Man sah es ihnen an, dass sie auch nicht eine Minute Zeit hatten, sondern schnell viel Geld verdienen mussten. Dem König war es aber gerade so recht. Er sah, dass aus den Dörfern große Städte wurden mit Speichern und Lagerhäusern und dass der Hafen voller Schiffe lag, die kaum noch alle hineingingen. Er freute sich, denn so hatte er es gewollt.

Die Jahre gingen hin und die blinkenden Taler häuften sich. Aber die Taler waren auch das Einzige, was noch glänzte; denn die Gesichter waren brummig und voller Runzeln und Falten. Die Sonne kam überhaupt nicht mehr zum Vorschein. Einmal versuchte sie es noch, so um die Frühlingszeit, wenn anderwärts die Veilchen kommen; vielleicht, dass doch mal jemand zu ihr hinaufguckte und sich freute über ihr helles Licht; aber sie kam schön an damit. Unter den vielen Menschen war nur ein Einziger, der sie beachtete. Er zog die Gardine vor, weil das Licht ihn blendete, denn er schrieb gerade eine Rechnung. Da ließ es die Sonne nun bleiben. Die ganze Insel wurde grau wie Chausseestaub, die Menschen sahen aus wie Maschinen, und Lachen – ja, das Lachen kannte man schon lange nicht mehr. Aber eigentlich bildeten die Menschen sich ein, sie wären sehr glücklich. Sie merkten gar nicht, dass ihnen irgendetwas fehlte. Nun muss ich aber genau erzählen, denn manchmal merkten sie es nämlich doch. Das war so um die Zeit, wenn der Tag zu Ende ging, man aber die Lampe noch nicht recht anstecken konnte. Dann saßen sie in der Wohnstube und ruhten ein Weilchen aus und überlegten sich, wie reich sie waren. Wenn sie da so saßen und in Gedanken zählten, da ging manchmal ein leises Klingen durch das Haus, ein leises, trauriges Klingen. Keiner wusste, woher es kam. Vielleicht von der verstaubten Harfe, auf der Großmutter gespielt hatte, als sie noch jung war, die aber nun in der Ecke stand und von keinem mehr angesehen wurde? Oder war es das Lachen, das schon so lange auf den Wänden schlief und wie im Traum sich regte? Jedenfalls wurden sie ganz traurig davon. Ja, sie merkten mit einem Mal, dass es eigentlich ein trauriges Leben war, welches sie führten.

Eines Tages gingen sie zum König. Nicht gerade alle, aber doch ein paar von ihnen, auf die der König gern hörte, wenn er neue Pläne im Kopf hatte. Der König war sehr freundlich zu ihnen und fragte, was sie wollten. Da sagte der Älteste, sie hätten eine Bitte, und der König möchte ihnen doch helfen, wie er das bisher immer getan hätte. Da nickte der König und sagte, das werde er gern tun. Sie wüssten hoffentlich, dass er immer nur ihr Bestes wolle. Da verneigten sich alle ganz tief, und der Älteste fing an, die Bitte vorzutragen: Sie hätten nun gearbeitet, Tag und Nacht, viele Jahre hindurch und wären reich geworden und besäßen große Schiffe und Silberbarren und seidene Kleider. Aber eines hätten sie darüber ganz vergessen: Seit der alte König gestorben, hätten sie nicht ein einziges Mal gelacht, wüssten auch gar nicht, wie man das eigentlich machte. Nur eine dunkle Erinnerung hätten sie, dass es schöner aussähe als eine ganze Truhe voller Taler. Und nun möchten sie das Lachen so gerne wiederhaben und ob der König es ihnen nicht geben könnte.

Der König richtete sich stolz auf und sprach: »Ihr seid fleißig gewesen und habt gezeigt, was arbeitsame Hände leisten können. Darum sollt ihr auch euren Lohn haben.« Dann berief er seine Räte und veranstaltete ein großes Fest.

Das wurde nun ein Fest, kann ich euch sagen. So etwas Prächtiges hatten sie alle noch nicht gesehen. Der König bewirtete sein Volk, sie aßen von silbernen und goldenen Tellern die auserlesensten Speisen und tranken aus großen Pokalen feurigen Wein. Und der König saß obenan im Purpurmantel und neben ihm die Königin in weißer, goldgestickter Seide. Als es Abend wurde, flammte der Garten auf von Hunderten von Fackeln. Brennende Kugeln flogen in die Luft und zersprangen in schimmernde Blitz, sprühende Garben von Feuer sausten zum Himmel, wurden rot, dann blau und dann strahlend weiß, bis sie mit einem Mal erloschen und von der schwarzen Nacht gleichsam verschluckt wurden. Dazu tuteten die Hörner, schmetterten die Trompeten und jubilierten die Geigen. Dann war es plötzlich still, und die Musik schwieg, und der Garten war stockfinster. Mit einem Mal krachte ein Kanonenschuss, und hundert andere krachten hinterher. Das Feuer rasselte in die Höhe und das Licht brauste geradezu über die ganze Insel. Auf dem Balkon stand der König in goldener Rüstung und warf Goldstücke unter das Volk und – lachte.

Da fing das Volk an zu schreien und zu brüllen. Sie schoben und drängten sich und brüllten, was sie nur konnten. Das nannten sie Lachen, und da hatten sie also ihr Lachen nun wieder. –Aber am nächsten Morgen in der Frühe, als alle noch von dem Feste träumten und von den Goldstücken, die es geregnet hatte, und von dem brüllenden Lachen, das den Garten erschüttert hatte, da schlich einer hinein zum König und hatte Tränen in den Augen. Es war schlimm, dass dieser eine gerade des Königs junger Sohn war. Der König erschrak, als er ihn sah.

»War das alles, was du ihnen geben konntest?«, sagte er schluchzend zum Vater.

Der König wurde böse. Denn er hatte es sich ein gutes Stück Geld kosten lassen, und in dem Goldhaufen in seiner Schatzkammer war ein großes Loch. »Was willst du noch mehr?«, fragte er. »Habe ich ihnen ihr Lachen nicht wiedergegeben?«

»Ja, sie haben gebrüllt vor Lachen; aber es war kein glückliches Lachen, es war keine Sonne da, und du musstest Fackeln anstecken lassen. Blauer Himmel war auch nicht da, und du ließest blaue Leuchtkugeln in die Luft werfen, damit man glaube, es sei der Himmel. Klingendes Gold hast du ihnen gegeben, aber kein klingendes Lachen!«

Der König zuckte die Achseln.

»Es fehlte die Freude!«, sagte der Sohn.

Da wandte sich der König ab. Denn er wusste nicht, was das war. Der arme König wusste ja nicht, wie schön die Welt war, wenn die Sonne vom blauen Himmel herunterlachte, wenn die grünen Wiesen glänzten und die Vögel zwitscherten. Er hatte sich nie den Abhang hinunter gekugelt oder in duftenden Heuhaufen Kobolz geschlagen. Der junge Königssohn ging hinaus, denn er sah, dass sein Vater dem Volke die Freude nicht geben konnte; aber er wusste, dass sein Volk nicht eher glücklich sein würde, bis es die Freude hatte. Weil er sein Volk liebte, machte er sich auf, um die Freude zu suchen. Er ging den ganzen Tag. Schwarzer Dunst hüllte ihn ein, grauer Nebel drängte sich um ihn herum. Der Himmel weinte und hätte ihm so gern geholfen. Als er am Abend zum Schloss des alten Königs kam, da war er so müde, konnte nicht weiter und setzte sich auf einen Felsen am Meer. Die Augen fielen ihm beinahe zu, so müde war er – aber er dachte immer nur daran, wo er die Freude wohl finden konnte. Nun war es schon beinahe dunkel, und bald wurde wohl die Fackel entzündet, welche den Schiffern den Weg weisen sollte. Da hörte er plötzlich ein Rauschen. Er dachte, das mochte eine Welle sein, die sich zur Abendruhe niederlegte; aber das Rauschen wurde stärker und immer stärker. Da stand er auf und blickte zum Meer hinaus. Da sah er ein seltsames Schiff mit goldenem Schnabel und großen Segeln von dunkelblauer Seide. Es wiegte und wogte auf den Wellen. Das blasse Licht der untergehenden Sonne goss einen goldenen Schimmer über die hohen Masten. Es glitt näher. Ein weicher, süßer Duft von Blumen kam herüber. Dann legte es an und er ging hinüber.

Er fragte: »Was ist dies für ein Schiff?«

Eine Stimme antwortete: »Das Schiff der Träume.«

»Und wohin fährt es?«

»Zum Land der Freude!«

Da setzte er sich auf ein seidenes Ruhebett und machte die Augen zu. Denn er war den ganzen Tag gelaufen, und da durfte er nun gewiss ein Weilchen schlafen. Und das Schiff fuhr hinaus auf das dunkle Meer.

Als er erwachte, fand er sich in einem großen Garten. Da standen Tausende von Blumen, die er noch nie gesehen hatte, rote, blaue, violette, gelbe, weiße – alle durcheinander. Er musste lachen, so lustig sahen sie aus. Die schienen lebendig zu sein, wie er. Sie spielten und tanzten, flüsterten miteinander und nickten sich zu. Ein Duft streichelte seine Wangen, so süß und weich – und doch so stark, dass er sich gar nicht aufrichten konnte. Er sank auf den Rasen zurück und sah zum Himmel hinauf. Tiefblau leuchtete er und war so klar und rein, wie er nie etwas gesehen. Dann flimmerte etwas Goldenes da drüben, und eine wohlige Wärme kam von dort herüber. Das war – aber als er zusehen wollte, was es war, musste er schnell die Augen abwenden vor all dem blendenden Glanz, der vor ihm schimmerte. Ob das wohl die Sonne war? Er drehte sich herum und sah nach der anderen Seite. Aber da war wieder ein Flimmern wie lauter Silber. Das ging auseinander und wieder zusammen, hüpfte und sprang, und darunter lag eine endlose, blaue Fläche, die sich dehnte und ganz dahinten den Himmel berührte. Das war das Meer. Und um ihn herum Blumen – nichts als Blumen, Hecken mit Blumen, Sträucher mit Blumen – und dazwischen ein paar schmale Wege. Auf denen mochte wohl manchmal jemand gehen? Oder waren sie für die bunten Schmetterlinge, die sich auf den Blumen wiegten? Nein! Denn da kam eine junge Frau langsam durch den Garten daher. Schön war sie und trug ein weißes Kleid. Sie wusste wohl, dass er da lag, denn sie kam gerade auf ihn zu und rief seinen Namen. Wie ihre Stimme zu ihm herüberklang, da fingen mit einem Mal alle Vögel an zu singen, alle Blumen läuteten und das Meer rauschte.

Da stand er auf und ging zu ihr. »Ist dies das Land der Freude?«

Sie nickte. »Ich bin die Freude, und dies ist mein Garten. All die Blumen, die du siehst, sind meine Kinder, und ich schicke sie zu den Menschen, damit sie ihnen von mir erzählen.«

Da wurde der junge Königssohn sehr froh. Er sagte ihr, dass es daheim keine Freude mehr gebe, und dass er ausgezogen sei, sie zu suchen.

»Ich weiß es«, erwiderte sie, »du saßest am Meer und sehntest dich nach meinen Blumen, darum sandte ich dir das Schiff der Träume, dass du zu mir kämst.«

»Lässt du alle Menschen in diesen Garten hinein?«

»Keinen! Denn dieser tausend Blumen Duft ist viel zu stark, als dass ihn die Menschen ertrügen. Aber ich schicke ihnen Blumen – heute diese und morgen andere. Mein Schiff trägt sie hinüber nach den großen Ländern und den fernen Inseln.«

»Warum schickst du uns keine Blumen?«

»Früher kamen meine Schiffe auch zu euch und brachten viele Blumen hinüber. Aber ihr wollt sie nicht mehr haben; sie verdorren bei euch und kommen um. Nur der soll Freude haben, der sich danach sehnt.«

»Und ich?«

»Dich habe ich herüberkommen lassen, damit du dir deine Blumen holst. Hier – nimm dir, soviel du willst!«

Er wollte sich schon bücken, um von den Blumen zu pflücken, aber da fiel ihm ein, dass er sich gelobt hatte, auch seinem Volk die Freude zu bringen. »Darf ich auch für die anderen Blumen mitnehmen?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollen keine haben, und ich sagte dir ja, nur der soll Freude haben, der sich danach sehnt!«

Da wurde der junge Königssohn traurig, trotzdem dass Rosen und Veilchen, Hyazinthen und Aurikeln in seinen Händen lagen. Er bat, ob sie es nicht doch erlauben wolle. Aber sie schüttelte den Kopf. Da bot er ihr Gold und Silber; denn damit hatte er daheim immer alles kaufen können. Aber sie schüttelte den Kopf. Da wollte er ihr den Thron geben, den er bekommen würde, wenn sein Vater starb. Aber sie schüttelte den Kopf. Und er fing an zu weinen und schalt sie ungerecht, denn vielleicht seien auf der Insel doch zwei oder drei, die sich nach Freude sehnten. Warum sollte er die Freude haben, wenn die zwei oder drei nichts davon abkriegten. Er bettelte richtig um die Blumen und sagte, alles, was er ihr geben könne, solle sie bekommen, sie möchte ihm nur die Blumen mitgeben. Alle Blumen neigten sich tief vor ihr und baten mit ihm.

Da lächelte sie: »Nun gut! Ich will euch wieder Blumen schicken, aber du musst mir dein Herz dafür geben!«

Da lachte der junge Königssohn; denn nun hatte er erreicht, was er wollte. Er nahm sein Herz heraus und gab es ihr. Sie hüllte es in weiche Rosenblätter und legte es in eine Glaskugel. »Geh in deine Heimat«, sagte sie, »und nimm diese Kugel mit dir! Weil dein Herz darin ist, wirst du von jedem, der sie berührt, wissen, was seines Herzens liebster Wunsch ist. Und wenn du einen gefunden hast, der sich die Freude wünscht, so wirf die Kugel in die Luft. Sie wird als Bote zu mir zurückkehren, und dann werde ich euch wieder Blumen schicken.«

Als sie dies gesagt hatte, rauschte das Schiff an den Strand. Er nahm die Kugel und wollte ihr danken. Aber sie war verschwunden, und nur die tausend Blumen nickten ihm zu und klangen wie lauter Glocken. Da ging er hinüber, und der Wind blies in die blauen Segel und brachte das Schiff in seine Heimat.

Mit Stolz und Freude kam der Königssohn zu seinem Vater und berührte ihn unbemerkt mit der Kugel.

»Bist du wieder zurück?«, fragte der König. »Hast du eingesehen, dass man nur glücklich sein kann, wenn man mächtig ist?«

Da erschrak der Königssohn. Denn er wusste, dass sein Vater nichts anders sich wünschte als Macht. Betrübt ging er hinaus. Im Vorzimmer traf er einen der Räte – gerade den, der immer so viel zu schreiben hatte. Er ging schnell auf ihn zu und sprach ihn an. Der wünschte sich doch gewiss ein wenig Freude, wenn er den ganzen Tag im Zimmer sitzen musste und Akten schreiben. Aber kaum hatte die Kugel den Arm des alten Mannes gestreift, da bat er, ob der Königssohn nicht ein gutes Wort für ihn einlegen wolle, dass sein Vater ihn zum Minister mache.

Da ging er auf die Straße. Den erstbesten, den er traf, hielt er an. Der riss den Hut herunter und verneigte sich tief, denn es war doch eine große Ehre, dass der Königssohn mit ihm sprach. Aber als er nun fragte, wie es ihm gehe und ob er gar keinen Wunsch hätte, da fing der Mann an zu jammern. Es seien schlechte Zeiten! Wenn er nur wenigstens sein Holz teuer verkaufen könne, dann möchte es vielleicht noch gehen, aber …

Da wurde der Königssohn sehr traurig. War denn keiner, der sich die Freude wünschte, wenn es auch nur ein ganz klein bisschen Freude war. Er zog wieder durch das Land, aber er fand keinen. Der eine wünschte sich mehr Geld, der andere ein neues Haus, dieser hoffte auf einen Erben für seine Schätze, jener begehrte den Tod. Aber keiner sehnte sich nach Freude. Da gab er die Hoffnung auf. Auf einem Stein saß er an der Straße und betrachtete die Kugel. So gern hätte er sein Herz nun wiedergehabt, aber es war fest eingeschlossen. Er konnte es nicht herausnehmen, so sehr er sich auch mühte, die Kugel zu öffnen.

Da kam ein kleiner Junge des Weges. Als er die bunte Kugel sah, blieb er vor ihr stehen. Und von dahinten kamen noch mehr Jungen, und von drüben kamen kleine Mädchen. Die Schule war nämlich gerade zu Ende. Weil da einer stand und sich etwas ansah, mussten die anderen doch wissen, was das war, das der sich ansah. Da blieben sie alle vor dem jungen Königssohn stehen. Der erste kleine Junge sah sich die bunte Kugel an – von links und von rechts – und alle anderen Jungen sahen sie sich an, und als die Mädchen auch zugucken wollten, wurden sie weggeschubst, aber etwas kriegten sie doch noch davon ab. Da nahm der kleine Junge die Kugel in die Hand und wollte mit ihr spielen.

»Das soll eine Freude geben!«, schrie er, warf die Kugel in die Luft und ließ sie springen. Und die Kugel tanzte, und all die kleinen Jungen und alle die kleinen Mädchen jauchzten vor Vergnügen.

Da hatte der junge Königssohn nun doch gefunden, was er suchte. Und er lachte. O, ihr könnt euch wohl denken, wie glücklich er lachte! Plötzlich zerrissen die Wolken und die Sonne kam hervor. Die Kugel tanzte auf und nieder und flimmerte im goldenen Licht. Und die Kinder jubelten.

Mit einem Mal war die Kugel weg. Mitten in den blauen Himmel hinein war sie geflogen.

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