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Der Detektiv – Band 26 – Die Gesellschaft der roten Karten – Teil 5

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Gesellschaft der roten Karten

Teil 5

Das gewaltige, künstlich geschaffene Bassin des Hafens von Tandschong Priok hat die Form einer länglichen Kuppel, deren Spitze die Hafeneinfahrt bildet.

Die Antje von Grooningen lag am Westkai vor den Speichern des niederländischen Lloyds. Gegen vier Uhr nachmittags herrschte auf dem Kai noch ein wildes Durcheinander. Kaffee, Tabak- und Gewürzballen wurden noch immer von den farbigen Stauern in den scheinbar abgrundtiefen Riesenleib des Dampfers geschleppt. Alles spielte sich unter dem im Orient nun einmal üblichen Lärm ab. Chinesische Kulis, die sich gegenseitig mit ihren Lasten anrannten, beschimpften sich mit der ganzen unerschöpflichen Fülle echt chinesischer Kraftworte; Neger und Malaien bewiesen auf dieselbe Weise ihr Temperament. Zwischen ihnen arbeiteten still und ernst die schlanken Javanen mit ihren etwas weichlichen Gesichtern. Europäische Seeleute standen in kleinen Gruppen umher und scherzten mit den hübschen Javanesinnen, die vielleicht den schönsten farbigen Menschenschlag darstellen.

Neben einem Stapel Kisten saßen auf einem umgekippten Boot zwei chinesische Kulis mit riesigen Strohhüten, sogen an ihren Tabakpfeifen und schienen lediglich Interesse für den Würfelbecher zu haben, mit dem sie sich die Zeit vertrieben.

Ein zweispänniger Wagen fuhr nun an der Anlegestelle des Dampfers vor. Ihm entstieg van Wreeden, der Großkaufmann, einen kleinen, neuen Lederkoffer von rotbrauner Farbe in der Hand.

»Achtung!«, flüsterte der Größere der beiden chinesischen Würfelspieler da. »Wir müssen die Augen gut aufhalten, Schraut! Ich bin gespannt, wie man diesmal den Streich ausführen wird.«

Wreeden schritt mit seinem Koffer der Laufplanke zu, die zum Mittelschiff hinaufführte. Plötzlich gerieten zwei malaiische Stauer in Streit, packten sich, und der Kräftigere warf dann seinen Gegner mit solcher Wucht zu Boden, dass der braune Bursche Wreeden mit umriss. Der Holländer schlug hintenüber, lag ein paar Sekunden wie betäubt da und raffte dann wieder seinen Koffer auf, fuhr die beiden Malaien grob an und verschwand auf dem Dampfer.

Diese Szene war in dem allgemeinen Wirrwarr unbeachtet geblieben.

Neben den beiden chinesischen Würflern tauchte nun ein langbärtiger Inder auf, sprach sie an und erhielt von dem größeren – und das war ja Harst – die Antwort: »Sie irren, Baron. Die Sache ist schon perfekt. Ich hätte diese Lösung allerdings nie für möglich gehalten. Der dicke, reichgekleidete Chinese dort drüben ist doch wohl der berühmte Lian Tschio. Sein schwarzer Kinn- und Schnurrbart, sein quittengelbes Gesicht und die große Hornbrille auf der so unchinesisch großen Nase mit den aufgeblähten Nüstern erinnern sehr an denselben Chinamann, dem Schraut und ich in dieser Nacht nachschlichen – bis zu Lian Tschios Grundstück am Kanal. Sehen Sie, jetzt nimmt der quittengelbe Millionär seinen Bastkoffer auf und winkt seinem Wagen. Bleiben wir hinter ihm. Sie haben den Gefangenen im Polizeiauto herschaffen lassen. Es hält dort hinten. Benutzen wir es gleichfalls.«

Gleich darauf saßen wir in dem geschlossenen Kraftwagen dem Verwalter der Reispflanzung – der Chinese hieß Budeng Ma – und zwei Beamten gegenüber. Der Baron war vorn bei dem Chauffeur aufgestiegen. Das Auto setzte sich langsam in Bewegung. Ich gebe zu, dass ich bei dieser ganzen Geschichte in vielem durchaus noch nicht klarsah. Was sollte Harsts Bemerkung: »Die Sache ist schon perfekt«? Was sollten so manche andere Äußerungen, die ich immer noch nicht zu deuten wusste und die doch fraglos sehr wohl begründet waren?

Das Auto glitt die Straße am Kanal entlang, bog dann aber links zu dem Europäerviertel ab. Also fuhr Lian Tschio nicht nach Hause! Wollte er vielleicht zu Blönheelm? Es war so. Der Kraftwagen hielt nun in einer Straße des Stadtteiles Weltevreden. Der Polizeirat – der bärtige Inder – erschien am offenen Türfenster. »Er ist bei Blönheelm«, flüsterte er. »Was nun, Herr Harst?«

»Zu Fuß ihm nach, damit wir der Sache ein Ende machen. Beeilen wir uns!«

Wir drei gingen schnell weiter. Das Auto sollte nach einer Viertelstunde folgen und vor dem Haus des Prinzen halten.

Am Garteneingang versperrte uns ein malaiischer Diener den Weg. Es war einer der beiden Leute, die Blönheelm mit auf der Plantage Wolpoores gehabt hatte.

»Wir sind in Geschäften herbestellt«, erklärte der Baron im Küstenkauderwelsch. »In sehr dringenden Geschäften.«

In demselben Augenblick verließ der Wagen Lian Tschios das Grundstück wieder. Der reiche Chinese saß jedoch nicht darin.

Der Malaie führte uns durch den Garten dem Haus zu, wollte uns dann anmelden. Der Baron jedoch hielt dem braunen Burschen nun seinen Ausweis unter die Augen und flüsterte ihm einige Worte zu, die den Malaien sofort völlig einschüchterten.

Zeerten wusste hier ja gut Bescheid. Wir betraten ein Zimmer linker Hand, eine Art Salon, durchschritten dann leise drei weitere Räume. Da erst fanden wir eine verschlossene Verbindungstür nach dem nächsten Zimmer.

»Sein Schlafgemach«, flüsterte der Polizeirat und klopfte dann kräftig an.

Erst auf ein drittes Klopfen von drinnen eine ärgerliche Stimme: »Was gibt es denn?«

Offenbar vermutete Blönheelm einen seiner Diener vor der Tür. Wieder klopfte Zeerten. Da wurde die Tür aufgerissen. Bei unserem Anblick fuhr der Prinz leicht zusammen. Bevor er jedoch noch zu Worte kam, hatte Harst bereits mit leichter Verbeugung gesagt:

»Wir kennen uns ja schon. Ich bin Harald Harst. Sollten Sie ohne meine Erlaubnis auch nur einen einzigen Schritt tun, schieße ich. Ich drohe nie umsonst.« Er hob den rechten Arm. Und in seiner Hand lag der breite Kolben der mattierten Selbstladepistole.

Blönheelm schwieg, senkte etwas den Kopf, warf ihn dann mit einem Ruck wieder hoch und meinte gelassen: »Was wünschen Sie eigentlich, bester Harst?«

»Gehen Sie uns voraus in Ihr Arbeitszimmer. Dort werde ich Ihnen erklären, was mich herführt.«

Der Prinz musste sich auf einen Sessel zwischen den Baron und mich setzen. Wir hatten auf Stühlen Platz genommen. Harst lehnte uns gegenüber am Türpfosten. Die Szene war merkwürdig genug: drei schmierige Farbige als Richter eines sehr elegant gekleideten Europäers – einer Durchlaucht.

»Ich will alles Unwichtige weglassen«, begann Harst. »Ich war früher Assessor bei der Staatsanwaltschaft in Berlin. Damals vor etwa sieben Jahren hatte nun ein Schwindler, der mit dem Prinzen Frederik von Blönheelm sehr große Ähnlichkeit besaß, diese Ähnlichkeit zu allerlei Betrügereien benutzt und wurde von Holland aus steckbrieflich gesucht. Im internationalen Fahndungsblatt las ich von den zum Teil wahrhaft genialen Hochstaplerstückchen dieses Menschen, von dem niemand so recht wusste, wer er war und woher er stammte. An diese große Ähnlichkeit dieser beiden Männer und an die verbrecherischen Talente jenes Gauners erinnerte ich mich, als van Wreeden mir mitteilte, dass der Prinz Blönheelm in seiner Heimat stets nur als überaus gutmütiger, harmloser Verschwender bekannt gewesen sei. Dieses Charakterbild passte nun zu dem Blönheelm, den ich nun als Oberhaupt der roten Karten, worauf das Stern-Siegel hindeutete, hier wiederfand, so wenig, dass ich allmählich die Überzeugung gewann, derselbe Gauner von damals spiele hier den Prinzen, wobei hauptsächlich die Tatsache meinen Verdacht zur Gewissheit machte, das der angebliche Prinz hier seiner Verwandtschaft und wohl auch ebenso früheren Bekannten ängstlich auswich – durch Reisen ins Innere.

Dann weiter zu dem Chinesen Lian Tschio. Dieser hat sich hier erst vor etwa vier Jahren niedergelassen. In der verflossenen Nacht bekam ich im Laufe des Gesprächs mit van Wreeden allmählich heraus, dass er den sehr häufig kranken Lian Tschio noch niemals gleichzeitig mit dem Prinzen irgendwo gesehen hätte. Schon diese Angabe allein genügte mir zu dem Argwohn, der Prinz könnte hier, geschickt verändert, als Lian Tschio auftreten, also eine Doppelrolle geben. Gestern Nacht kehrte der Prinz, nachdem er als Spion sehr gewandt bei Wreeden erschienen war, nach Hause zurück. Sehr bald verließ dann ein Chinese, der ihm in Größe und Wohlbeleibtheit glich, dieses Haus und betrat später das Grundstück Lian Tschios. Gewisse Eigentümlichkeiten des Ganges und der Armbewegungen des Prinzen fanden sich bei diesem Chinesen wieder. Und dieser Chinese war eben Lian Tschio. Oder besser: Es gibt keinen Lian Tschio; es gibt hier nur einen Betrüger, der vielleicht den Prinzen und ebenso den Chinesen ermordet hat, bevor beide hier landeten oder doch ganz kurz nach ihrer Landung, bevor sie noch mit jemandem näher bekannt geworden waren. Derselbe Betrüger hat dann die Gesellschaft der roten Karten ins Leben gerufen. Er dürfte dabei nur ein paar ihm völlig ergebene malaiische Diener und …«

Wir hörten draußen das Polizeiauto vorfahren.

»… und den Chinesen Budeng Ma als Genossen gehabt haben«, fügte Harst nach kurzer Pause hinzu. »Budeng Ma wird hier sofort eintreten. Ich kenne nun die Chinesen zur Genüge. Budeng Ma wird nun, wo er alles verloren sieht, schleunig ein Geständnis ablegen. Dasselbe rate ich Ihnen«, sagte er erhabenen Tones zu dem angeblichen Prinzen. »Geben Sie zu, hier den Chinesen Lian Tschio gespielt zu haben? Dieser müsste sich jetzt in diesem Haus befinden! Sein Wagen ist leer davongefahren. Sie sind Lian Tschio! Ihr höhnisches Lächeln hilft Ihnen wenig! Ich werde die Kleider schon entdecken, die der Chinese getragen hat, ebenso aber auch den rotbraunen Lederkoffer Wreedens, den Sie als Lian Tschio heute auf dem Kai gegen einen gleichen Koffer vertauschten, der in Ihrem Bastkoffer verborgen war. Die Balgerei zwischen den beiden Malaien dicht vor Ihnen war bestellte Arbeit! Ich sah sehr wohl, wie Sie blitzschnell den Koffer Wreedens, der diesem aus der Hand gefallen war, gegen den anderen vertauschten. Ich sah es, weil das Ganze ja nur eine Falle war, weil ich Sie entlarven wollte. Ich wusste, dass Sie als Prinz Blönheelm heute zu Wreeden gehen und sich Gelegenheit verschaffen würden, den Diamantkoffer sich anzusehen, damit Sie den gleichen beschaffen könnten. Deshalb sollte Wreeden ja auch einen neuen Koffer kaufen, von dem das betreffende Geschäft noch mehrere auf Lager hatte. Das war meine Falle und die Quittung für unsere brutale Behandlung in dem Gehöft Budeng-Ma’s!«

Baron van Zeerten war inzwischen ans Fenster gegangen und hatten dem Chauffeur des Polizeiautos etwas zugerufen. Nun trat Budeng-Ma in Begleitung eines Beamten ein.

Harst hatte alles richtig vorausgesehen: Der Chinese gab nun sofort sein Geständnis zu Protokoll. Dass hier nur ein Betrüger den Prinzen Blönheelm spielte, wusste er ganz offenbar nicht. Dafür konnte er aber über das Schicksal des wahren Lian Tschio genaue Angaben machen, deren Einzelheiten hier nicht weiter interessieren. Jedenfalls waren Lian Tschio und Budeng-Ma früher in China Flusspiraten gewesen, hatten flüchten müssen und kamen schließlich nach Batavia, wo durch eine Verkettung besonderer Umstände der falsche Blönheelm erst Lian Tschio ermorden und berauben und dann in Budeng-Ma ein gehorsames Werkzeug gewinnen konnte. Die Gesellschaft der roten Karten hatte nur aus acht Personen insgesamt bestanden. Oberhaupt der Bande war der angebliche Prinz, der bei seinen nahen Beziehungen zu den Kaufleuten und zu der Polizei sowohl die Gelegenheit zu einem Streich bequem ausbaldowern als auch jede Verfolgung der Diebe ebenso leicht unmöglich machen konnte, wobei ihm seine wirklich staunenswerten verbrecherischen Fähigkeiten und hochentwickelte Intelligenz sehr zustatten kamen.

Der Prozess gegen die Mitglieder der roten Karten fand erst ein halbes Jahr später statt. Da erst hatte die holländische Polizei es aufgegeben, den Namen jenes genialen Verbrechers zu ermitteln, der bei all seinen Vernehmungen beharrlich schwieg. Ebenso wenig war es möglich herauszubekommen, wo und wie dieser namenlose Doppelgänger des Prinzen diesen beseitigt hatte. All das blieb für alle Zeit in Dunkel gehüllt.

Die berüchtigte Gesellschaft der roten Karten war nunmehr aufgelöst; ihre Mitglieder konnten im Gefängnis in Batavia über ihre Schandtaten nachdenken.