Der Detektiv – Band 24 – James Palperlons Vermächtnis – Teil 2
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 24
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
James Palperlons Vermächtnis
Teil 2
Zu einer Antwort kam ich nicht.
Irgendwo im Schiff war ein gellender, überlauter Schrei erklungen. Woher er kam, konnten wir nicht sagen.
Wir waren beide hochgeschnellt. Der Schrei war so schrill, so nervenaufpeitschend gewesen, dass wir uns entsetzt anstarrten.
Dann wurde an unsere Kabinentür gehämmert.
Es war Chester Blindley. Sein weißer Leinenanzug war über und über mit Blut bespritzt.
»Ein neues Attentat, Master Harst!«, keuchte er. »Ein Kerl hatte sich in Kapstadt wahrscheinlich an Bord geschlichen. Ich kam gerade hinzu, wie er die Tür der Schlafsalons Seiner Lordschaft zu öffnen versuchte. Er stieß nach mir mit einem Dolch. Aber ich war flinker. Mein malaiischer Kris, den ich stets bei mir trage, fuhr ihm durch die linke Halsschlagader. Sie müssen den Schrei gehört haben, den der braune Bursche ausstieß. Kommen Sie, kommen Sie, vielleicht ist aus dem Menschen noch etwas herauszulocken, bevor er stirbt. Er ist auf meinen Befehl in meine Kabine getragen worden.«
Wir zogen schnell unsere leichten Gummimäntel über unsere schon etwas mangelhafte Bekleidung und liefen hinter Blindley den Mittelgang entlang. Blindley war fünf Schritt voraus. Plötzlich sahen wir ihn stutzen. Er war gerade vor der offenstehenden Tür seiner Kabine angelangt.
Er drehte sich nach uns um, rief: »Der … der Bursche ist verschwunden!«
Wir standen sogleich neben ihm. In der Kabine brannte Licht. Mitten auf dem Teppich lag eine Bastmatte, mit denen der Gang zwischen den Kabinen belegt war. Sie war mit Blut förmlich durchtränkt. In einer Ecke aber hockte ein Matrose mit den Händen vor dem Gesicht und wimmerte kläglich.
Blindley trat ein und rüttelte den Mann.
»Meine Augen … meine Augen!«, heulte der Matrose auf. »Er hat mir etwas in die Augen geworfen …«
Blindley sagte schnell: »Es ist derselbe Matrose, der den Inder zuerst bemerkte und mich heimlich holte. Ich ließ ihn dann den Schwerverwundeten hier in die Kabine tragen.«
Nun erschienen auch der Kapitän der Jacht und Wolpoores Leibarzt Dr. Halfing im Gang.
»Schnupftabak, nichts weiter«, erklärte Halfing. Er nahm den Matrosen mit, um die Augen auszuwaschen. Moostler teilte nur noch kurz mit, dass der Inder ihm plötzlich zugewinkt, dass er sich über den matt Daliegenden gebeugt und dieser ihm dann etwas in die Augen geworfen hätte; wo der Inder geblieben sei, wisse er nicht.
Harst war an das offene, runde Kabinenfenster getreten, dessen dichte, messingumrahmte Scheibe nach innen aufgeklappt war.
»Der Inder hat sich in die See gestürzt«, sagte Harst dann nach wenigen Sekunden. »Hier sind überall Blutspuren am Fensterrahmen. Ich will mal zu Doktor Halfing hinüber«, setzte er hinzu. »Hier ist ja doch nichts mehr zu tun. Der Inder kann nichts mehr ausplaudern.«
Ich folgte Harst. Des Doktors Kabine lag im Seitengang linker Hand. Wir klopften und traten ein. Halfing nickte uns zu.
»Gar nicht schlimm!«, meinte er. »Natürlich hat Moostler böse Schmerzen gehabt. Wäre es ein schärferer Schnupftabak gewesen, so hätten vielleicht Komplikationen entstehen können.«
Moostler hielt die tränenden Augen noch immer fest zugedrückt.
Harst legte nun den Finger auf die Lippen, sah Halfing vielsagend an, bückte sich zu Moostler hinab und schüttete aus einer Falte von dessen weißer Matrosenbluse etwas Schnupftabak in seine flache Hand, richtete sich wieder auf, trat zurück und meinte:
»So, so – also nicht schlimm! Das freut mich.« Dann winkte er Halfing zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Schweigen Sie von dem Schnupftabak in meiner Hand.«
Laut fügte er hinzu: »Gute Besserung, Moostler. Wir wollen dann also Blindley bestellen, dass keinerlei Gefahr für die Augen vorhanden ist.«
Wir verließen die Kabine und kehrten in die Chester Blindleys zurück.
Hier wurde zwischen diesem, dem Kapitän und den inzwischen gleichfalls erschienenen fünf Detektiven der Privat-Polizei des Lords der Vorfall nach allen Seiten hin besprochen. Wolpoore selbst blieb unsichtbar.
Blindley befahl dann, dass das ganze Schiff nochmals durchsucht würde, wie dies schon kurz nach der Abfahrt von Kapstadt geschehen war. Wir sollten uns beteiligen, aber Harst lehnte mit den Worten ab: »Ich möchte mir lieber diesen Anschlag in meiner Kabine nochmals durch den Kopf gehen lassen. Ich hoffe Ihnen damit mehr zu nützen, lieber Blindley.«
Wir zogen uns also in unser Luxusgemach zurück. Harst setzte sich in einen der Ledersessel und legte die in Morgenschuhen steckenden Füße auf einen Schemel, langte nach seiner Zigarettendose und meinte: »Nimm gleichfalls Platz, lieber Alter. Bitte – eine Mirakulum gefällig? Die Sache ist wert, bei einer Zigarette noch darüber zu plaudern.«
Harst rauchte ein paar Züge und schaute den tadellosen Rauchringen nach, die immer größer und verschwommener wurden, je höher sie stiegen.
»Chester Blindley ist eine ganz tüchtige Kraft«, sagte er. Nun sehr leise. »Aber Moostler ist ihm über.«
»Was … was heißt das?«, fragte ich unsicher.
»Meinst du, dass ein Mensch, dem die eine Halsschlagader durchschnitten ist, nach etwa vier Minuten noch imstande ist, sich durch ein enges Kabinenfenster hindurchzuzwängen?«, lautete seine Gegenfrage.
Da begann es bei mir zu dämmern.
»Ah, du argwöhnst, dass Moostler den tödlich Verwundeten aus Wut in die See geworfen hat?«, sagte ich und blickte Harst forschend an.
Er schüttelte den Kopf. »Nur zur Hälfte richtig, mein Alter. Etwas ist auch mir bei der Geschichte noch unklar. Hm – am besten ist, ich gehe mal gleich ins Vorschiff ins Mannschaftslogis. Komm nur mit.«
Auf der India hatte jeder Matrose eine kleine behagliche Kammer für sich. Diese Kammern waren nun sämtlich leer, da die Matrosen sich an der Durchsuchung des Schiffes beteiligten.
An jeder Kammertür hing eine Papptafel mit dem Namen des Inhabers. So fanden wir unschwer die richtige. Harst durchwühlte Moostlers Wandschrank. Ich musste derweil draußen im Gang aufpassen, denn der Matrose konnte ja jeden Augenblick vom Doktor entlassen werden.
Ich sah, wie Harst nun auch unter das niedrige Kojenbett kroch, wie er dort mit seiner Taschenlampe den Boden ableuchtete und mit der Hand etwas zusammenfegte.
Dann schaltete er die Lampe wieder aus, drückte die Tür ins Schloss und meinte: »So, nun haben wir ihn. Mag er heute noch auf seinen Lorbeeren hoffnungsfroh schlafen. Morgen früh soll er sehen, dass es hier doch noch Leute gibt, die ihm über sind.«
Wir kehrten in unsere Kabine zurück. Umsonst bat ich Harst, mir zu erklären, was es denn mit diesem Attentat nun eigentlich auf sich hätte.
»Morgen!«, sagte er und gähnte so laut, dass dies für mich hieß: »Bitte, lass mich jetzt in Ruhe!«
Das Frühstück nahmen wir gemeinsam im Salon ein. Wolpoore erschien als Letzter. Er war bleich und wortkarg. Doktor Halfing, der Kapitän und der Jachtingenieur Moore beglückwünschten den Lord zu der Vereitlung des Anschlags. Wolpoore reichte Chester Blindley die Hand.
»Ich danke Ihnen. Es war Attentat Nummer 18«, meinte er trübe. »Vielleicht verliere ich bei Nummer 19 das Leben.«
Harst verbeugte sich jetzt gleichfalls vor Wolpoore.
»Mylord, ich kann Ihnen leider nicht gratulieren«, sagte er zum Erstaunen aller. »Es war nämlich gar kein Attentat. Oder besser: Es wäre nie eins geworden. Vielleicht lassen Sie Moostler einmal rufen, dessen Augen ja schon wieder völlig gebrauchsfähig sind. Ich werde den Herren dann beweisen, dass Moostler ein Schurke ist.«
Chester Blindley, der Polizeichef, stierte Harst entgeistert an.
»Aber, aber, ich bitte Sie, Master Harst«, meinte er fast empört. »Moostler war es ja, der den Inder über das Deck kriechen sah! Er alarmierte mich dann! Und er soll ein Schurke sein? Daraus werde ein anderer klug!«
Der Lord hatte sich gesetzt.
»Moostler wird geholt«, befahl er kurz. »Master Harst wird nichts ohne Grund behaupten.«
Der Kapitän ging hinaus. Harst hatte ihn noch gebeten, Moostler zu erklären, dass der Lord vor allen Herren seinen Dank aussprechen wolle.
Gleich darauf trat der Matrose ein. Wir saßen nun schon um den Frühstückstisch herum. Nur Harst lehnte am Besanmast, der durch den Salon hindurchlief.
Moostler machte dem Lord eine tiefe Verbeugung.
»Master Harst will mit Ihnen reden«, sagte Wolpoore ernst.
Der Matrose konnte eine Bewegung jähen Schrecks nicht verbergen. Er wusste ja, dass ein berühmter Liebhaberdetektiv an Bord war.
»Sie sind Schnupfer, Moostler«, begann Harst, indem er den Mann fest anblickte. »Sie hätten nicht so unvorsichtig sein sollen, sich Ihren eigenen Tabak in die Augen zu werfen.« Moostler wurde merkwürdig fahl im Gesicht, brummte nur: »Ich verstehe Sie nicht, Master.«
»Sie sind sehr töricht, nicht sofort alles einzugestehen. Die Belohnung lockte Sie. Und daher haben Sie den Plan sich ausgeklügelt. Mylord hatte jedem von Ihnen, der die Augen gut offen hielt und alles Verdächtige schnell meldete, 1000 Pfund versprochen, wie mir Master Blindley anvertraut hat. Um diese 1000 Pfund war es Ihnen zu tun. Wollen Sie jetzt gestehen?«
Moostler fuhr wütend auf. »Master, ich verbitte mir solche Anschuldigungen. Kein Mensch wird den Unsinn begreifen, den Sie schwatzen!«
Harst trat auf Moostler zu. »Sie sind ein gefährlicher Bursche, wie ich sehe. Ich warne Sie! Ich schieße vorzüglich. Und diese Pistole hier ist gespannt und entsichert. Ziehen Sie sofort die rechte Hand wieder leer aus der Hosentasche … sofort … und leer! Lassen Sie Ihr Messer nur stecken. Mit Leuten wie Ihnen mache ich nicht viel Umstände. Die Sache hat sich so zugetragen. Sie haben in Kapstadt irgendwo einen armen, harmlosen Inder aufgegabelt, an Bord geschmuggelt und unter Ihrem Bett versteckt. Ich fand dort noch die Krümel von Brot und ein paar Körner von gekochtem Reis, also Reste der Mahlzeit des Inders. Was Sie dem Inder vorgeredet haben, dass er dann gestern Nacht nach Lord Wolpoores Schlafsalon schlich und am Türschloss sich zu schaffen machte, ist gleichgültig. Dann spielten Sie den Verräter, eilten zu Master Blindley, von dem Sie wussten, dass er den Inder ohne Weiteres niederstoßen würde, falls dieser sich zur Wehr setzte. So geschah es auch. Sie schleppten auf Blindleys Befehl den Sterbenden in dessen Kabine und warfen ihn nun durch das Fenster in die See, weil Sie fürchteten, ich könnte aus dem tödlich Verletzten noch etwas Sie Belastendes herausholen. Sie streuten sich Ihren eigenen Tabak in die Augen und konnten nun weiter den Harmlosen spielen. In Ihrem Wandschrank fand ich eine Büchse Schnupftabak von derselben Sorte, die auf Ihrer Bluse lag. Ein Sterbender kann sich nicht mehr durch ein Kabinenfenster zwängen. Dies sagte ich mir sofort. Und das Weitere kombinierte ich dann ebenfalls ganz richtig. Sie sind ein Mörder, Moostler! Sie haben den Inder der 1000 Pfund wegen in den Tod gehetzt und dann einen noch Lebenden ertränkt. Leugnen ist zwecklos. Ihr Aussehen verrät Sie!«
Moostler hatte nun seine vorige Frechheit völlig eingebüßt. Plötzlich warf er sich auf die Knie und streckte flehend die Arme nach Lord Wolpoore aus.
»Ich gebe alles zu!«, heulte er. »Das Geld hat mich verführt. Gnade. Mylord, Gnade!« Wolpoore beachtete ihn nicht.
»Kapitän, lassen Sie ihn in Eisen legen!«, befahl er. »Eine so ungeheure Schurkerei hätte ich einem meiner Leute nie zugetraut!«
Als Moostler über das Deck geführt wurde, riss er sich los und sprang über Bord. Drei mächtige Haie waren der Jacht schon gestern gefolgt. Eine dieser Meeresbestien zog Moostler in die Tiefe.
Das war die Einleitung zu unseren späteren Abenteuern, die wir im Kampf gegen Lord Wolpoores unerbittliche Feinde zu bestehen hatten. Bisher hatten wir uns meistenteils selbst schützen müssen — erst vor Warbatty-Doogston, dann vor Palperlon. Sehr bald sollten wir nun einen anderen schützen helfen: Lord Wolpoore.
Vorher ereignete sich dann aber all das Merkwürdige, was mit Palperlons Testament zusammenhing.
Kaum war die India in den Hafen von Madras eingelaufen, als wir uns auch schon an Bord eines Küstendampfers begaben, der nach Pondicherry fuhr.