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Nick Carter – Eine sensationelle Gerichtsverhandlung – Kapitel 2

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Eine sensationelle Gerichtsverhandlung
Ein Detektivroman

Eine folgenschwere Unterredung

Auf sein Verlangen wurde der Detektiv sofort nach der dem Verhafteten zugewiesenen Zelle geführt. Er fand in ihr einen jungen Mann von angenehmem Äußeren, in welchem er sofort den jungen Clerk von neulich nachts wiedererkannte. Der Gefangene erschien ihm wohl niedergedrückt, jedoch weniger aus Schuldbewusstsein als aus Bestürzung über die gegen ihn erhobene Anklage.

Als ihm nun Nick Carter erklärte, sich seiner annehmen zu wollen, atmete er wie befreit auf und rief hastig: »So halten Sie mich also für unschuldig?«

»Well, ich nahm mich des Falles nicht an, weil ich von Ihrer Unschuld überzeugt bin«, entgegnete der Detektiv zurückhaltend. »Ich versprach Ihrer Mutter lediglich, Erhebungen anzustellen, und falls diese Ihre Unschuld erkennen lassen, Ihren Fall in die Hand zu nehmen. Nur das Mitgefühl mit Ihrer bedauernswerten Mutter brachten mich zu meinem Entschluss. Ihre Mutter glaubt an Ihre Unschuld – doch sie sieht mit Mutteraugen, und es ist nur natürlich, dass sie von Ihnen nichts Schlechtes denken kann.«

»Aber ich bin wirklich unschuldig, Mr. Carter!«, stammelte Herbert Mason beteuernd.

»Um Ihrer Mutter willen hoffe ich, es beweisen zu können!«, warf der Detektiv ein.

»Aber die Anklage gegen mich ist geradezu widersinnig!«, rief der Gefangene.

»Nun, sie muss einen einleuchtenden Verdachtsgrund haben, sonst wären Sie nicht hier.«

»Allerdings, ich war die letzte Person im Gebäude, ehe das Feuer ausbrach … Das ist der ganze Verdacht!«, rief der junge Mann bitter.

»Sie meinen, dass Sie die letzte Person, soweit man weiß, im Haus waren?«

»Ich sagte es bereits. Darauf beruht auch die ganze Anklage!«

»Wann verließen Sie das Gebäude in jener Unglücksnacht?«

»Das kann ich Ihnen fast auf die Minute sagen«, versetzte der Gefangene. »Als Mr. Alden fortging, schaute ich auf meine Uhr. Damals waren es gerade zehn Minuten nach elf Uhr. Ich blieb noch zurück, um die Bücher wegzuräumen, welche wir zur Arbeit gebraucht hatten, und um den Kassenschrank zu schließen. Dann vermisste ich den Schlüsselbund. Als ich diesen schließlich wiedergefunden, ordnungsgemäß abgeschlossen und mich zur Hochbahnstation am Hannover Square begeben hatte, fehlten gerade noch fünf Minuten an Mitternacht. Da ich ohne Aufenthalt zur Station ging und der Weg bis dorthin knapp vier Minuten in Anspruch nimmt, so verließ ich das Alden’sche Geschäft etwa zehn Minuten vor zwölf Uhr!«

»Und um welche Zeit brach das Feuer aus?«, warf der Detektiv ein.

»Es wurde gegen ein Uhr nachts durch einen am Haus vorübergehenden Policeman entdeckt. Doch nach dem damaligen Umfang zu urteilen, muss es mindestens eine halbe Stunde früher angelegt worden sein.«

»Sie sprachen von einem Anlegen«, schaltete Nick Carter mit durchdringendem Blick ein. »Es ist also Ihre Ansicht, dass Brandstiftung erfolgte? … Vielleicht an mehreren Orten zugleich?«

»Anders ist es gar nicht möglich«, beteuerte Herbert, gelassen den forschenden Blick des Detektivs aushaltend. »Es müsste gerade Selbstentzündung durch schadhaft gewordene Leitungsdrähte vorliegen.«

»Nun, die behördliche Untersuchung hat gleichfalls vorsätzliche Brandstiftung ergeben«, meinte Nick Carter. »Die Anklage lautet gegen Sie, nach Mr. Aldens Fortgang das Feuer zugleich an mehreren Stellen angezündet zu haben. Was sagen Sie dazu?«

»Ich?« Der Gefangene zuckte unwillig mit den Achseln. »Well, ich sage, das Feuer ist vorsätzlich angelegt worden, aber nicht durch meine Hand«, äußerte er schließlich. »Wer der Täter ist, weiß ich nicht. Doch nach meinem Dafürhalten fand die Brandstiftung zwischen zehn Minuten vor Mitternacht und ein Uhr morgens statt.«

»Mag sein«, brummte der Detektiv. »Haben Sie Verdacht auf irgendeinen Ihrer früheren Kollegen oder sonst einen Angestellten im Geschäft? Welche Beweggründe schiebt Ihnen die Anklage unter? Man begeht ein derart schweres Verbrechen doch nicht ohne treibende Ursachen.«

»Ja, darüber zerbreche ich mir selbst den Kopf«, gestand der Gefangene. »Meine Verhaftung geschah unter den seltsamsten Umständen. Der Haftbefehl war auf Veranlassung meines Chefs ausgestellt, enthielt aber keinerlei Angaben von Verdachts- oder sonstigen Tatgründen.« Nach kurzem Nachdenken setzte er hinzu: »Hier im Gefängnis ist mir gesagt worden, dass, wenn Mr. Alden nicht Anklage erhoben hätte, diese sofort von den Versicherungsgesellschaften erfolgt wäre. Ich soll mir für die Ausführung des Verbrechens eine hohe Belohnung versprechen lassen haben. Von wem, will keiner sagen, aber die Verdächtigung zielt sicher auf Mr. Alden hin.«

»Nun also«, meinte der Detektiv, »endlich bekommen wir doch Boden unter den Füßen. Das mangelnde Vorhandensein von Verdachtsgründen ist schon ein halber Unschuldsbeweis für Sie. Dass die Brandstiftung Ihnen direkten Nutzen gebracht haben könnte, vermag nicht bewiesen zu werden; man behilft sich darum mit der unbewiesenen Vermutung, ein gewisser Jemand, der durch den Brand Nutzen ziehen mag, könnte Sie bestochen und gedungen haben. Als solcher kommt nur Mr. Alden infrage.«

»Aber dieser Mann bezichtigt mich ja selbst der Schuld und klagt mich an.«

»Well, das kann ein ganz geschickter Schachzug sein, um von vornherein jeglichen Verdacht von sich abzulenken«, bemerkte Nick lächelnd.

Als Herbert keine Antwort gab, sondern nachdenklich vor sich hinstarrte, sagte der Detektiv in scharfem Ton: »Well, Mr. Mason, soll ich Ihnen helfen, müssen Sie zu mir sprechen wie zu einem Beichtvater und dürfen nichts vor mir geheim halten. Was denken Sie davon, halten Sie Mr. Alden einer solchen Handlungsweise fähig?«

Der junge Gefangene stand augenscheinlich in bangem Zweifel.

»Was soll ich nur antworten, Mr. Carter«, versetzte er schließlich gepresst. »Mein Gefühl sträubt sich gegen die Annahme, Mr. Alden könnte an diesem Verbrechen teilhaben, mein Verstand sagt das Gegenteil. Er ist nicht nur der einzige Mann, welchem die Feuersbrunst nutzt, sie rettet ihn.«

Der Detektiv pfiff durch die Zähne.

»Mit anderen Worten also, Mr. Alden war hoffnungslos bankrott und das Feuer seine einzige Rettung«, bemerkte er nachdenklich. »Große Wechsel waren fällig, für die er keine Deckung hatte.«

»Am 25. Januar sind Tratten in Höhe von 80.000 Dollar fällig, für die kein Cent Deckung vorhanden ist«, warf Herbert Mason finster ein.

»Alle Achtung – ein feiner Plan, muss ich sagen!«, rief Nick mit grimmigem Lächeln. »Am 15. Januar brannte das Haus ab. Unsere Versicherungsgesellschaften regulierten prompt binnen Wochenfrist. Wäre alles glattgegangen, so hätte Mr. Alden heute schon die Versicherungssumme in der Tasche, könnte seinen Verpflichtungen pünktlich nachkommen und hätte wieder Oberwasser.«

»Das habe ich mir alles schon gesagt«, meinte der Gefangene leise. »Und dennoch, ich halte Mr. Alden für einen Mann mit ziemlich weitem Gewissen, doch keiner Schlechtigkeit fähig!«

»Er machte nie eine Anspielung, was so ein Feuerchen eigentlich für ein Segen sein würde?«

Herbert schüttelte mit dem Kopfe. »Niemals«, versetzte er entschieden.

»Well, die Verdachtsgründe gegen ihn sind einleuchtender als die Anklagen gegen Sie. Indessen sind es eben auch nur Vermutungen. Wir müssen Beweise erlangen, um Sie loszueisen.« Kopfschüttelnd erhob sich der Detektiv. »Unser Fall ist nicht verzweifelt, aber tiefernst, Mr. Mason, das dürfen wir uns nicht verhehlen«, bemerkte er Abschied nehmend. »Sie waren zuletzt im Gebäude, so wird wenigstens behauptet; das spricht gegen Sie. Dann aber muss Ihr Ankläger Ihre Verurteilung durchsetzen, einmal schon, um zu seinem Geld zu kommen, zum anderen aber, um den Spieß nicht gegen sich selbst umgedreht zu sehen. Well, ich werde dafür sorgen, dass heute Nachmittag oder morgen ein tüchtiger Rechtsanwalt, Mr. Hermann Masters, Sie besucht. Er wird Ihnen meine Karte aushändigen, zum Zeichen, dass er der von mir für Ihre Verteidigung erwählte Anwalt ist. Ich kann Ihnen nur raten, sich mit diesem offen auszusprechen.«

Als Nick Carter die Tombs wieder verließ, stand bei ihm der Feldzugsplan bereits fest. Zwei Punkte waren es, die ans Licht gebracht werden mussten; zum einen, wie kam der Schlüsselbund vom Alden’schen Pult in das Schloss der äußeren Ladentür, während der junge Mason sich nach einem Policeman umsah? Und zum anderen, wohin entschwand der Mann, der vor dem Laden just im nämlichen Augenblick aufgetaucht war, als Alden in dem Cab fortgefahren war? Die Lösung dieser beiden dunklen Fragen erschien dem scharfsinnigen Detektiv gleichbedeutend mit der Entwirrung des ganzen düsteren Geheimnisses.

Als er sich zu dem Ort begab, an dem er sich mit Chick verabredet hatte, fand er diesen bereits dort vor.

»Well, Chick, trafst du unseren Mann an und ließ er sich aushorchen?«

»Das war doch beinahe selbstverständlich«, meinte Chick. »Er war nur zu begierig, alles auszukramen, was er wusste … das machte ihn mir, offen gestanden, verdächtig!«

Der Detektiv lächelte. Mit keinem Wort hatte er seinen Mitarbeiter davon verständigt, dass gegen den Tabakhändler etwa die Möglichkeit eines Verdachts vorläge, und die Gleichartigkeit des Schlusses, zu welchem Chick in seinem Gedankengang gelangt war, machte ihn nachdenklich.

»Nun, was sagte er alles? Schieße los, Chick.«

»Well, er äußerte sich sehr bitter gegen Mason und nannte ihn einen undankbaren Burschen, der ihm den Untergang bereiten wollte. Er beschuldigte Mason, aus purer Rachsucht an seinem Verbrechen gearbeitet zu haben. Seiner Versicherung nach hat er Mason wie einem Sohn vertraut – und die Folge davon war, dass dieser die Brandstiftung just in dem Moment verübte, wo durch das unglückliche Zusammentreffen verschiedener Zufälligkeiten er, Alden, als die einzige Person, welcher die Feuersbrunst direkten Vorteil zu bringen vermag, erscheinen muss.«

»Wodurch begründet er diese auffällige Rachsucht seines vertrauten Mitarbeiters?«

»Ja, diese Begründung erschien mir fadenscheinig genug«, gestand Chick. »Vor etwa zwei Jahren will er Mason ersucht haben, die Privatbesuche in seinem Haus einzustellen, da er keine näheren Beziehungen zwischen seiner Tochter und dem Clerk wünschte. Kurz darauf soll Mason darauf erpicht gewesen sein, Teilhaber des Hauses Henry Alden & Sohn zu werden – natürlich gleichfalls ohne Erfolg. Mr. Mason hat ihn damals, wie er versichert, derb abfahren lassen.«

»Nun, für ein rachsüchtiges Gemüt sind das Gründe genug, um Vergeltung zu üben«, meinte Nick.

»Alden stellt den Gefangenen als einen solchen rachsüchtigen Charakter hin.«

»Well, Alden hat immerhin Beweggründe für Masons angebliche Tat angeführt«, versetzte der Detektiv lächelnd. »Nur schade, dass sie in meinen Augen völlig unglaubwürdig sind!«

Damit verständigte er Chick über seine Erlebnisse in der Unglücksnacht.

»Ich kann nur sagen«, schloss er, »die Art und Weise, wie Mason sich anschickte, um einen Policeman herbeizurufen, ließ durchaus nicht auf von ihm beabsichtigte Brandstiftung schließen.«

»Übrigens, was den Schlüsselbund anbelangt, so behauptet Alden nicht nur, sie auf seinem Pult liegengelassen zu haben, sondern er will Mason darauf noch besonders aufmerksam gemacht haben«, bekundete der nachdenklich gewordene Chick.

»Mason dagegen erklärte, die Schlüssel seien verschwunden gewesen, als er schließen wollte.«

»Eins widerspricht dem anderen!«, rief Chick unmutig. »So viel ist sicher, wir müssen dieser Schlüsselgeschichte nachspüren, wollen wir dem ganzen Geheimnis auf den Grund kommen!«

Nick lachte. »Du sprichst ein großes Wort gelassen aus, doch du hast recht«, setzte er ernster hinzu. »Können wir hier nicht Licht schaffen, steht es um Mason schlimm!«

Patsys Dazwischenkunft unterbrach die Zwiesprache. Der noch im Jünglingsalter stehende zweite Gehilfe des großen Detektivs übermittelte ihm eine Botschaft von Ida, wonach sich der Meister ungesäumt nach Mrs. Masons Wohnung begeben solle, da sich dort etwas Außergewöhnliches ereignet hätte.

Unverzüglich begaben sich die drei Detektive zum Hause an der 113th Street, in welchem sich die Wohnung der Witwe befand. Dort fanden sie Mrs. Mason in großer Erregung vor, und auch Ida war bestürzt wegen eines Ereignisses, das sich just zur selben Zeit zugetragen hatte, zu der die Witwe dem Detektiv ihren Besuch abgestattet hatte.

Als Ida mit Mrs. Mason in deren Wohnung angekommen war, hatte sie sofort mit der Durchsicht der Brieftaschen und sonstigen Papiere des Verhafteten beginnen wollen. Doch als die Witwe ihr den Schreibtischschlüssel gegeben hatte, hatte sich herausgestellt, dass aus der verschlossenen Schublade, in welcher Herbert seine Korrespondenzen pflegte, der gesamte Inhalt verschwunden war.

Mrs. Mason wusste genau, dass die Briefschaften sich mehrere Stunden nach der Verhaftung ihres Sohnes noch im Schreibtisch befunden hatten, denn in den späten Nachmittagsstunden hatte sie dieselben nach der Adresse eines Mannes durchsucht, an den sie sich um Beistand hatte wenden wollen. Der Schreibtisch war alsdann fest verschlossen und erst wieder in Idas Gegenwart geöffnet worden, um das plötzliche Verschwinden sämtlicher Papiere zu gewahren.

Nick dachte eine kurze Weile nach.

»Well, Chick«, wendete er sich dann an diesen. »Der Raub muss zur selben Zeit stattgefunden haben, in der du Rücksprache mit Mr. Alden nahmst. Damit ist bewiesen, dass Dritte ihre Hand im Spiel haben.«

»Mit anderen Worten«, brummte Chick, »die Sache wird immer verwickelter!«

Eine Stunde später saß Nick Carter mit seinen beiden Gehilfen wieder im Arbeitszimmer seines eigenen Hauses in angelegentlicher Beratung begriffen.

»Es ist schade, dass Ten Itchi wieder in der Rice’schen Mordsache nach Texas musste, wir hätten ihn gut gebrauchen können«, meinte der Detektiv. »Ich gestehe offen, dieser Raub der Herbert Mason’schen Briefschaften macht den Fall fast hoffnungslos kompliziert.«

»Besonders auffällig ist, dass nichts außer den Papieren entwendet wurde«, warf Chick ein. »Dabei lagen im selben Schubfach die dreißig Dollar Wirtschaftsgeld, über welche die Witwe verfügt.«

»Das ist auffällig«, stimmte Nick bei. »Doch was schließt du daraus?«

»Hm, mir will es scheinen, als habe Henry Alden bei diesem Raub die Hände im Spiel.«

»Farbe bekannt, Chick!«, sagte Nick interessiert. »Ich bin auf deine Gründe neugierig!«

»Gott, die Sache ist einfach genug«, begann Chick. »Wir wissen, Alden befand sich vor dem Bankrott. Mason war sein Vertrauensclerk und hatte Auftrag, eine klare Übersicht des Vermögensstandes der Firma auszuarbeiten – und wir wissen auch, dass Mr. Alden entsetzt war, als er es schwarz auf weiß sah, wie schlimm es in Wirklichkeit um ihn stand. Wahrscheinlich wird Herbert Mason auch zu Hause an dieser mühevollen Aufstellung gearbeitet haben; er mag auch die Urschrift in seinem Schreibtisch zu Hause aufbewahrt haben.«

»Aber lieber Chick, du wirst doch nicht behaupten wollen, dass der Kassenschrank im Alden’schen Kontor verbrannt und geschmolzen ist«, warf der Detektiv ein. »In diesem sind die Bücher der Firma, aus denen der Vermögensnachweis leicht zu erbringen ist.«

»Es sind keine Bücher mehr vorhanden«, entgegnete sein Gehilfe, »denn die Kassenschranktür wurde in jener Nacht offen gelassen, und das Feuer hat sämtliche Papiere, Dokumente, Bücher und Ausweise bis auf den letzten Papierfetzen zerstört.«

Überrascht erhob sich der Detektiv halb von seinem Stuhl. »Ich bitte dich, Chick«, versetzte er langsam, »Herbert Mason versicherte mir ausdrücklich, den Kassenschrank wie immer gewissenhaft geschlossen zu haben.«

»Henry Alden dagegen beschuldigt den Gefangenen, die Tür zum Kassenschrank unverschlossen und offen stehen gelassen zu haben«, bemerkte Chick unter einem vielsagenden Achselzucken.

»Es ist so, Nick«, fügte er lächelnd hinzu, »auch die behördliche Untersuchung ergab, dass die Kassenschranktür offen gestanden haben muss.«

Der Detektiv durchschritt aufgeregt das Zimmer. Als er wieder stehen blieb, meinte er unmutig: »Die größte Schwierigkeit für uns liegt in diesen unversöhnlichen Widersprüchen zwischen den Aussagen Aldens und unseres Schutzbefohlenen. Alden behauptet, die Schlüssel auf seinem Pult liegen gelassen zu haben, Mason dagegen beteuert, zugleich mit seinem Chef seien auch die Schlüssel verschwunden. Nun hat mir Mason wiederum feierlich versichert, gewissenhaft den Kassenschrank verschlossen zu haben. Alden dagegen tritt mit der Behauptung auf, das Gegenteil hiervon sei wahr, der Kassenschrank sei offen geblieben und das Feuer habe seinen Inhalt völlig zerstört.«

»Wir dürfen den Umstand nicht außer Acht lassen, dass der Raub geschah, während ich mich mit Mr. Alden besprach«, gab Chick zu bedenken. »Er kann also nicht der Räuber sein.«

»So etwas macht man in der Regel nicht selbst«, bemerkte Nick kopfschüttelnd. »Sicherlich hat Mr. Alden auch das Feuer nicht angezündet – und doch ist er der Einzige, der durch die Feuersbrunst profitieren kann. Mehr noch, die Vernichtung seiner sämtlichen Bücher und Belege, die in dem offengebliebenen Kassenschrank verwahrt wurden, macht es seinen Gegnern unmöglich, ihm seine Zahlungsunfähigkeit nachzuweisen. Bliebe allerdings das Zeugnis seines bisherigen Vertrauensclerks; doch dieser ist kein Zeuge, da er selbst der Tat verdächtig ist. Anders wäre es mit etwa von seiner Hand gefertigten Auszügen oder Abschriften davon. Würden derartige Beweisdokumente etwa im Mason’schen Schreibtisch gefunden werden, so wäre dies für Henry Alden äußerst bedenklich – und siehe da, ein gefälliger Zufall kommt ihm zu Hilfe. Die Bücher im Kassenschrank sind verbrannt, heute wurden auch etwaige Auszüge aus ihnen aus dem Mason’schen Schreibtisch gestohlen – und nun ist kein Mensch vorhanden, der behaupten könnte, Mr. Alden sei zur Zeit des Brandunglücks zahlungsunfähig gewesen und habe durch das Feuer den drohenden Bankrott höchst geschickt abzuwenden verstanden.«

Chick nickte lebhaft. »Ich glaube, dich zu verstehen«, äußerte er bedächtig. »Du meinst, der Mann, welcher den Geldschrank wieder öffnete und das Feuer anlegte, mag auch die Hand beim heutigen Raub der Briefschaften des Angeschuldigten im Spiel haben.«

»Well, sagst du es, brauche ich es nicht erst zu tun«, rief der Detektiv lächelnd. »Doch nun zu einem anderen wichtigen Punkt«, setzte er wieder ernst hinzu. »In der Brandnacht stand ich gegenüber dem Alden’schen Geschäftshaus. Plötzlich kam ein Wagen angefahren, hielt vor dem Haus, der Kutscher sprang vom Bock und trat unter die Ladentür, indem er zugleich Mr. Alden in zweifellos mit diesem vorher vereinbarter Weise anrief. Wirklich kam Alden auch unmittelbar darauf aus dem Laden und stieg in den Wagen. Zwischen mir und Mr. Alden lag zunächst die Breite des Fahrdamms. Entlang dem Alden’schen Hause waren am Rande des Bürgersteiges hohe Tabakballen aufgestapelt, und außerdem verdeckte das Cab die Aussicht. Wie nun der Wagen fortfuhr, sah ich auf dem Bürgersteig einen Mann stehen, und zwar zwischen der Ladentür und dem Platz, an welchem unmittelbar zuvor noch das Cab gehalten hatte. Ich kann beschwören, dass dieser Mann sich noch nicht in der Waterstreet befand, bevor der Wagen vorfuhr.«

»Nun, dann muss er im Wagen gesessen und diesen just in dem Moment verlassen haben, als Mr. Alden einstieg!«, rief Chick lebhaft dazwischen.

»Im Augenblick darauf war der Mann verschwunden«, fuhr Nick fort. »Hätte ich wissen können, was danach geschah, würde ich ihn schärfer beobachtet haben. Doch Ihr wisst, mich hatte eine ganz andere Sache dorthin geführt, und ich blickte dem Wagen nach, um mich zu überzeugen, dass unter dessen Schutz der ursprünglich von mir Beschattete nicht entwischte. Wie ich kaum eine Sekunde später wieder nach dem Mann auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig sehen will, ist dieser verschwunden – wie vom Erdboden verschlungen. Wohin er ging, das kann ich mit einem Eid nicht bekräftigen; doch ich vermute, er schlüpfte in den Alden’schen Laden.«

»Aha!«, machte Chick. »Ich wette, Alden wusste genau, dass der geheimnisvolle Mann im Cab angefahren kam, und er händigte dem nachherigen Brandstifter die Schlüssel aus, eh?«

»Das wollte ich gerade sagen«, pflichtete der Detektiv bei. »Gehen wir weiter, nehmen wir an, der Mann verbarg sich hinter dem Ladentisch oder einem der Pulte, um dort zu warten, bis der Clerk sich von der Ladentürschwelle entfernt hatte, in der Absicht, einen Policeman herbeizurufen, steckte dann rasch den Schlüssel in das Schloss der Ladentür und huschte in das Kontor, um sich dort wiederum zu verstecken.«

»Aber hättest du ihn dann nicht sehen müssen?«, wendete Chick ein.

»Gewiss, wenn ich nicht andere Dinge im Kopf gehabt hätte. Mir fiel das seltsame Gebaren des Clerks auf, und meine Blicke folgten diesem. Alles Weitere ist einfach. Der im Kontor versteckte Mann ließ sich einschließen. Er wartete, bis Mason den Laden von außen geschlossen hatte. Dann öffnete er den vom Clerk geschlossenen Kassenschrank wieder, und nachdem er erst dafür gesorgt hatte, sich durch den Keller oder auf sonst einem Wege sicheren Rückzug zu decken, legte er an verschiedenen Orten Feuer und brachte sich dann in Sicherheit.«

»Eine ausgezeichnete Theorie, um Herbert Mason’s Unschuld zu beweisen!«, rief der gern vorlaute Patsy. »Doch wie steht es um die Beweise, Meister?«

»Nur langsam, du Nestküken, das werden wir unter deiner geschätzten Beihilfe schon zuwege bringen!«, rief Chick ihm scherzend zu. Dann, sich an den Meister wendend, meinte er: »Well, Nick, es ist so, wie du sagst … der bewusste ›dritte Mann‹ hat die Hand im Spiel … Derselbe, welcher heute in Mrs. Masons Wohnung eindrang und die Briefschaften stahl. Finden wir diesen dritten Mann, so ist Herbert Masons Unschuld bewiesen – doch dann sitzt Mr. Alden bis über die Ohren in der Tinte!«

»Das dürfte allerdings stimmen«, pflichtete der Detektiv bei. Dann, mehr zu sich selbst als zu den anderen sprechend, bemerkte er: »Masons Schuld könnte nur infrage kommen, wäre er der rachsüchtige Halunke, als welchen Mr. Alden ihn hinstellt. Doch darf ich mich auf meine Menschenkenntnis verlassen, dann ist der junge Mensch ein gutmütiger, ehrlicher Kerl – nichts weiter.« Er wendete sich an Chick. »Zunächst werden wir ausfindig zu machen haben, was an der Alden’schen Behauptung ist, wonach er Mason sein Haus verboten und ihm eröffnet hat, dass die von diesem seiner Tochter erwiesenen Aufmerksamkeiten ihm missfielen.« Er lachte kurz auf. »Wie ihr seht, müssen wir diesmal die Sache am anderen Ende anpacken!«

»Wieso, Meister?«, erkundigte sich der erstaunte Patsy.

»Well, sonst bemühen wir uns, Beweise gegen die Schuldigen zu sammeln, diesmal gilt es, einen unschuldig Verdächtigten loszueisen.«

»Nick, die Katze lässt das Mausen nicht«, warf Chick ebenfalls lachend hin. »Den armen Kerl von einem Clerk mögen wir ja freilotsen, mich soll es aber heftig wundern, seifen wir bei dieser Gelegenheit nicht einige andere höllisch ein.«

»Well, wir wollen es nicht hoffen, aber Gott gebe es!«, scherzte Nick. Im gleichen Ton wendete er sich an den missvergnügt dastehenden Patsy. »Na, Jüngling mit lockigem Haar, du schneidest ja ein Gesicht wie acht Tage Regenwetter?«, sagte er jovial.

»Na, ja, so eine langweilige Sache … Da gibt es keinen Revolverschuss und nicht das Schwarze unterm Fingernagel an Gefahr – so was soll einen nicht verdrießen!«, murrte Patsy. »Da ist Ida besser am Platz, Meister. Ich bin für so etwas zu ungeschickt.«

»Weise gesprochen, Kleiner«, entgegnete der Detektiv lachend. »Sage ihr, dass ich sie sprechen muss. Ich will dann Mason wieder aufsuchen und hören, was er zu sagen hat … Doch immerhin kannst du auch einen wichtigen Auftrag erledigen, Patsy.«

»Aber allemal!«, rief Patsy lebhaft. »Ich dachte schon, ich sollte auf der faulen Bärenhaut liegen, und das hasse ich!«

»Bewahre. Sieh dich nach Leihställen in der Nachbarschaft um und versuche in Erfahrung zu bringen, welchen von ihnen Mr. Alden mit seiner Kundschaft beehrt.«

»Ist das alles?«, fragte Patsy enttäuscht. »Doch nein«, setzte er unter dem herzlichen Auflachen der beiden anderen pfiffig hinzu. »Ich soll natürlich ausbaldowern, welcher Kutscher Mr. Alden in der Brandnacht nach Hause gefahren hat … und welchen Fahrgast der Cabby nach dem Geschäft in der Waterstreet in seinem Gefährt gehabt hat.«

»Well, bist du imstande, dies zu ermitteln, Patsy, dann bist du in meinen Augen ein großer Mann!«, meinte der Detektiv schmunzelnd. »Ich habe Gründe für die Annahme, dass der Wagen aus einem Leihstall stammte und keineswegs eine gewöhnliche Straßendroschke war.«

In dem Tombs erfuhr Nick Carter, dass der Gefangene gerade in Beratung mit seinem Anwalt, Mr. Hermann Masters, begriffen war. Sofort ließ sich der Detektiv zu der Zelle führen und begrüßte dort den Advokaten und Herbert Mason mit freundschaftlichem Händedruck.

»Verzeihen Sie, Mr. Masters, unterbreche ich Ihre Unterredung. Doch meine Zeit ist gemessen, und ich habe an Ihren Klienten nur einige wichtige Fragen zu stellen.« Ohne auf eine Entgegnung zu warten, wendete er sich an Herbert mit der Frage: »Hören Sie mal, Mr. Alden behauptet, er habe sich vor zwei Jahren veranlasst gesehen, Ihnen sein Haus zu verbieten und Ihnen jede weitere Annäherung an seine Tochter zu untersagen. Ferner gibt er an, er habe Ihr Ansinnen, sein Geschäftsteilhaber zu werden, rundweg abschlagen müssen.«

»Das behauptet Mr. Alden?«, stammelte der Gefangene in großer Überraschung.

Dann, als der Detektiv nur bestätigend nickte, rief er entrüstet aus: »Aber das heißt doch, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen! Miss Alden und ich hatten keinerlei Beziehung außer den gemeinschaftlichen musikalischen Abenden.«

»Das klingt ganz anders, Mr. Mason. Wie steht es nun aber um die Teilhaberschaft?«

»Eine solche wurde direkt von Mr. Alden angeregt. Vor drei Jahren drückte er mir seine große Zufriedenheit aus und meinte, ginge es so noch ein Jahr weiter, so gedächte er, mir einen Anteil am Geschäft zu geben, um mich an dasselbe zu fesseln. Als nun dieses Jahr um war und Mr. Alden nichts mehr von seiner Absicht erwähnte, fragte ich ihn. Er erklärte mir barsch, dass er seine Absichten vorläufig geändert habe und selbst auf diese zurückkommen werde, wenn er dies für angemessen erachte. Das ist alles. Auch kann ich nicht begreifen, wie Mr. Alden dazu kam, davon zu sprechen!«

»Er führt die beiden Tatsachen als Beweise dafür an, dass Sie der Brandstifter sind.«

Der Gefangene schlug erstaunt die Hände zusammen. »Das geht über meine Begriffe!«, gestand er.

»Well, er schilderte Sie als einen rachsüchtigen Charakter und behauptet, Sie hätten ihm die zweimalige Abweisung bitter nachgetragen und auf eine Gelegenheit gewartet, um ihm den angetanen Schimpf mit Wucherzinsen heimzuzahlen«, erläuterte der Detektiv achselzuckend.

»Ich bin ein rachsüchtiger Mensch?«, fragte der junge Mann mit solch verdutzter Miene, dass die anderen beiden auflachen mussten.

»Well, Mr. Masters, Sie halten den jungen Mann auch für keinen blutdürstigen Wüterich?«, fragte der Detektiv sarkastisch.

»Bewahre«, entgegnete der Lawyer (Anwalt) lachend.

»Ganz meine Meinung, Mr. Masters«, pflichtete Nick bei. »Doch nun will ich nicht länger stören. Ich treffe Sie wohl nachher in Ihrem Büro.«

Als der Detektiv unten an dem Amtszimmer des Gefängnisdirektors vorüberkam, sah er in diesem durch die Glastür einen Anwalt, dessen Ruf ein ziemlich anrüchiger war und der als »Linksanwalt« gefährlichster Sorte galt. Ein Mann, der seine unleugbar große Begabung in den Dienst der schlechtesten Sache stellte, wurde er nur gut dafür bezahlt.

Achtlos wäre Nick Carter vorübergeschritten, hätte er den Anwalt, der in lebhafter Auseinandersetzung mit einem der Clerks begriffen war, nicht gerade den Namen Herbert Masons erwähnen hören. Unwillkürlich blieb er, ungesehen von den beiden, stehen und hörte nun den Clerk sagen: »Ich fürchte, Sie sind zu spät gekommen, Mr. Martin, denn es ist schon ein Rechtsanwalt bei ihm oben.«

»Das sehe ich nicht ein«, ereiferte sich George Martin. »Mr. Benton, der berühmte Anwalt, wurde gestern von des Verhafteten Mutter um Rechtsbeistand angegangen. Da er zu beschäftigt ist, um sich der Sache widmen zu können, beauftragte er mich, wie er es auch Mrs. Mason versprochen hatte. Ich bin also in direkter Erfüllung seines Versprechens hier erschienen.«

Nick Carter war inzwischen von dem Clerk bemerkt worden, doch er hatte ihm ein rasch ein Zeichen gemacht, seine Anwesenheit nicht zu verraten. Martin, welcher davon nichts bemerkt hatte und dem Büroeingang den Rücken zukehrte, wollte den Namen des bereits bei dem Gefangenen befindlichen Anwalts wissen. Da Nick zustimmend den Kopf neigte, nannte der Clerk den Namen.

»Hermann Masters?«, rief der Anwalt mit hoher Fistelstimme. »Großartig, der Mann ist hochbezahlter Berater einer der größten Feuerversicherungsgesellschaften. Wie kommt er dazu, sich als Verteidiger in einer Brandstiftungssache aufzuwerten?«

Doch Nick hörte die Antwort des Clerks nicht mehr, denn er war hastig über die Treppen zu dem Stockwerk zurückgeeilt, auf welchem sich Masons Zelle befand. Rasch wendete er sich an Masters und flüsterte diesem zu: »Unten in des Direktors Büro befindet sich unser berühmter Linksanwalt George Martin und behauptet, als Verteidiger unseres Freundes hier bestellt zu sein … Tun Sie mir den Gefallen und ziehen Sie sich zurück. Mir liegt viel daran, ihn mit Mason sprechen zu lassen … Wer weiß, was uns der Wind alsdann zuweht.«

Der Anwalt, der sofort begriff, wohin Nick Carter zielte, nickte und wendete sich an den verwundert dreinblickenden Gefangenen. »Kommt dieser Mr. Martin zu Ihnen, so lassen Sie ihn das Sprechen besorgen, verstanden? Lassen Sie ihn nicht wissen, dass Mr. Carter oder ich mit Ihrem Fall irgendetwas zu schaffen haben. Lassen Sie sich auf nichts ein, sondern bitten Sie ihn, Sie morgen nochmals zu besuchen.«

Damit entfernte sich der Anwalt, während sich Nick in einer nahebei befindlichen unbesetzten Zelle versteckte. Bald darauf machte George Martin seine Aufwartung; er hatte vom Clerk die Erlaubnis zum Besuch des Gefangenen erhalten, sobald der Erstere den Fortgang Masters wahrgenommen hatte.

Martin führte sich bei dem Gefangenen mit der Bemerkung ein, er komme in Mr. Bentons Auftrag und würde gern hören, welche Verteidigung Mason auf die Anklage wider ihn zu machen habe.

»Wie Sie sehen, junger Mann, bin ich bereit, mich Ihrer anzunehmen«, schloss er.

»Aber ich weiß ja gar nichts von Ihnen«, entgegnete Herbert ausweichend. »Begegneten Sie nicht Mr. Masters? Er kam gerade von einer Rücksprache mit mir.«

»Soll das heißen, dass Sie ihn mit Ihrer Verteidigung beauftragt haben?«, fragte Martin kurz.

»Nicht doch, so weit sind die Verhandlungen noch nicht gediehen.«

»Ich bin hier auf die Bitten Ihrer Mutter hin erschienen«, versetzte der Besucher eindringlich. »Sie hat sich an Mr. Benton gewandt. Doch der vielbeschäftigte berühmte Jurist hat nicht die Zeit, sich eines derart untergeordneten Falles anzunehmen. Aber er versprach Ihrer Mutter, einen fähigen Vertreter zu entsenden. Der bin ich, und ich halte mich deshalb sozusagen schon als mit Ihrer Verteidigung beauftragt.«

»Ja, was soll ich da nur sagen. Ich weiß von gar nichts!«, wich Herbert wieder aus.

»Nun, junger Mann, ich darf mich wohl als einen Anwalt von vielseitiger Erfahrung bezeichnen«, meinte Martin, sich in die Brust werfend. »Ich weiß, Sie sind in schlimmer Lage, denn die Versicherungsgesellschaften sind entschlossen, aus Ihrem Fall ein abschreckendes Beispiel zu machen. Was das für Sie heißt, können Sie sich denken.«

Der von Natur aus schüchtern veranlagte Gefangene wusste kaum, wie er sich des Zudringlichen erwehren sollte. »Entschuldigen Sie mich, doch heute kann ich noch nichts sagen«, brachte er hervor. »Ich muss erst gewisse Papiere aus meiner Wohnung zur Hand haben.«

»Papiere?«, rief der Anwalt hastig. »Ja, wenn das der einzige Grund ist … Die sind doch aus Ihrer Wohnung geraubt worden – das heißt – hm!«, hüstelte er, wie in der unangenehmen Erkenntnis, sich vergaloppiert zu haben. »Ich nehme an, Ihre Mutter war schon hier und sagte Ihnen …«

»Sie war nicht hier!«, stammelte Herbert in großer Überraschung. Er konnte nicht begreifen, dass ihm Nick Carter von einem solchen Vorfall nichts gesagt hatte, und hatte Mühe, seine Aufregung zu bemeistern. »Sie müssen sich irren«, setzte er hinzu. »Was meinen Sie damit?«

Mr. George Martin hatte wieder unter einem heftigen Husten zu leiden. »Ich irre mich wohl … ganz richtig, ich verwechsle Ihren Fall mit einem anderen … Oder nein, heute Nachmittag hörte ich in Mr. Bentons Office davon sprechen, dass man Papiere aus Ihrem Schreibtisch gestohlen habe …«

Herbert hatte sich gefasst; er erinnerte sich des Rates seiner wohlmeinenden Freunde, auf der Hut vor seinem Besucher zu sein. »Mr. Martin, ich kann heute nichts sagen«, versetzte er. »Wollen Sie mich morgen noch einmal besuchen, soll es mir angenehm sein.«

»Aber Sie wollen doch hier nicht ewig sitzen!«, ereiferte sich der Advokat. »Nennen Sie mir die Namen von Bekannten, die für Sie Bürgschaft stellen können.«

»Ich habe keinen Menschen auf der Welt, der dies tun würde.«

»Gut, dann beauftragen Sie mich, ich werde schon jemanden finden!«, rief der Anwalt eifrig, rasch bereit gehaltene Papiere zum Unterzeichnen aus der Tasche ziehend.

Doch Herbert war ihm gewachsen. »Das hieße, Sie doch als Verteidiger zu bestellen«, sagte er.

»Sozusagen, ja«, brummte der andere mit hochrotem Kopf. »Doch da ich mich schon als Ihren Verteidiger auf den ausdrücklichen Wunsch Ihrer Mutter hin betrachte, so …«

»Nein, nein, Mr. Martin«, beharrte Herbert. »Das alles wollen wir unserer morgigen Aussprache vorbehalten. Inzwischen spreche ich mit meiner Mutter und sehe dann meinen Weg klar.«

Mit süßsaurem Grinsen musste der geriebene Anwalt unverrichteter Dinge abziehen.

Sobald er gegangen war, tauchte Nick Carter wieder auf und ließ sich alles berichten. »Unbegreiflich, woher weiß Martin von dem Raub der Briefschaften?«, rief er dann.

»Bin ich wirklich bestohlen worden?«, fragte der Gefangene erstaunt.

»Ich wollte es Ihnen eigentlich noch verschweigen, aber es ist leider Tatsache«, äußerte Nick. »Während Ihre Mutter heute Morgen bei mir war, ist in Ihre Wohnung eingebrochen worden, und es wurden aus dem Schreibtisch alle Briefschaften entwendet.«

»Mein Gott, das ist schlimm für mich!«, stöhnte der Gefangene auf. »Dann existiert kein Schriftstück, durch welches die missliche Vermögenslage Mr. Aldens bewiesen werden kann. In meinem Schreibtisch befand sich der Originalentwurf der letzten Bilanz … und Mr. Alden wusste es … Ich hatte die Urschrift rein aus Vergesslichkeit zu Hause gelassen und entschuldigte mich in jener Nacht bei Mr. Alden, der über meine Nachlässigkeit sehr ärgerlich war.«

»Well, ich kann mir denken, warum er so ärgerlich war!«, warf der Detektiv sarkastisch ein. »Doch so wichtig dies auch ist, es will nichts besagen gegen den Umstand, dass George Martin um die Entwendung der Briefschaften aus Ihrem Schreibtisch weiß. Das ist die schlimmste Blöße, die sich dieser überschlaue Fuchs jemals gegeben hat. Woher soll er um den Raub wissen können? Weder ich noch meine Leute sprachen zu irgendeinem Dritten davon, und Ihre Mutter am wenigsten. Sie kam auch nicht mehr aus der Wohnung … Kommt noch dazu die offensichtliche Ängstlichkeit, mit welcher jener Mann Ihre Verteidigung zu ergattern sucht … alles Anzeichen, die zu denken geben und zu weiteren Nachforschungen einladen. Lässt Martin sich morgen anmelden, so weigern Sie sich, ihn zu empfangen und lassen Sie ihm sagen, Sie hätten Mr. Masters endgültig zum Verteidiger bestellt – und nun Adieu!«

Ungesäumt begab sich der Detektiv nun zu dem in der Nassaustreet befindlichen Büro des Anwaltes Masters. Als er auf dem Weg dorthin an der Ecke Chambersstreet vorüberkam, erregte eine kleine Gruppe seine allzeit rege Aufmerksamkeit. Hastig trat er in einem Hausflur, von welchem aus er beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Nicks Blick war nämlich auf Mr. Martin gefallen, der eifrig auf einen Herrn einsprach; dieser aber war kein anderer als Mr. Alden. Außerdem stand neben dem Anwalt ein Mann in mittleren Jahren, welcher gemeine, geradezu abstoßende Gesichtszüge hatte. Sowohl der Letztere als auch Mr. Alden waren anscheinend sehr bestürzt über das ihnen von dem Anwalt in aufgeregter Weise Mitgeteilte.

Man trennte sich ohne Händedruck, und Martin ging mit seinem Begleiter um die Ecke von Chambersstreet, um sich zu seinem großen Missvergnügen in der nächsten Sekunde Nick Carter gegenüber zu sehen.

Doch welcher Art auch die wirklichen Empfindungen des Advokaten sein mochten, jedenfalls verbarg er sie unter einem liebenswürdigen Lächeln.

»Hallo, Mr. Carter, wir sahen uns ja eine Ewigkeit nicht mehr!«

»Gewiss, es ist lange her«, bemerkte Nick trocken. »Sie besserten sich seither, was?«

»Kleiner Schäker!«, schmunzelte Mr. Martin. »Sie müssen doch immer ein Witzchen anbringen. Doch wie geht es sonst, vielbeschäftigt, he?«

»Es passiert; ich bin wieder einmal dabei, einen lächelnden Schurken in einen heulenden zu verwandeln«, brummte der Detektiv, indem er sich ohne Weiteres verabschiedete. Doch kaum war er um die Ecke gebogen, als er auch schon, natürlich von den beiden unbemerkt, wieder in einen Hauseingang zurücktrat. »Wer ist der Mann, den Martin bei sich hat?«, flüsterte er vor sich hin. »Ich kenne dieses Spitzbubengesicht doch … und dennoch kann ich mich nicht darauf besinnen. Einerlei, ich muss es unter allen Umständen erfahren … Mr. Masters kann heute einmal warten.«

Damit setzte er sich auch schon auf die Fährte der beiden – in solch geschickter Weise, wie es eben nur ihm, dem unerreichten Detektiv, möglich war.