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Die Plauderstube – Des Seeräubers Schatz – Kapitel 3

Des Seeräubers Schatz
Eine Preisnovelle von Edgar Allan Poe
Sonntag, den 30. Oktober 1859

3.

Am Rand der Insel angelangt, setzten wir mithilfe eines kleinen Nachens über den Bach. Das steile Ufer des Festlandes ersteigend, gingen wir in nordwestlicher Richtung über einen außerordentlich wilden und öden Strich Landes, wo sich keine Spur eines menschlichen Fußstapfens erkennen ließ. Legrand zeigte uns mit bewusster Sicherheit den Weg. Nur selten zögerte er hier und dort einen Augenblick, um nach gewissen Hinweiszeichen seiner eigenen Erfindung zu sehen, welche er augenscheinlich bei einer früheren Gelegenheit dort angebracht hatte.

In dieser Art pilgerten wir etwa zwei Stunden lang fort. Die Sonne war eben am Untergehen, als wir eine Gegend erreichten, die an trister Unfruchtbarkeit und Verlassenheit alles zuvor Gesehene bei weitem übertraf.

Es war eine Art Hochebene, nahe dem Gipfel eines fast unzugänglichen, vom Fuß bis zur Spitze bewaldeten Hügels. Hier und dort starrten riesige Felsblöcke hervor, welche lose umherzuliegen schienen und an mancher Stelle nur durch den Schutz der Bäume, gegen die sie gelehnt waren, am Herabstürzen in die Täler zu ihren Füßen verhindert wurden. Diese Schluchten auf verschiedenen Seiten des Hügels verliehen der Szene einen noch finsterem Anblick.

Die natürliche Plattform, welche wir erklommen hatten, war dicht mit Brombeergesträuch überwachsen, durch welches, wie wir bald erkannten, wir unmöglich ohne diese Sense uns hätten Bahn brechen können.

Jupiter begann, auf Befehl seines Herrn, uns einen Weg bis an den Fuß eines ungewöhnlich hohen Tulpenbaumes zu bahnen, der nebst acht oder zehn Eichen in der Ebene stand, und sie und alle Bäume, die ich jemals erblickt hatte, an Schönheit der Form und Blättertracht, an weit ausgestrecktem Gezweig und an majestätischem Aussehen bei Weitem übertraf. Als wir diesen Baum erreichten, wandte sich Legrand zu Jupiter und fragte ihn, ob er sich traue, denselben zu erklettern. Der Alte schien bei dieser Frage ein bisschen zu schwanken und gab eine Weile keine Antwort. Zuletzt näherte er sich dem Baum, ging langsam um den riesigen Stamm und prüfte ihn mit schweigender Aufmerksamkeit. Als er mit seiner Besichtigung zu Ende war, sagte er trocken: »Ja, Massa, Jup klettert auf jeden Baum, das er geseh’n hat.«

»Dann hinauf mit dir, so schnell wie möglich! Denn es wird bald zu dunkel, um das zu sehen, was Not tut.«

»Wie hoch muss ich gehen, Massa?«, fragte Jupiter.

»Klettere nur erst mal den Stamm hinauf, und dann werde ich dir sagen, wohin du weiter gehen sollst. Und hier, halt, nimm dieses Tierchen mit.«

»Den Käfer, Massa Will! Den Goldkäfer!«, schrie der Afrikaner und sprang mit Entsetzen zurück, »zu was soll der Käfer da auf’m Baum? Verdammt, wenn ich es tue!«

»Wenn du dich fürchtest, Jup, so ein großer starker Mensch wie du, ein harmloses, kleines, totes Insekt anzufassen, so kannst du ihn an dieser Schnur halten; aber wenn du ihn nicht in irgendeiner Weise mit hinaufnimmst, dann sehe ich mich in die Notwendigkeit versetzt, dir den Schädel mit dieser Schaufel einzuschlagen.«

»Was is los, Massa?«, versetzte Jup, augenscheinlich nur, weil er sich schämte, willfährig gemacht zu werden. »Müsst Ihr denn gleich mit ’m alten schwarzen Mann Skandal kriegen? Macht bloß ’nen Spaß. Ich – den Käfer fürchten! Was geht mich der Käfer an?«

Hiermit nahm er vorsichtig das äußere Ende der Schnur und rüstete sich, indem er das Insekt so weit, wie die Umstände es erlaubten, sich vom Leib hielt, den Baum zu erklimmen.

In seiner Jugend hat der Tulpenbaum oder Liliodendron tuliferum – der herrlichste unter den amerikanischen Waldbäumen – einen ungewöhnlich glatten Stamm und schießt oft ohne Seitenäste zu einer beträchtlichen Höhe empor. Im reiferen Alter dagegen wird die Rinde knorrig und uneben, während zahlreiche kurze Glieder am Stamm hervordringen. Daher lag die Schwierigkeit des Hinaufkletterns im gegenwärtigen Fall mehr im Anschein als in der Wirklichkeit. Den riesigen Zylinder so dicht wie möglich mit Armen und Knieen umklammernd und mit den Händen einige Vorsprünge erfassend, während er die nackten Zehen auf anderen ruhen ließ, zwängte sich Jupiter, nachdem er ein- oder zweimal fast hinuntergefallen wäre, in die erste große Baumgabel und schien die ganze Arbeit als wesentlich vollendet zu betrachten.

Die Gefahr der Heldentat war auch allerdings überstanden, obwohl der Kletterer sich wohl 60 bis 70 Fuß über der Erde befand.

»Was für ’nen Weg muss ich jetzt gehen, Massa Will?«, rief er hinab.

»Erklimme den größten Zweig, den auf dieser Seite«, bedeutete ihn Legrand.

Der Afrikaner gehorchte prompt, und wie es schien, mit geringer Mühe. Höher und höher stieg er hinauf, bis seine stämmige Figur zwischen dem dichten Laub unseren Blicken gänzlich entschwand.

Gegenwärtig erscholl seine Stimme wie eine Art fernes Hallo.

»Wie viel weiter muss ich gehen?«

»Wie hoch bist du?«, forschte Legrand.

»Noch nie so hoch«, rief der Afrikaner, »kann den Himmel von ’ner Baumspitze sehen.«

»Der Himmel geht dich nichts an, aber pass auf, was ich dir sage. Sieh den Stamm hinab und zähle die Äste unter dir auf dieser Seite, Wie viel Äste hast du passiert?«

»Eins … zwei … drei … vier … fünf, … ich hab’ fünf dicke Äste passiert, Massa auf der Seite.«

»Dann geh noch einen Ast höher.«

In wenigen Minuten erscholl abermals die Stimme und kündigte an, dass der sechste Ast erreicht sei.

»Jetzt, Jupiter«, schrie Legrand, augenscheinlich sehr aufgeregt, »wünsche ich, dass du diesen Ast erkletterst, soweit es möglich ist. Wenn du etwas Ungewöhnliches siehst, lass es mich wissen.«

Hatte ich bisher noch einen leisen Zweifel genährt, ob mein armer Freund wirklich wahnsinnig geworden sei, so schwand dieser nun dahin. Es blieb mir keine andere Möglichkeit, als ihn für mondsüchtig zu halten, und ich war ernstlich besorgt, wie ich ihn nach Hause schaffen sollte. Während ich mich besann, was am besten sei, vernahmen wir abermals die Stimme Jupiters.

»Sagtest du, es sei ein toter Ast, Jupiter?«, rief Legrand mit zitternder Stimme. «Jawohl, Massa, tot wie ’n Türnagel, kaputt ganz bestimmt, kaputt über und über.«

»Was in des Himmels Namen, soll ich tun?«, murmelte Legrand, wie es schien in größter Verlegenheit.

»Tun?«, sprach ich, froh der Gelegenheit, ein Wort drein reden zu können. »Kommen Sie nach Hause und legen sich zu Bett. Folgen Sie mir, lieber Freund! Es wird spät, und außerdem erinnern Sie sich Ihres Versprechens!«

»Jupiter!«, schrie er, ohne sich im Geringsten um mich zu kümmern, hörst du mich?«

»Jawohl, Massa Will; hab Euch nie noch so gut gehört.«

»Dann untersuche das Holz genau mit deinem Messer und sieh, ob es sehr faul ist.«

»Es ist faul, Massa, ganz bestimmt«, berichtete der Mann einige Augenblicke danach, aber nich gerade so sehr faul, wie ich dachte. Ich allein könnte schon noch’n Stück hinaufgehen, das is gewiss.«

»Du allein! Was meinst du damit?«

»Na, ich mein’ den Käfer. Is ’n sehr schwerer Käfer. Setze den Fall, ich ließe ihn erst hinabfallen und dann würde der Ast wohl grade nich brechen unter dem Gewicht von einem Mann, wie ich es bin.«

»Du Höllenschuft!«, schrie Legrand, offenbar um vieles erleichtert, »was soll das heißen, dass du mir solchen Unsinn erzählst? So gewiss du den Käfer fallen lässt, so gewiss breche ich dir den Hals. Sieh her, Jupiter, hörst du mich?«

»Ja, Massa, braucht nich mit ’nem armen Diener einen solchen Hallo anzufangen in der Manier.«

»Gut, höre jetzt zu! Wenn du auf diesen Ast so weit hinaufkletterst, wie du für sicher hältst und das Insekt nicht fallen lässt, will ich dir einen Silberdollar schenken, sobald du wieder herabkommst.«

»Ich geh schon, Massa, wahrhaftig«, versetzte der Afrikaner höchst bereitwillig, »ich bin schon am Ende von dem Ast.«

»Am Ende!«, kreischte Legrand förmlich hervor, »sagst du wirklich, dass du am Ende des Astes bist?«

»Bald am End’, Massu u-u-u-h! Jessesmarie! Was is das hier auf ’m Baum?«

»Nun?«, rief Legrand in höchster Freude, »was ist’s?«

»Nix weiter als ’n Schädel. Jemand hat wohl seinen Kopf hier auf ’m Baum gelassen und die Krähen haben jedes bisschen von Fleisch heruntergehackt.«

»Ein Schädel, sagst du! Ganz recht, wie ist er an dem Baum befestigt, was hält ihn denn?«

»Gleich, Massa, muss nachsehen. Na, das is n’ sehr merkwürdiger Fall, auf mein Wort, da is ’n großer, dicker Nagel in dem Schädel, der ihn festhält.«

»Schön, Jupiter. Jetzt tue genau, was ich dir sage, hörst du?«

»Jawohl, Massa.«

»Gib also Acht, suche das linke Auge des Schädels.«

»Hm! He! Das is alles gut! Da is kein linkes Auge, Massa Will.«

»Zum Teufel mit deiner Dummheit! Kannst du deine rechte Hand von deiner linken unterscheiden?«

»Jawohl! Kann ich das … kann das sehr gut, … das is meine linke Hand, womit ich den Zweig hacke.«

»Gewiss, du bist links und dein linkes Auge ist auf derselben Seite, wie deine linke Hand. Jetzt, denk’ ich, kannst du das linke Auge des Totenkopfes finden oder den Platz, wo das linke Auge gewesen ist. Hast du ’s?«

Hier entstand eine lange Pause. Zuletzt fragte der Diener: »Is das linke Auge von ’em Schädel auch auf derselben Seite, wie die linke Hand von ’m Schädel? Weil der Schädel kein bisschen von ’ner Hand sich hat, – einerlei! Ich hab’ jetzt das linke Auge, hier is das Auge! Was muss ich mit ihm tun?«

»Laß den Käser durch dasselbe so weit hinabfallen, wie die Schnur reicht, aber sei vorsichtig und lass den Strick nicht fahren.«

»Alles geschehen, Massa; fürchterlich leicht, den Käser durch das Loch zu werfen, seht nur da unten nach ihm aus!«

»Sehr gut! Jetzt warte nur ein paar Minuten, wo du bist!«

Während dieser Unterredung war nichts von Jupiters Gestalt zu sehen, aber der Käfer, welchen er hinabgleiten ließ, wurde nun am Ende der Schnur sichtbar und glänzte wie eine Kugel von brennendem Gold in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, welche noch schwach die Hochebene, auf der wir standen, beleuchteten. Der Skarabäus hing funkelnd von einem der Äste herab und wäre, wenn Jupiter ihn hätte fahren lassen, gerade vor unsere Füße gefallen. Legrand raffte die Sense vom Boden und reinigte einen kreisförmigen Fleck, drei oder vier Fuß im Durchmesser, gerade unter dem Insekt von Gras und Brombeergestrüpp. Hierauf befahl er dem Afrikaner, die Schnur loszulassen und wieder herabzuklettern.

Nachdem er einen hölzernen Pflock gerade an der Stelle, wohin der Käfer gefallen war, mit großer Sorgfalt in die Erde getrieben hatte, zog mein Freund ein Bandmaß aus der Tasche. Das eine Ende desselben an dem Punkt des Baumstammes befestigend, welcher dem Pflock am nächsten war, entrollte er es, bis er den Pflock erreichte, und entrollte es dann fünfzig Fuß weiter in der Richtung, welche durch jene zwei Punkte – den Baum und den Pflock – bezeichnet war, während Jupiter das Gesträuch mit der Sense abmähte. An dem Ort, welcher durch dies Verfahren gefunden worden war, trieb er einen zweiten Pflock in die Erde und beschrieb um denselben als Zentrum einen Kreis, der etwa vier Fuß im Durchmesser hielt. Darauf nahm er selbst einen Spaten, gab mir und Jupiter gleichfalls einen solchen in die Hand und bat uns, so rasch als möglich zu graben.

Die Wahrheit zu gestehen, fand ich jederzeit wenig Gefallen an solchem Amüsement und gerade jetzt hätte ich diese Zumutung äußerst gern abgelehnt. denn die Nacht zog herauf und ich fühlte mich schon von dem Spaziergang ziemlich ermüdet; allein ich sah keine Möglichkeit, jener Arbeit zu entgehen, und scheute mich sehr, den Gleichmut meines Freundes durch eine Weigerung zu verletzen. Hätte ich mich auf Jupiters Hilfe wirklich verlassen können, dann würde ich ohne Besinnen den Mondsüchtigen selbst durch Zwang zur Heimkehr veranlasst haben. Ich kannte jedoch die ganze Art und Weise des alten Schwarzen zu genau, als dass ich hätte annehmen können, er werde mir unter irgendwelchen Umständen in einem persönlichen Konflikt mit seinem Herrn zur Seite stehen. Ich zweifelte kaum, dass der Letztere von dem im Süden häufigen Aberglauben von vergrabenen Schätzen angesteckt und in seiner Idee durch das Auffinden des Skarabäus bestärkt worden sei, oder vielleicht durch die hartnäckige Behauptung Jupiters, es sei ein richtiger Goldkäfer. Eine zur Mondsucht disponierte Natur konnte leicht auf solche Fantasien verfallen, besonders wenn der Geist sich mit gewissen vorgefassten fixen Ideen trug, – und daran erinnerte mich die sonderbare Redensart des unglücklichen Mannes: Jenes Tier sei der Anzeiger seines Glückes. Daraus eine Tugend zu machen und gutwillig zu graben, damit er umso schneller augenfällig von dem Irrtümlichen seiner abenteuerlichen Hoffnung überzeugt würde.

Nachdem die Laternen angezündet waren, begannen wir alle mit einem Eifer ans Werk zu gehen, der einer vernünftigeren Sache würdig gewesen wäre. Und als das flackernde Licht unsere Gestalten beschien, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, eine wie malerische Gruppe wir bildeten und wie seltsam und verdächtig unsere Arbeit einem Wanderer hätte erscheinen müssen, der sich zufällig zu uns verirrt hätte.

Wir gruben 2 Stunden lang emsig fort. Wenig wurde gesprochen und unsere Hauptstörung lag in dem Gekläff des Hundes, der an unserer Beschäftigung das lebhafteste Interesse nahm. Zuletzt wurde er so rebellisch, dass wir fürchteten, er könnte irgendwelche in der Nachbarschaft herumstreifende Spitzbuben heranziehen, – oder vielmehr Legrand fiel auf diesen Verdacht, – denn ich für meine Person würde mich über jede Störung gefreut haben, welche mich in den Stand gesetzt hätte, meinen Freund zur Heimkehr zu bewegen. Der Köter wurde zuletzt durch Jupiter wirksam zum Schweigen gebracht, indem Letzterer mit sauertöpfischem Gesicht aus der Grube stieg, dem Tier eines seiner Tragbänder um die Schnauze band und dann mit gravitätisch selbstzufriedenem Lächeln an seine Arbeit zurückkehrte.

Als die erwähnte Zeit verstrichen war, hatten wir eine Tiefe von fünf Fuß erreicht und noch immer ließen sich keine Anzeichen eines Schatzes entdecken. Eine allgemeine Pause entstand und ich schöpfte Hoffnung, dass nun die ganze Posse beendet sei. Legrand jedoch rieb sich, obwohl augenscheinlich in hohem Grade verstimmt, gedankenvoll die Stirn und begann die Arbeit von Neuem. Wir hatten den ganzen Kreis von vier Fuß Durchmesser ausgehöhlt. Nun erweiterten wir die Grube und drangen zwei Fuß tiefer hinab. Noch immer ließ sich nichts erblicken. Der Goldsucher, mit dem ich mehr und mehr Mitleid empfand, kletterte zuletzt, mit der Miene der bittersten Enttäuschung in jedem seiner Züge, herauf und begann langsam und widerstrebend seinen Rock anzuziehen, den er beim Anfang der Arbeit von sich geworfen hatte. Ich erlaubte mir keine Bemerkung. Jupiter raffte auf ein Zeichen seines Herrn die Geräte zusammen. Nachdem dieses geschehen und der Hund von seinem Maulkorb erlöst war, machten wir uns in tiefem Schweigen auf den Heimweg.

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