Nick Carter – Carruthers, der Verbrecherkönig – Kapitel 2
Nick Carter
Carruthers, der Verbrecherkönig
oder: Lebendig begraben
Kapitel 2
Eine unerwartete Begegnung
Die Abenddämmerung des trüben Novembertages brach schon über der Metropole herein, als Nick Carter den weißen Polizeipalast in der Mulberry Street verließ. Es war gerade fünf Uhr nachmittags. Etwa eine Stunde mochte noch vergehen, bevor Paul Lafont sich durch den Fernsprecher in vorgeschriebener Weise melden würde, um dessen weitere Befehle und Verhaltensmaßregeln entgegenzunehmen.
Nick Carter hatte sich seinen Plan bereits zurechtgelegt. Aus Lafonts Tagesberichten wusste er, dass der von diesem überwachte Carruthers das leerstehende Haus an Boston Road um vier Uhr nachmittags zu betreten und eine Stunde später wieder zu verlassen pflegte, um es vor dem nächsten Nachmittag nicht wieder aufzusuchen. Daraufhin hatte Nick Carter beschlossen, die kommende Nacht zu einer gründlichen Durchsuchung des Gebäudes zu verwenden und vom nächsten Tag ab sich an die Sohlen Carruthers zu heften. Zunächst begab er sich in seine Wohnung.
Der Detektiv hatte sich bei der Zusage seines Freundes, den Beamten Paul Lafont einer anderen Tätigkeit zuweisen zu wollen, beruhigt. Er dachte nicht daran, sich nochmals telefonisch zu erkundigen, ob Inspektor McClusky auch die Meldung seines Untergebenen empfangen und diesen abberufen habe.
Das war so selbstverständlich, und die abendliche Meldung der Spezialbeamten gehörte zu deren obersten Pflichten. Und dennoch geschah es zum ersten Mal an diesem Abend, dass Lafont sich bei seinem Vorgesetzten nicht meldete. Der Inspektor wollte an die Möglichkeit einer derart unerhörten Nachlässigkeit, die sich Lafont während seiner mehr als zwanzigjährigen Dienstzeit nicht ein einziges Mal hatte zu Schulden kommen lassen, nicht glauben und wartete bis nach sieben Uhr abends.
Doch der Detektiv meldete sich nicht, und Inspektor McClusky musste schließlich seine Amtsräume verlassen, ohne sein dem Freund gegebenes Versprechen wirklich einlösen und Paul Lafont abberufen zu können. Er hinterließ indessen dem wachhabenden Sergeanten strenge Weisung, den Detektiv, sobald dieser sich melden würde, einerlei wo und unter welchen Umständen dies geschah, sofort zum Hauptquartier zu beordern.
Hinterher hatte Nick Carter alle Ursache, den unterlassenen Telefonanruf zu beklagen. Dieser hätte ihn sicherlich veranlasst, sich für seine nächtliche Expedition ganz anders auszustatten, als dies nun geschah.
Lange saß Nick Carter in seinem behaglichen Arbeitszimmer, gemächlich im Lehnstuhl zurückgelehnt, nach seiner Gewohnheit, fast ohne sich dessen bewusst zu werden, einer duftenden Regalia unablässig Rauchwolken entlockend und deren Flug zur Decke mit träumerischem Blick verfolgend.
In solchen Augenblicken arbeitete sein Gehirn am angestrengtesten. Eben war er dabei, sich für die kommende Nacht schlüssig zu werden. In der Regel bediente sich Nick Carter in solchen Fällen einer Verkleidung. Er war wohl der gewandteste Verkleidungskünstler und seine Geschicklichkeit bei der Anlegung von Masken grenzte geradezu ans Unglaubliche.
Die Erfahrung hatte ihn jedoch gelehrt, dass Morris Carruthers ihm in dieser Hinsicht zumindest ebenbürtig, wen nicht gar überlegen war. Nicht zum ersten Mal geschah es, dass sich der große Detektiv an die Sohlen dieses unheimlichen Mannes heftete. Aber auch ihm, dem unerreichten Meister, war es bisher nicht gelungen, den schlauen Fuchs auszuräuchern. Immer noch im letzten Augenblick war es Carruthers gelungen, das wider ihn mühsam gesammelte Verdachtsmaterial mit meisterlichem Geschick zu entkräften und sich lachend allen weiteren Verfolgungen zu entziehen.
Das sollte und durfte sich diesmal unter keinen Umständen wiederholen. Nach langem Nachdenken beschloss Nick Carter deshalb, sich überhaupt keiner Verkleidung zu bedienen, denn es stand zehn gegen eins zu wetten, dass Carruthers ihn in seiner wirklichen Gestalt am allerwenigsten kannte und auf diese Weise, falls ihn die kommende Nacht überhaupt mit ihm zusammenführte, was nach Paul Lafonts Beobachtungen sehr unwahrscheinlich war, am ehesten getäuscht werden konnte.
Gesagt, getan!
Ohne weiteren Verzug machte sich der zu diesem Entschluss gekommene Detektiv ausgangsfertig. Zunächst wählte er einen erdfarbenen Anzug, welcher am wenigsten auffiel. Die zahlreichen Geheimtaschen versah er mit allen möglichen Gegenständen, welche er zur Ausübung seines gefahrenreichen Berufs zuweilen ganz plötzlich brauchte, wie Perücken und Bärte sowie Schminken der verschiedensten Art. Er verabsäumte auch nicht, unter dem Rock seine eigenste Erfindung anzuschnallen; eine Art Gerüst aus Lederriemen, derart beschaffen, dass im Rock verborgen zwei geladene Revolver steckten, welche sofort innerhalb der Ärmel emporschnellten, sobald Nick Carter die Arme hoch hielt. Er hatte nichts weiter zu tun, als die schussfertig ihm in die Hände gleitenden Waffen festzuhalten und sich ihrer zu bedienen.
Auf diese Weise erschien es, als flögen dem Detektiv die Kugeln aus den Fingerspitzen. Da er sich rühmen konnte, im Ernstfall noch niemals verfehlt zu haben, so lässt sich denken, wie gefährlich für seine Feinde diese zusammen zehn Schuss aufweisenden Waffen in den Händen des großen Detektivs waren.
Nachdenklich nahm Nick dann ein merkwürdiges Instrument zu Hand; ebenfalls ein Produkt seines eigenen Scharfsinnes und von ihm, der zugleich ein äußerst geschickter Mechaniker war, selbst gefertigt. Es war dies in der äußeren Erscheinung ein sogenannter Engländer – also ein verstellbarer Schraubenschlüssel, der zugleich als Hammer zu gebrauchen ist. Nick Carter hatte dieses Instrument bedeutend vervollkommnet. Es enthielt eine Vorrichtung zum Sprengen von Holz- und dünnen Steinwänden, auch hatte ihm dasselbe schon häufig gute Dienste getan, wenn es sich darum gehandelt hatte, in irgendeinem Versteck untergebrachtes gestohlenes Gut zu suchen.
Auch ein großes Messer, das sowohl als Waffe diente, wie es auch als Steinbohrer zu gebrauchen war, steckte er ein. Ebenso versah er sich mit einer elektrischen Diebeslaterne, deren starke Batterie für viele Stunden Licht spendete.
So ausgerüstet machte sich der Detektiv ohne Weiteres an sein nächtliches Vorhaben.
Unterwegs überdachte Nick Carter nochmals die ihm genau bekannt gewordenen Lebensgewohnheiten dieses Königs aller Verbrecher. Carruthers gab sich als Lebemann. Er gehörte einer ganzen Anzahl von Clubs an, deren Mitglieder sich hauptsächlich aus den Vertretern der goldenen Jugend zusammensetzen. Gleich diesen jungen Leuten, welche zumeist in der Wahl ihrer Eltern recht vorsichtig gewesen waren und darum über ein sehr stattliches Taschengeld verfügten, schien auch bei Morris Carruthers das Geld keine Rolle zu spielen. Er beteiligte sich bei den kostspieligsten Vergnügungen, spielte hoch und häufig und verlor mit derselben Gelassenheit, mit welcher er gewann. Erst zu früher Morgenstunde suchte er seine vier eleganten Räume im Undine-Hotel auf, um sie erst am Spätnachmittag wieder zu verlassen. Anscheinend wiederholte sich dies Tag für Tag. Erst jetzt, seit der Flucht des verflossenen Bankpräsidenten aus dem Gefängnis im Hauptquartier, hatte Morris Carruthers seine Gewohnheiten dahin abgeändert, dass er volle zwei Stunden früher das elegante Apartmenthotel verließ, seine Schritte der abgelegenen Boston Road zu lenkte, in dem ihm dort gehörigen, vollständig ausmöblierten, aber unbewohnten Haus eine Stunde zubrachte und dann wieder zur Stadt zurückkehrte, um sein gewohntes Nachtleben zu beginnen.
Etwa um zehn Uhr abends erreichte Nick Carter das in tiefer Dunkelheit liegende Haus. Vorsichtig hielt er sich im Schatten der beiden, das Eingangstor flankierenden Ulmen und spähte scharf nach allen Richtungen umher, ob auch niemand in der Nähe oder im Grundstück selbst sich aufhalte, welcher ihn bei seinem Tun beobachten konnte.
Erst, nachdem er sich hierüber beruhigende Gewissheit verschafft hatte, turnte er mit gewandtem Schwung über das verrostete Gittertor, stand im nächsten Moment innerhalb der Umfriedung und näherte sich mit schleichenden Tritten dem Haus.
Das Haustor war verschlossen. Doch das bereitete dem Detektiv weiter keine Schwierigkeiten. Er befand sich im Besitz eines kleinen Instrumentes, das gleichfalls seinem erfinderischen Genie seine Entstehung verdankte. Er nannte es bescheiden einen Dietrich, aber es war weit mehr als ein solcher, denn durch sinnreich angebrachte Federn und Schrauben war Nick in der Lage, das stählerne Werkzeug mit den Fingern zu bearbeiten, als ob es aus Wachs gefertigt sei. Es gab in der Tat kein Schloss, außer den ganz besonders konstruierten Kassenverschlüssen, welches er mit seinem Dietrich nicht binnen weniger Minuten zu öffnen vermocht hätte.
Auch hier war Nick Carter ohne Weiteres erfolgreich. Schnell hatte er den Dietrich angepasst und schloss das Tor mit Leichtigkeit auf.
Er huschte durch die offene Tür und zog diese hinter sich ebenso vorsichtig und lautlos wieder ins Schloss, wie er sie zuvor geöffnet hatte. In dem völlig dunklen Korridor blieb er stehen und zog seine elektrische Taschenlaterne hervor, um vorsichtig die nächste Umgebung abzuleuchten.
Doch in diesem Moment, als er mit schnellem Blick sich davon überzeugt hatte, dass die Vorhalle nur das notdürftigste Gerät enthielt und zum Hof zu in die zum Oberstock führende Treppe auslief, fuhr seine Linke auch schon blitzschnell in die Höhe. Im nächsten Moment hielt er einen Revolver in der Hand, während seine Rechte die brennende Laterne weit vorstreckte, um die Umrisse der auf der untersten Treppenstufe sichtbar gewordenen, unbeweglich harrenden Menschengestalt schärfer zu beleuchten.
Nur wenige Schritt von ihm entfernt stand am Fuß der Treppe ein hochaufgerichteter Mann. Sein männlich schönes, wild verwegenes und furchtloses Gesicht lachte den Eingedrungenen mit unverkennbar spöttischem Ausdruck an.
Noch eine Sekunde lang stand dieser unbeweglich, und seine stahlblauen Augen weideten sich offenbar an der Überraschung des eingedrungenen Detektivs. Dann strich er mit der linken Hand über den bernsteinfarbenen Schnurrbart.
»Well, stecken Sie Ihre Waffe fort, Mr. Carter, denn Sie haben kein Recht, mich in meinem eigenen Hause damit zu bedrohen!«, begann er dann mit einer scharfen Kommandostimme, während er wegwerfend mit den Schultern zuckte. »Ich nehme wenigstens an, dass ich das außerordentliche Vergnügen und die Ehre habe, vor mir den höchst klugen, unübertrefflichen und ewigen tausend anderer männlichen Tugenden bewunderungswürdigen Mr. Nick Carter vor mir zu sehen?«
»Der bin ich!«, lautete die gelassene Antwort.
»Nun, dann habe Sie die Güte, Ihre Knallbüchse wegzutun … solche Dinger gehen zuweilen los, und das ist für den Betroffenen zumeist recht schmerzhaft … Sie dürfen sich übrigens versichert halten, dass Ihr so kostbares Leben sich eben nicht in der geringsten Gefahr befindet!« Er lachte wieder voll beleidigender Geringschätzung auf.
»Sehr verbunden«, entgegnete der Detektiv nicht minder spöttisch und zuversichtlich. »Ich glaube Ihrer Versicherung, zumal ich weiß, dass mir keine Gefahr droht – und am wenigsten von Ihnen, Mr. Morris Carruthers … der sind Sie doch?«
»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, Mr. Carter – ja, ich bin Morris Carruthers.«
»Ich würde nicht gefragt haben, wenn meine Laterne nicht so dürftig leuchtete, dass man kaum zu sehen vermag.«
»Mein verehrter Herr, warum sagen Sie das nicht gleich … es wird mir ein außerordentliches Vergnügen bereiten, Sie mit gebührender Helle zu empfangen – wirklich, Carter, ich muss mich bei Ihnen beschweren, weil Sie mir nicht vorher anzeigten, welche Ehre dieser elenden Hütte widerfahren würde, denn natürlich würde ich alsdann einen derartig berühmten Gast mit einer glänzenden Festillumination empfangen haben!«
»Sehr liebenswürdig!«, versetzte Nick Carter im gleichen spottenden Ton.
»Liebenswürdig? O nein, verkennen Sie mich nicht. Ich hätte nur gerne der Nachbarschaft Ihre Geschicklichkeit im Einbrechen gezeigt, das war ja wirklich eine Glanzleistung. Mr. Carter, Sie sollten das traurige Detektivgewerbe aufgeben und sich dem Einbruchsgeschäft widmen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn Sie da nicht noch ganz andere Leistungen aufzuweisen haben würden!«
»Danke schön, doch das hieße nur einem anerkannten Meister ins Handwerk pfuschen!«, versetzte der Detektiv mit einer ironischen Verneigung.
»Nun ist es an mir, liebenswürdig zu sein; doch Sie müssen selbst sagen, dass nur ein Dieb oder – nun, sagen wir, ein in der Wolle gefärbter Schurke sich auf solche niederträchtige Weise in das Haus eines Gentleman einschleichen kann, wie Sie es eben gemacht haben!«
»Vielleicht auch ein Detektiv, der auf der Fährte eines solchen Schurken sich befindet«, lautete Nick Carters kühle Erwiderung. »Wirklich, Carruthers, Sie haben viel Ähnlichkeit mit Ihrem mir unvergesslichen Bruder Livingstone.«
»Ah! Wie ausnehmend freundlich von Ihnen, dies zu behaupten. Sie sind ein Gemütsmensch, Carter. Doch mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich nun Licht machen.«
»Bitte, tun Sie das meinetwegen.«
Carruthers trat, ohne von dem Detektiv aus den Augen gelassen zu werden, an diesem vorüber durch die offenstehende Tür in den Parlor, wie das Empfangszimmer im amerikanischen Haushalt genannt wird.
»Sie sehen, ich bin willens, Ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen, ja, ich bin sogar erbötig, Sie mit gebührender Feierlichkeit aus dem Haus zu werfen, sobald wir uns ausgesprochen haben werden!«, setzte er mit höhnischem Lächeln hinzu.
Die Minute darauf hatte er die Glühstrümpfe des in der Mitte des geräumigen Zimmers befindlichen Deckenkronleuchters angezündet. Nick hatte beobachtet, dass er nur auf einen elektrischen Wandknopf gedrückt hatte.
»Ja, ich habe selbst elektrische Leitung im Haus«, versetzte Carruthers, welchem der forschende Blick des anderen nicht entgangen war. »Alle Zimmer im Haus sind mit elektrischer Lichtzündung versehen. Sie hätten sich also mit Ihrer elektrischen Diebeslaterne nicht zu beschweren brauchen, Mr. Carter … sagte Ihnen dies nicht Ihr intelligenter Freund, Inspektor McClusky? Er war doch mit seinen Leuchten McGuire, Sharp und Mullen hier im Haus. Ich finde das äußerst rücksichts- und gedankenlos. Meinen Sie nicht auch, Mr. Carter?«
Carruthers lachte wieder spöttisch auf.