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Der Detektiv – Die Schmuggler von Palermo – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920

Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient

Die Schmuggler von Palermo

3. Kapitel

Harsts Worten folgte lautlose Stille. Nur aus den übrigen Teilen des Palazzos drangen allerlei Geräusche zu uns herein, Minuten vergingen. Dann sagte Harst: »So, Frau Gräfin, nun haben Sie sich etwas erholt. Stört es Sie, wenn ich auf und ab gehe?«

»Durchaus nicht, Herr Horn.«

Harst stand auf. »Bitte Frau Gräfin, Sie haben doch fraglos noch mehr auf dem Herzen. Aber strengen Sie Ihre Stimme nicht an. Sprechen Sie leise. Ich habe vorzügliche Ohren. Ich höre alles, auch wenn ich auf dem Bastteppich hin und her wandere.«

Die Kranke begann wieder, während Harsts Gestalt fast lautlos in dem dunklen Zimmer dahinwandelte, bald hierhin, bald dorthin. Aber immer kehrte er, ohne Zweifel absichtlich, zu jener Stelle der Wand zurück, wo etwa die Geheimtür sich befinden musste.

»Ja, ich habe noch mehr auf dem Herzen, Herr Horn, sogar die Hauptlast noch! Es betrifft Alfio. Ich, fürchte, er hat allerlei sonderbare Geheimnisse vor mir. Ich habe bestimmte Beweise, dass er nicht jeden Abend dort in der Hafenkneipe, sie heißt Bodega d’Italia, Klavier spielt und dazu Gassenhauer singt. Ach, seine Stimme ist so schön, und die hässlichen Lieder verachtet er. Aber er muss ja singen, was der Wirt verlangt. Er will mich glauben machen, er hätte dort jeden Abend zu tun. Wie gesagt: Ich habe Beweise, dass er mindestens zweimal in jeder Woche nachts auf See gewesen ist. Ja, seine Kleider riechen dann stets nach Teer, ebenso, als habe er sich auf einem Segelschiff stundenlang aufgehalten. Und verschiedentlich spürte ich in seinem Haar auch den scharfen Geruch eines Ölhuts, wie ihn die Fischer bei stürmischem Wetter tragen. Immer wenn ich den Argwohn hege, er sei nicht in der Bodega d’Italia bis gegen Morgen gewesen, vor Tagesanbruch kehrt er nie heim, handelte es sich um dunkle regnerische Nächte. Was halten Sie von alledem, Herr Horn?«

Ich hatte, da es infolge schneller Bewölkung des Himmels bei uns im Zimmer nun stockfinster war, von Harst in den letzten Minuten nichts mehr bemerkt.

Eine Weile Schweigen. Dann abermals die Stimme der Schwindsüchtigen: »Herr Horn, bitte antworten Sie doch. Sie brauchen mich nicht zu schonen. Gewiss, ich lebe dauernd in furchtbarer Angst um Alfios Sicherheit. Aber, ich bin stark genug, ihn, falls Sie meine Befürchtungen teilen, offen zu bitten, sich meinetwegen nicht weiter noch der Gefahr auszusetzen, von den Zollbeamten abgefasst zu werden und ins Gefängnis zu kommen. Sie dürfen mir ehrlich erklären, Herr Horn, was Sie zu alledem meinen. Bitte sprechen Sie mit mir. Wo sind Sie eigentlich? Ich sehe Sie nicht. Hier ist es so dunkel. Machen Sie doch bitte Licht.«

Da mischte ich mich ein. Ich wusste jetzt, dass Harst zu irgendeinem Zweck lautlos das Zimmer verlassen hatte und ich hielt es für ratsam, dass wir im Dunkeln blieben.

»Frau Gräfin«, sagte ich leise. »Mein Freund wird sofort zurückkehren. Er ist für einen Moment hinausgegangen.«

Sie erwiderte nichts. Ich sah ihr weißes Gesicht nur als verschwommenen Fleck. Wir warteten schweigend. Draußen war ein heftiger Wind aufgekommen. Die Parkbäume rauschten und das Meer brandete heftig gegen die felsige, so nahe Küste. Die Fensterflügel bewegten sich ebenfalls unter den Stößen des schnell anwachsenden Sturms. Ich spürte einen kühlen Luftzug, der mich veranlasste, im Interesse der Kranken die Fenster zu schließen und die großen Leinenvorhänge vorzuziehen.

Da, als ich gerade die letzten Vorhänge übereinanderschlug, kam ganz plötzlich Harsts Stimme von dem mächtigen Schrank her: »Frau Gräfin, ich werde mit Ihrem Gatten über diese Dinge demnächst sprechen, wenn es Ihnen recht ist. Ich hoffe, noch leichter als Sie das zu erzielen, was Sie wünschen. Vertrauen Sie mir restlos, liebe Landsmännin. Ihre Sache ruht in guten Händen.«

Ein Streichholz flammte auf, und Harst zündete die auf einem Seitentischchen stehende Petroleumlampe an, ließ sie dort und kam nun zu uns an den großen Abendbrottisch.

Die Gräfin reichte ihm die Hand, nachdem sie schnell aufgestanden war. »Ja Herr Horn, ich habe Vertrauen zu Ihnen«, meinte sie hastig. »Wirklich volles Vertrauen! Ich muss jetzt gehen. Gute Nacht, meine Herren. Ich hoffe, Sie werden die erste Nacht in diesem Haus gut schlafen.«

Auch ich durfte ihr die Hand drücken. Dann schritt sie auf die bis zur Decke hinauf getäfelte Wand rechts vom Schrank zu, tastete mit der Hand in einer Fuge zwischen zwei Zierleisten umher, und plötzlich tat sich die Geheimtür auf.

Harst hatte die Lampe ergriffen und leuchtete der Gräfin. Hinter der schmalen Tür befand sich ein enger freier Raum.

Ich schaute Harst über die Schulter. Die Gräfin nickte uns nochmals zu und drückte dann die Geheimtür ins Schloss, das mit leisem Schnappen den Riegel vorschnellen ließ.

»Tadellos gearbeitet«, sagte Harst. »Such doch mal, Schaper, ob du irgendwo auch nur eine einzige verräterische Ritze bemerkst! Du wirst umsonst suchen. Ja, diese Baumeister früherer Zeiten! Es waren Genies in ihrer Art. Was sie so alles in diese Paläste an geheimen Gelassen mit einschmuggelten, ist unglaublich.«

Er ging an den Tisch am Fenster zurück, setzte die Lampe ab und nahm in dem alten Ledersessel Platz.

Ich stellte mich neben ihn. »Wo warst du vorhin?« flüsterte ich.

»Hm – in einem Warenhaus«, erwiderte er ebenso leise.

»Lass doch die Scherze. Ich glaube, wir sind hier in ein böses Wespennest geraten«, erklärte ich ärgerlich.

»Wieso denn Wespennest? Die Gräfin und der Graf sind für uns ganz ungefährlich, wirklich!«

»Aber der dicke Maler nicht! Ich behaupte, es ist Cecil Warbatty!«, hauchte ich mit aller Vorsicht. »Bedenke, dass aus der Skizze dieses neuen Stadtviertels hervorgeht, dass Warbatty Palermo sehr genau kennen muss. Wir wissen ja auch aus den anderen bei Edward Orkney gefundenen Papieren, dass Warbatty nicht weniger als fünfzehn neue Verbrechen großzügiger Art aufs Sorgfältigste vorbereitet zu haben scheint, von denen das erste eben hier in Palermo verübt werden soll, während wir von den brigen vierzehn leider bisher nur die Orte kennen, wo diese großen Schläge stattfinden sollen, so zum Beispiel der nächste in Kairo, der dritte in Suez und so fort, sozusagen etappenweise bis nach Indien. Warbatty ist zweifellos schon in Palermo gewesen. Und er ist klein von Statur. Allerdings hager. Aber Korpulenz lässt sich vortäuschen.«

Harst erwiderte nichts. Ich sah, dass ihm der Kopf matt auf die Brust gesunken war, beugte mich über ihn, fragte angstvoll: »Fühlst du dich krank? Ist dir etwas zugestoßen?«

»Ja … ich … fühle mich sehr krank …«, stöhnte er. »Mir … kaum höre, was … du sprichst. Ich … fürchte …, ich werde mich in Messina angesteckt haben! Dort herrschte so sehr der Typhus … epidemieartig … Schaper, … der Graf … sagte uns, dass … ein in Palermo ansässiger deutscher Arzt seine Frau behandelt. Schicke … zu ihm … sofort. … Ich … ich werde fast ohnmächtig vor Schwächegefühl …«

Meine Angst kann man sich leicht vorstellen. Harst war mein Freund, mein Wohltäter. Er hatte mich wieder zum ehrlichen Menschen gemacht, nachdem der frühere Komiker zum Taschendieb hinabgesunken war. Ich rannte in den nur schwach beleuchteten Flur hinaus, rannte zu Oretos, klopfte dort an, wurde eingelassen und schickte Olivellas dreizehnjährigen Bruder Tonio zu dem Landsmann Doktor Schneider, den der Graf uns als den gesuchtesten Arzt der Stadt und als den gütigsten Menschen von der Welt hingestellt hatte.

Als ich zu Harst zurückkehrte, meinte er mit kaum vernehmbarer Stimme, ich solle mit Olivellas Hilfe unsere Betten in diesen Raum tragen. Im Schlafzimmer rieche es ihm zu muffig.

Olivella half mir. Dann brachte ich Harst zu Bett. Ich war in einer Aufregung, dass ich zu fiebern schien. Harst lag mit geschlossenen Augen da und antwortete auf keine Frage mehr. Sein Mund stand halb offen. Röchelnd kam ihm der Atem stoßweise über die Lippen.

Dann endlich das Geräusch eines Autos. Gleich darauf öffnete ich Doktor Schneider die Tür. Er war ein würdiger älterer Herr, etwas wortkarg, aber am Krankenbett mild und liebevoll wie ein Vater. Er schickte mich sehr bald zu Oretos nach frischem Wasser für Kompressen. Als ich zurückkehrte, gab er mir ein Rezept. Sein Chauffeur solle damit sofort zur Apotheke fahren. Ich erledigte auch dies. Dann trat er mit mir in den Flur hinaus.

»Herr Schaper, es ist Typhus. Ich fürchte, die Krankheit wird einen sehr kurzen Verlauf nehmen«, sagte er und drückte mir herzlich die Hand.

»Mein Gott, heißt das, dass er nicht zu retten ist?«, stotterte ich. Er zuckte nur die Achseln. Ich taumelte förmlich gegen die Wand. Unmöglich … unmöglich! Harst sollte sterben! Ich war ganz starr vor Entsetzen.

Aber das Schlimmste stand mir noch bevor. Doktor Schneider war wieder davongefahren, wollte morgens wiederkommen. Ich hatte Harst drei Löffel von der Medizin gegeben. Er lag still da und murmelte allerlei wirre Worte. Um Mitternacht wurde er unruhig. Für alle Fälle hatte ich Olivella gebeten, im Nebenzimmer zu schlafen, damit ich sie zur Hand hätte. Er begann sich hin und her zu werfen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Dann stellte sich Erbrechen ein.

Oh, ich durchlebte furchtbare Stunden bis zum Morgen. Nach Tagesanbruch musste Tonio wieder zu Doktor Schneider. Dann kam auch der Graf zu uns herein. Der ganze Palazzo wusste bereits, dass der eine der neu eingezogenen Maler Typhus hatte. Ich war nun dem Umsinken nahe vor Müdigkeit und Abspannung. Der Graf tröstete mich, war auch ganz verzweifelt. Dann erschien der deutsche Doktor, begrüßte mich mit warmer Teilnahme, untersuchte den bewusstlos daliegenden Harst, behorchte das Herz, maß die Temperatur, schüttelte den Kopf, seufzte, sagte dann in Gegenwart des Grafen und Olivellas: »Ein geradezu rapider Verlauf! Der Ärmste wird die Mittagsstunde nicht überleben.«

Ich sank in den Sessel, schluchzte. Auch Olivella weinte.

Doktor Schneider flößte Harst noch ein Pulver ein. Dann verabschiedete er sich.

Um elf Uhr vormittags gab Harst keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. Um ¼12 erschien Doktor Schneider abermals. »Es ist vorüber«, meinte er.

In der offenen Flurtür drängten sich die Bewohner des Palazzo zusammen, traten scheu ein, knieten zum Teil nieder, bekreuzigten sich, bis der Doktor sie hinauswies. Ich saß selbst halbtot im Ledersessel, hörte kaum auf das, was Schneider sagte. Dann fiel mir ein, dass ich mich nun doch dem Doktor anvertrauen müsse. Wir führten ja falsche Namen und Ausweispapiere. Ich musste Harsts Mutter benachrichtigen. So nahm ich mich zusammen, erzählte dem Landsmann alles was nötig war, verschwieg nichts. Er war so überrascht, dass der Tote Harald Harst sein sollte, dass er erst kein Wort hervorbrachte. Dann versprach er mir, da ich doch in Palermo ganz unbekannt war, zu erledigen, was der Todesfall erheischte und auch an Harsts Mutter zu telegrafieren.

Ich war froh, dass er mir in so liebenswürdiger Weise alles abnahm. Ich ließ mich nachher auch von dem Grafen in den Park führen, ließ mir Essen und Getränke aufzwingen. Um ein Uhr nachmittags kam ein Krankenwagen und holte die Leiche ab, die in der Kapelle des Friedhofs der deutschen Kolonie im Gewölbe so lange untergebracht werden sollte, bis Harsts Mutter eingetroffen war. Dann erschienen gleich darauf Leute von der Sanitätspolizei, desinfizierten beide Zimmer und wiesen mich an, vorläufig den Palazzo und den Park nicht zu verlassen. Es müsste festgestellt werden, ob ich Bazillenträger sei. Also befand ich mich nun noch zu allem anderen in polizeilicher Quarantäne.

Das gräfliche Paar war die Liebe und Güte selbst. Ebenso versuchte mir Olivella jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Um vier Uhr nachmittags musste ich mich, der Graf wurde sehr energisch, in Kleidern auf mein Bett legen. Ich schlief auch bald ein, träumte wirres Zeug, von Berlin, von einem Ballsaal, in dem nur Gerippe bei Walzermusik tanzten. Ich hörte den Walzer so deutlich.

Da ging der Traum in Wirklichkeit über. Den Walzer spielte ein zerlumpter buckliger Leierkastenmann mit wilden Haarzotteln um das wohl seit Jahren nicht gewaschene Gesicht. Ich war im Nu am Fenster, brüllte dem Kerl zu, sich davon zu scheren, warf ihm eine größere Münze zu. Da schob er ab, begann aber auf der anderen Seite des Hauses nun einen Trauermarsch zu spielen. Die um ihn versammelten Kinder mochten ihm von dem Todesfall erzählt haben. Nach einer Weile schlich er wieder unter unsere Fenster, dudelte denselben Marsch wohl in der Hoffnung auf neue zehn Lire.

Er erhielt sie auch, aber unter der Bedingung, nun endlich zu verschwinden. Er zog den zerrissenen Filz, verbeugte sich tief und schulterte seinen kleinen Leierkasten, suchte dann anderswo neue Opfer für seine musikalischen Darbietungen. Ich stand noch am Fenster, als ein Auto vor dem Palazzo vorfuhr, dem drei Polizeibeamte entstiegen. Sie betraten das Haus. Dann hörte ich nebenan aus den offenen Schlafstubenfenstern des gräflichen Paars einen gellenden Schrei herausdringen, den nur die arme Gräfin ausgestoßen haben konnte. Ich ahnte, dass die Beamten des Grafen wegen gekommen waren. Ich drehte mich um, wollte in den Flur und hinüber zu der kranken Landsmännin eilen, um ihr beizustehen, um sie zu trösten.