Detektiv Schaper – Das stille Haus – 1. Kapitel
M. v. Neuhof
Detektiv Schaper
Das stille Haus
1. Kapitel
Hildegard Börmer war sofort nach Beendigung der Literaturstunde, die vom spindeldürren Fräulein Wallner mit einer die Aufmerksamkeit der jungen Damen nicht gerade fördernden Trockenheit und Einseitigkeit abgehalten wurde, in den großen Park hinabgeeilt, der sich ein Stück an der Elbe entlangzog und in dem es so viele lauschige Winkelchen und Plätzchen gab. Diese waren sämtlich unter die Zöglinge des Töchterpensionats der Frau verwitweten Frau Major Agathe von Queisner infolge gütlichen Übereinkommens verteilt worden, Besitzrechte, die allgemein respektiert wurden, sodass jeder der knospenden Mädchenblüten Gelegenheit gegeben war, während des Sommers ganz nach Belieben sich mit ihren Träumereien in die Einsamkeit zurückzuziehen.
Das junge Mädchen, das nun schon ein ganzes Jahr im Pensionat lebte, ohne sich dort selbst nach Ablauf dieser langen Zeit heimischer als am ersten Tag zu fühlen, schritt jetzt, nachdem das weiß gestrichene Haus hinter der bogenförmigen Allee alter Linden verschwunden war, langsam weiter und suchte seinen Lieblingsplatz auf, den von einer dichten Lebensbaumhecke umgrenzten Ausguck, von dem man einen entzückenden Fernblick über den breiten Strom bis weit hinunter auf das Häusermeer der sächsischen Residenz hatte, deren Kirchtürme in die bläulich schimmernden fernen Höhenzüge wie in ein Wolkenmeer hineinragten. Hier lehnte Hildegard Börmer sich an die erst kürzlich von dem Gärtner frisch gestrichene Holzbrüstung und schaute versonnen auf das wunderbare Landschaftsbild hinaus, das in den Ausschnitt der Lebensbaumhecke wie in einen dunkelgrünen Rahmen eingefasst zu sein schien.
Lange stand sie so fast regungslos da. In ihren Augen lag ein Ausdruck stillen Sehnens, der dieses eigenartig anziehende Gesicht noch reizvoller machte. Als sie dann plötzlich hinter sich leichte Schritte vernahm, fuhr sie beinahe erschreckt aus ihren Gedanken auf und wandte sich mit einer Miene, die deutlich ihr Missbehagen über die Störung ausdrückte, der Näherkommenden zu. Kaum hatte sie diese aber erkannt, als auch schon ein freundliches Lächeln über ihr in versonnene Melancholie getauchtes Antlitz flog.
Isa von Barnbiel war auf der obersten Stufe der nach dem Ausguck hinaufführenden Treppe zögernd stehen geblieben.
»Erlauben Sie, Frau Hadwig?«, fragte sie halb im Scherz, wobei ihre spitzbübischen dunklen Augen die andere so bittend anblickten.
Frau Hadwig, so hatte man Hildegard Börmer nach der schönen Heldin von Scheffels Ekkehard getauft, nickte der um drei Jahre jüngeren Pensionsgefährtin herzlich zu.
»Aber gewiss, Isa, kommen Sie nur. Ihnen gönne ich gern einen Rundblick von diesem Plätzchen, das ich jetzt ja doch bald aufgeben muss.«
Isabella von Barnbiel war mit ein paar schnellen Schritten neben Hildegard getreten und schaute zunächst in stummer Bewunderung auf das malerische Bild, das sich vor ihr ausbreitete. Frachtkähne, Dampfer und lange Schleppzüge belebten den von der Frühjahrssonne beschienenen, glitzernden Fluss. Weit hinten rollte soeben über die mächtige Brücke ein Eisenbahnzug, dessen Lokomotive eine lange, dunkle Rauchfahne hinter sich ließ.
Erst nach einer geraumen Weile wandte sie sich an Hildegard.
»So ist es also Wahrheit, Frau Hadwig, dass Sie uns demnächst verlassen wollen?«, meinte sie, sich mit einem kühnen Schwung oben auf die Brüstung setzend. Und zögernd fügte sie hinzu: »Würden Sie mir einmal eine etwas indiskrete Frage gestatten, liebe Hildegard? Ich möchte mir so sehr gern über etwas Gewissheit verschaffen.«
Frau Hadwig errötete jäh. Und leise erwiderte sie dann: »Weil Sie es sind, Isa. Fragen Sie …«
Die Baronesse Barnbiel strich sich verlegen die Falten ihres blauen Tuchrockes glatt.
»Man erzählt sich hier im Pensionat, Sie seien verlobt, Hildegard«, meinte sie mit einem forschenden Blick auf die vor ihr Stehende. »Ist das Tatsache?«
Frau Hadwig hatte den schönen Kopf mit der dunkelbraunen, lose frisierten Haarfülle gesenkt.
»Ja«, klang es scheu zurück, »ich bin verlobt …«
Isa legte der jungen Braut behutsam den linken Arm um den Hals und zog sie sanft an sich. Ihre Stimme war voll herzlicher Anteilnahme, als sie dann sagte: »Meinen herzlichen Glückwunsch, Hildegard.« Und mit der ihr eigenen, oft etwas burschikosen Offenheit setzte sie schnell hinzu: »Ich begreife nur nicht, wie man dann stets so traurig, so melancholisch sein kann wie Sie. Wenn ich mich erst verlobt habe, dann … dann bin ich sicher ganz unausstehlich vor glücklichem Übermut.«
Frau Hadwig lächelte trübe. »Das glaube ich gern, Isa. Ihr Brautstand wird ja auch sicherlich anders werden als der meine.«
Die Baroness fühlte ihr mitleidiges Herzchen schneller schlagen. Zärtlich streichelte sie der anderen das weiche, kastanienbraune Haar. »So lieben Sie den Mann nicht, dem Sie einst fürs ganze Leben angehören sollen?« meinte sie zögernd.
Da schlug Hildegard Börmer ihre wunderbar ausdrucksvollen Augen voll zu der Jüngeren auf. »Ich liebe ihn über alles«, entgegnete sie fast feierlich. »Und doch …«
Sie schwieg, und große Tränen stahlen sich hinter ihren Lidern hervor, rollten ihr langsam über die Wangen. Eilig wischte sie sie fort, den Kopf ängstlich zur Seite wendend.
Da hatte die kleine Baronesse die arme Frau Hadwig auch schon in ihre Arme genommen und küsste sie mit rührender Herzlichkeit auf den Mund, drückte sie an sich und bat immer wieder:
»Nicht weinen …, nicht weinen, liebste, beste Hildegard …«
Und jetzt, da sie sich endlich einmal nähergekommen waren, sprudelte Isa von Barnbiel auch in einem Atem alles das heraus, was sie schon lange auf dem Herzen hatte.
»Hildegard«, sagte sie innig, »lass uns Freundinnen sein, habe Vertrauen zu mir … Du ahnst ja nicht, wie lange ich schon um deine Freundschaft geworben habe. Die anderen hier, das sind ja alles eingebildete Zierpuppen, aus denen ich mir auch nicht einen Deut mache! Aber du – du hast mir gleich gefallen, als ich vor einem halben Jahr auf Wunsch meines guten Pas in dieses Institut für höhere Bildung eintrat. Du warst so ganz, ganz anders als die übrigen, hieltest dich stets für dich allein und hattest so liebe, traurige Augen. Ja, Hilde, deine Augen haben’s mir angetan … Und auch deine Stimme. So oft hatte ich in Romanen von Frauen gelesen, deren Organ wie Musik sein sollte, weich, einschmeichelnd. Bei dir fand ich es – zum ersten Mal in meinem Leben. Und dann … dich umgab so etwas Geheimnisvolles, das mich lockte. Dein ganzes Wesen, deine Art, wie du dich gabst, zogen mich an. Sieh, Hildegard, das ist keine unreife Mädchenschwärmerei, glaube das nicht. Die Kinderschuhe habe ich mit meinen siebzehn und einhalb Jahren längst ausgetreten. Sympathie war’s, die ich zunächst für dich empfand. Bald wurde es mehr. Ich verehre dich. Aber immer wichst du mir aus … Nun endlich habe ich dich, Hilde, und ich lasse dich nicht mehr von mir, bis du mir versprichst, meine aufrichtige Freundschaft anzunehmen. Sag, bin ich dir denn ebenso gleichgültig wie die Übrigen hier, oder …«
Hildegard Börmer ließ sie nicht ausreden. Mit einem wahren Jubelruf zog sie die kleine Baronesse an sich. Und mit einer Stimme, die Tränen des Glücks beinahe erstickten, fragte sie: »So ist es also Wirklichkeit geworden, was ich schon seit Langem erhoffte! … Ja, Isa, auch ich fühlte mich zu dir hingezogen … Ich war hier ja so einsam, so verlassen … Aus Vorsicht hielt ich mich von den anderen zurück. Gerade ich wollte mich niemandem aufdrängen … Jetzt, jetzt wird es mir sehr, sehr schwer werden, von hier fortzugehen. Und doch, welch beglückender Gedanke für mich, hier wenigstens einen Menschen gefunden zu haben, der gern an mich zurückdenken wird …«
Die beiden jungen Mädchen saßen Hand in Hand auf der schmalem Bank, die im Schatten der Lebensbaumhecke stand, und Frau Hadwig schüttete der eben gewonnenen Freundin ihr übervolles Herz aus.
»Die Geschichte meiner Verlobung, Isa, ist wie ein Roman«, begann sie mit ihrer weichen, lieben Stimme. »Ich bin das einzige Kind meiner Eltern, die seit mehr denn zwanzig Jahren in einem kleinen Dörfchen am Ostseestrande in der Nähe von Kolberg leben, wo mein Vater Volksschullehrer ist. Da meine Mutter seit meiner Geburt kränkelte und durch ihre Pflege die geringen Einkünfte meines Vaters völlig verbraucht wurden, besuchte ich nur die Dorfschule und musste dann, als ich konfirmiert war, mit im Haushalt Hand anlegen. Nebenbei habe ich mich aus Büchern fortzubilden versucht. Aber viel Zeit blieb dazu nicht übrig. So wurde ich neunzehn Jahre, ohne dass ich je weiter als nach Kolberg gelangt war, wo für mich die Welt aufhörte. Und dann kam das große Ereignis, kam der … Märchenprinz, der plötzlich Sonnenschein in mein freudloses Dasein brachte. Hin und wieder hatten wir eines unserer Zimmer an Sommergäste vermietet. Das Mietgeld, mochte es auch noch so gering sein, half manche Arzt- und Apothekerrechnung bezahlen. Eines Tages im Juni erschien bei uns im Dorf ein Herr aus Berlin, der den Sommer über in stiller Zurückgezogenheit leben wollte. Er wohnte erst einige Tage im Gasthause, sah sich inzwischen nach einer passenden Privatunterkunft um, und seine Wahl fiel schließlich auf unser Zimmer, das er gleich bis zum Herbst mit Beschlag belegte. Mein Vater, der den elegant gekleideten Berliner zunächst mit einem gewissen Misstrauen behandelte, lernte dessen offene, heitere Art bald schätzen, und in kurzer Zeit waren sie die besten Freunde. Edgar Bornemann, wie der Fremde sich nannte, war Ingenieur und besaß in dem Villenort Wannsee bei Berlin ein kleines Häuschen, das er allein mit einem Diener bewohnte. Mehr erfuhren wir über ihn nicht, und mehr weiß ich auch heute noch nicht, trotzdem ich seine Braut bin und wohl ein Anrecht darauf besitze, über seine Verhältnisse genau unterrichtet zu sein. Wir verlobten uns, kurz bevor er Ende September wieder nach der Reichshauptstadt zurückkehrte. Mein Glück wäre gewesen, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, dass Edgar vor meinen Eltern und mir irgendetwas verbarg. So sprach er zum Beispiel über seine Familie und die Art seiner Beschäftigung nur das Notwendigste. Seine Eltern wären beide bereits gestorben. Er selbst befände sich in einer auskömmlichen Stellung und besäße auch ein bescheidenes Vermögen. Das war alles. Als er dann abgereist war, zog mein Vater über ihn bei einer Berliner Auskunftei, die mein Bräutigam gelegentlich erwähnt hatte, Erkundigungen ein, die recht günstig lauteten und alles bestätigten, was Edgar uns über seine Person mitgeteilt hatte. Jeden Monat kam mein Verlobter für einige Tage zu uns. Inzwischen hatte er meine Mutter auf seine Kosten nach Stettin in ein Sanatorium geschickt, aus dem sie im Frühjahr völlig geheilt zurückkehrte. Du wirst begreifen, Isa, wie dankbar meine Eltern ihm waren, dass durch seine Güte das Gespenst der Krankheit endlich aus unserem kleinen Heim für immer verbannt war. Als mein Vater ihm dies bei seinem nächsten Besuche mit herzlichen Worten sagte, als auch ich ihn überglücklich immer von Neuem unseren guten Engel nannte, da trat er mit einer Bitte hervor, die zu äußern er bis dahin nicht recht gewagt hatte: Meine Eltern sollten gestatten, dass er mich, bevor wir heirateten, noch auf ein Jahr in ein Pensionat schicke, damit ich später imstande sei, seinem Haushalt würdig vorzustehen. So kam ich hierher, ich, die Tochter des Dorfschullehrers, hierher, wo ich auf Wunsch Frau von Queisners sowohl den Stand meines Vaters als auch meine Verlobung verheimlichen musste. Ich tat es Edgar zuliebe, so sehr sich auch mein Stolz dagegen sträubte, Dinge geheim zu halten, die doch wahrlich jeder wissen durfte. Für mich war eben mein Verlobter maßgebend, der mir in seiner zartfühlenden Art und Weise klar gemacht hatte, warum es für mich besser wäre, wenn ich mich den Bedingungen Frau von Queisners fügte. Nun wirst du begreifen, Isa, weshalb ich mich hütete, auch nur den Anschein zu erwecken, als wolle ich mich einer der Pensionsgefährtinnen aufdrängen. War ich hier die einzige Bürgerliche, noch dazu die Tochter eines einfachen Rentiers, zu dem Frau von Queisner meinem Vater umgemodelt hatte, damit ihr Pensionat nicht herabgewürdigt werde. Schier endlos ist mir dies eine Jahr geworden. Und doch war ich meinem Verlobten auch wieder von Herzen dankbar, dass er mir die Möglichkeit gegeben hatte, die Lücken in meiner Erziehung auszufüllen. Gewiss, in der ersten Zeit hatte ich Edgar flehende Briefe geschrieben, er möge mich wieder fortholen von hier. Stets klangen seine Antworten dann in dem Satze aus: ›Halte Dich tapfer, mein Lieb, der Lohn wird nicht ausbleiben. Du wirst es später einmal besser haben als all die anderen jungen Mädchen, mit denen Du jetzt unter einem Dache lebst. Deiner wartet eine glückliche, sorgenlose Zukunft …‹ So blieb ich denn, obwohl ich mich in Sehnsucht nach meinen alten Eltern und nach dem Geliebten, die ich jetzt ein ganzes Jahr nicht gesehen habe, verzehrte. In der vergangenen Woche erhielt ich dann eine Nachricht, die mir wieder bewies, wie herzensgut Edgar ist. Mein Vater soll sich pensionieren lassen und fortan die Villa in Wannsee bewohnen, die meinem Bräutigam gehört. Und ich selbst soll ebenfalls dorthin kommen, sobald die Meinen nach Berlin übergesiedelt sind, was schon in ein paar Wochen geschehen kann. Dann habe ich ihn wieder bei mir, nach dem ich mich sehne, dem mein Herz entgegenschlägt, und dann muss er mir Antwort geben auf all die Fragen, die ich mir längst zurechtgelegt habe, damit endlich volle Klarheit zwischen uns herrscht. Denn, Isa, ein Geheimnis hat Edgar vor mir. Das ist nicht nur eine bloße Vermutung von mir, nein, dafür sprechen so manche Kleinigkeiten, die mir aufgestoßen sind. Worin dieses Geheimnis besteht, ahne ich nicht. Und diese Ungewissheit ist es, die mich traurig stimmt, die mir die rechte Lebensfreude raubt und bisweilen meine Seele mit düsteren Schreckbildern erfüllt. Wir Kinder des Strandes neigen überhaupt so leicht zum Grübeln. Die See mit ihrem Rauschen stimmt unwillkürlich melancholisch. Und deshalb mag Frau Hadwig die bewusste Angelegenheit tragischer nehmen, als nötig ist …«
Noch lange plauderten die beiden jungen Mädchen, sich zärtlich umschlungen haltend, von ihren kleinen Sorgen, bis die Mittagsglocke sie in das Haus zurückrief. Arm in Arm schritten sie durch den Park, Arm in Arm betraten sie den Speisesaal, wo erstaunte Blicke sie gar nicht genug mustern konnten.