Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang 26

Die Fahrten und Abenteuer des kleinen Jacob Fingerlang
Ein Märchen von Gotthold Kurz
Nürnberg, bei Gottlieb Bäumler 1837

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Jacobs Eintritt in die Unterwelt

Sie hatten einen langen und beschwerlichen Marsch zurückzulegen, bis sie das Gebirge erreichten, das in seinem Inneren die Bevölkerung zweier Reiche barg. Jetzt stiegen sie durch einen langen Schacht hinab. Mit einem Mal öffnete sich die dunkle Schlucht. Jacob stand vor der Pracht, die sich ihm darstellte, wie bezaubert da. Ein Labyrinth von weiten hohen Hallen dehnte sich nach allen Seiten aus, von unzähligen Pfeilern aus spiegelhellem Bergkristall getragen. Hohe Feuergarben von brennendem Naphtha strahlten in den Pfeilern wider, dass es kaum das Auge auszuhalten vermochte, und erfüllten zugleich die Luft mit den lieblichsten Wohlgerüchen. Oben vom Gewölbe herab funkelten in mannigfaltigen seltsamen Gestaltungen die Gebilde des Tropfsteins. Vor ihren Füßen breitete sich ein Teppich von samtweichem grünen Moos aus, mit klaren Bächen bewässert, mit tausendfarbigem, zu Tage liegendem Edelgestein geschmückt, das bei jedem Schritt vor ihnen wie Tautropfen in der Sonne eines heiteren Frühlingsmorgens aufblitzte.

Von einem Pfeiler zum anderen waren die zierlichen Wohngebäude der kleinen Leute aneinander gereiht, ohne Dach und mit offenen Fenstern und Türen, denn hier war weder der Ungestüm der Witterung noch die Bosheit der Menschen zu fürchten. Der ganze Haushalt der Bewohner war unserem Jacob zur Beschauung preisgestellt. Auf dem Schoß glücklicher Eltern scherzten anmutige Kindlein, nicht größer als bei uns die Maikäfer. Dort waren behände Mägde an einem sprudelnden Brunnen beschäftigt und hingen ihre Wäsche an Spinnenfäden auf. Dort kochten wieder andere an Herden von geringerem Umfang als bei uns die Kochbücher sind. Hier hämmerte der Schmied und seine Gesellen an einer Wagenkette, die unsere Jungfrauen als zierliches Eisengeschmeide um den Hals hätten legen können. Der Bäcker lieferte aus einem baierischen Metzen Kornmehl das Brot für ganze Gemeinden. Ein flinker Barbier strich sein Messer und nahm mit unglaublich leichter Hand einem Honoratioren das Bärtlein ab. Ein anderes Männlein hielt Schule und schlug mit einem Blumenstängel den Takt, nach welchem die winzigen ABC-Schützen wie Sperlinge zwitscherten. Auf einem freien Platze führten Jünglinge und Jungfrauen von unvergleichlicher Schönheit unter Gesang und Saitenspiel kunstvolle Reihen Tänze auf. Auf anderen wurde Markt gehalten. Da gab es Kohlstauden, so groß wie unsere Heckenröslein, Brote wie unsere Schokoladenplätzlein, Bratwürste wie die Spannraupen, Fische wie die Motten, Tauben wie die Hummeln, Schöpsenkeulen waren dort nicht größer, als bei uns die Froschkeulen.  So war es überall in mannigfaltiger Abwechslung. Die Leutchen waren übrigens harmlos und guter Dinge, trotz aller Bedrängnis, die ihnen von außen drohte. Dieses und vieles andere Merkwürdige sah Jacob im eiligen Vorübergeben. Denn es galt jetzt vor allem, sich dem König, der dieses Reich beherrschte, vorzustellen, ehe es zu seinem Unternehmen kam, das die beiden Völkerschaften womöglich von ihrem Bedränger auf immer befreien sollte.

Die Halle, in welcher die kleinen Majestäten residierten, war herrlicher als alle, die er bisher auf seinem langen Gang durch dieses wunderbare Reich erblickt hatte. Die sinnigste Kunst hatte sich hier mit der freigebigsten Natur verbunden. Die Wände bestanden aus schimmernden Rosenquarz, die Deckenwölbung aus tiefblauem Lasurstein. Beide waren durch einen reichen Arabeskenkranz aus funkelndem Gold verbunden. Der Fußboden war aufs Zierlichste mit Jaspis und Agat eingelegt. Im Hintergrund erhob sich der königliche Bau aus halbdurchsichtigem weißen Alabaster, mit feinen Treppen, Balustraden, Säulen und Zinnen, alles im reinsten Geschmack. Oben prangte das offene Throngemach des Fürsten. Dessen Estrade war von poliertem Karneol, dessen Säulen von Hyazinth, der Baldachin aber mit mattem Silberstoff drapiert. Der Thron selbst, auf dem die beiden Majestäten saßen, war aus einer einzigen Perle künstlich gearbeitet.

Jacob sah das königliche Paar mitten in dieser Pracht, umgeben von einem glänzenden Gefolge von Hofleuten und Dienern, aber mit umwölktem Antlitz, sitzen. Sorge und Kummer schienen sich ihrer bemächtigt zu haben. Denn ihnen lag das künftige Geschick, das eigene als auch das des befreundeten Volkes, schwer auf der Seele. Überdies waren sie jetzt wieder mehr als je vom Schmerz um den verlorenen Liebling heimgesucht, denn es war eben heute der Vorabend des Jahrestages, an welchem sie ihn einst vor ihren Augen in die weiten Lüfte verschwinden sahen.

Die Ankunft Jacobs mit seinen Gefährten gab freilich ihren Gedanken und Gefühlen auf kurze Zeit eine andere Richtung. Freude und Jubel verbreiteten sich überall, als man hörte, dass die tief betrauerte befreundete Fürstenfamilie mit all ihren Begleitern so glücklich gerettet worden sei. Es wurden sogleich eilfertige Anstalten gemacht, sie sämtlich noch diese Nacht aus dem Schiff abzuholen und in der sicheren gemeinschaftlichen Zufluchtsstätte zu empfangen.

Jacob war eben im Begriff, seine Geschichte zu erzählen und auf die mannigfaltig sich kreuzenden Fragen der Majestäten Antwort zu geben, als Boten angemeldet wurden, welche von den entlegenen Beobachtungsstationen abgesendet worden waren, um über neue wichtige Vorfälle, den Riesen betreffend, zu berichten.

Dem nimmer rastenden Feind, dem schrecklichen Riesen, der bekanntlich das Meer durchwatend auch diese Insel heimgesucht hatte, war es nun wirklich gelungen, die Gelegenheit ihres versteckten Zufluchtsortes zu erspähen, die schwächsten Stellen desselben auszumitteln. Jetzt hatte er beschlossen, die weiten Höhlen von oben einzuschlagen oder wie einen Fuchsbau aufzugraben und der sämtlichen Bevölkerung, den schmählichsten Untergang zu bereiten.

Die versteckten Wachen hatten ihn in einem wunderlichen Selbstgespräch belauscht. Es ging daraus hervor, dass er einem fernen Zauberer seine Riesengestalt verdanke, dass die Kraft des Zaubers sich gegen jeden Angriff verbundener Gegner bewähre und diese dem Unhold nie, weder bei Tag noch bei Nacht, weder mit List noch mit Gewalt etwas anhaben könnte, sondern dass er nur von einem Einzelnen im offenen Kampf zu überwältigen sei. Am nächsten Morgen wollte er sein grausames Werk vollziehen. Er hatte bereits ganze Wälder ausgerissen und verbrannt, um das Gestein an Ort und Stelle mürbe zu machen, wo der Einbruch geschehen sollte.

»Morgen will ich«, so brummte er mit boshaftem Grinsen, »morgen will ich die Füchse aufgraben, ihren Bau einschlagen, ihnen in meinem Helm hier ein heißes Bad bereiten und will es ausgießen in ihre Löcher, bis sie alle verbrühen und ersaufen!«

Durch diese Botschaft wurde die kurze Freude wieder alsbald in lautes Weh verwandelt, das sich in die entferntesten Teile des unterirdischem Reiches verbreitete und aus allen Tiefen widerhallte. Jacob beurlaubte sich während dieser allgemeinen Bestürzung. Er begriff, dass seine Zeit gekommen war und ihm kein längerer Aufschub seines Unternehmens verstattet sei. Nur den früheren Begleitern und dem eben erwähnten Boten, gestattete er, mit ihm zu seinem Schiff zurückzukehren. Von diesem aus sah er noch der Landung der teuren Prinzessin und ihrer Angehörigen sowie ihrem Zug bei Fackelschein aus der Ferne zu. Dann zog er sich mit den Gefährten zurück, unterrichtete sie von seinem Vorhaben und vollendete in Gemeinschaft mit ihnen die Anstalten zum großen Werk.

Er legte sich sodann für eine kurze Weile nieder, um sich für die Arbeit des folgenden Tages zu stärken, die entscheiden sollte über Tod und Leben, über das Los der Geliebten, über das Schicksal zweier mächtiger und blühender Völkerschaften, nun und für immer.