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Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt – Folge 1

Im 19. Jahrhundert war es ein lebensgefährliches Wagnis, ins »gelobte Land« Amerika auszuwandern. Der Bürgerkrieg tobte, und der Westen war noch wild und ungezähmt, bevölkert mit Indianern, Glücksrittern und skrupellosen Banditen, die in allen »Greenhorns« leichte Beute sahen.
Ein solches Greenhorn ist der Auswanderer Jacob Adler, der im Jahre 1863 in New York anlandet. Unschuldig des Mordes angeklagt, musste er aus Deutschland fliehen. Dem menschenfressenden Moloch New York knapp entkommen, macht er sich auf den Weg zur Westküste – hinein in ein Abenteuer, das seinesgleichen sucht!

J. G. Kastner
Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Folge 1
Flucht in die Neue Welt

Abenteuer, Heftroman, Bastei Verlag, Köln, 66 Seiten, 1,90 €, Neuauflage vom 26. 06. 2018
www.bastei.de

Kurzinhalt:
Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben in Hunger und Epidemien. In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort für Hoffnung und Sehnsucht – ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss.
Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob Adler, wie es kaum ein Zweiter je erlebt hat …

Leseprobe:

Kapitel 1

Fremde Heimat

Das Knarren der hölzernen Planken, das Plätschern des Wassers, das Knattern der Segel im Wind und die leisen Stimmen von Menschen, die irgendwo auf Deck standen und sich über ihre Schlaflosigkeit und die Enge ihres Quartiers unterhielten, bildeten eine eintönige Kulisse, die den blinden Passagier eigentlich hätte sanft in den Schlaf wiegen sollen. Aber er war zu aufgeregt, hielt es kaum aus in seinem engen, stark nach Teer riechenden Versteck und durfte es doch auf keinen Fall verlassen. Das Schiff war noch nicht weit genug auf See. Vielleicht würde der Kapitän umkehren und den steckbrieflich Gesuchten der Polizei übergeben. Er kauerte sich unter der Wolldecke zusammen, die ihn nur unzureichend gegen die Nachtkälte schützte, und seine Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem sein Unglück begonnen hatte …

*

Der hochgewachsene Jüngling blieb auf der Kuppe des bewaldeten Hügels stehen und schaute hinab in das Flusstal, das sich in malerischem Frieden unter ihm ausbreitete. Tief sog er die würzige, frische, noch nach dem gerade erst geschmolzenen Schnee riechende Luft in seine Lungen und genoss in aller Ruhe den Anblick seiner Heimatstadt Elbstedt, den er für ein langes Jahr vermisst hatte.

Er hatte viele neue Orte und Dinge gesehen und viele neue Menschen kennengelernt, die seinen wissbegierigen Geist beschäftigt hatten, und doch war kein Abend vergangen, an dem er nicht sehnsüchtig an seine Heimat gedacht hatte. Nicht weil er sich in der Fremde nicht wohlgefühlt hätte, sondern weil hier die Menschen lebten, die er liebte: seine Eltern, seine Geschwister und Louisa. Der Gedanke an diese Menschen trieb ihn voran, ließ ihn kräftig ausschreiten, den matschigen Weg hinab ins Tal mit Riesenschritten hinter sich lassend.

Und doch, je näher er den ersten Häusern kam, desto seltsamer fühlte er sich. Eine bislang nicht gekannte Beklemmung griff nach seiner Brust und schnürte ihm fast den Atem ab.

Vielleicht war es nur das ihn aufwühlende Gefühl, nach so langer Zeit seine Lieben wiederzusehen, versuchte sich Jacob zu beruhigen. Immerhin war er ein Jahr und drei Monate fort gewesen, ein Handwerksbursche auf Wanderschaft.

Insgesamt waren es drei Jahre, die er in der Fremde verbringen musste. Nur dem Umstand, dass König Wilhelm und sein unentbehrlicher Ministerpräsident Bismarck stets wissen wollten, wo sich Preußens Bürger aufhielten, verdankte er das Wiedersehen mit Elbstedt. Wie alle preußischen Handwerksburschen auf der Walz, unterlag auch er der Pflicht, sich einmal im Jahr bei dem Polizeiposten im Heimatort zu melden. Zweimal hatte er diese Meldung bisher durchgeführt, und jedes Mal war seine Heimkehr zu Weihnachten ein großes Fest für die Familie geworden.

Diesmal, im letzten Jahr seiner Wanderschaft, hatte er länger gebraucht, weil er sein Gesellenstück fertigbringen wollte, bevor er seinem Vater wieder unter die Augen trat. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, mit der Befähigung zum Zimmermannsmeister zurückzukehren, um seinem Vater fortan eine brauchbare rechte Hand zu sein, und dieses Ziel hatte er erreicht. Bald schon, so hoffte er, würde er seinen Meisterbrief in der Tasche haben.

Jacobs unruhiges Gefühl verstärkte sich noch, als er an Friedrich Kormanns Gehöft vorbeikam, einem der wenigen kleinen Bauernhöfe, die sich im Tal hatten halten können. Er kannte die Kormanns gut, seit er zusammen mit deren jüngstem Sohn Otto zur Schule gegangen war. Stets hatte er mit den Leuten ein freundliches Wort gewechselt. Aber an diesem Märznachmittag, dessen zaghaft wärmende Sonnenstrahlen der alte Kormann ausnutzte, um ein paar Reparaturen an den Fensterläden durchzuführen, erwiderte er Jacobs herzlichen Gruß nur einsilbig und verschwand dann merkwürdig schnell in einem Schuppen.

Jacob verharrte kurz vor dem Tor zu Kormanns Anwesen und überlegte, was für eine Laus dem grauhaarigen Bauern über den Weg gelaufen sein mochte. Aber als Kormann nach zwei, drei Minuten nicht wieder aus dem Schuppen hervorkam, setzte er seinen Weg fort.

Je weiter er in die engen Straßen und Gassen seines kleinen Heimatstädtchens eindrang, desto mehr fragte er sich, ob die gesamte Bevölkerung am Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Niemand schien sich darüber zu freuen, dass der junge Zimmermannsbursche heimgekehrt war. Alle Gesichter befiel bei seinem Anblick stumme Verwunderung, und schnell zogen sich die Leute zurück. Täuschte er sich, oder las er sogar Angst in den Mienen der Menschen?

Das beklemmende Gefühl in seinem Brustkasten wuchs, und Jacob beschleunigte seine Schritte auf dem Weg zum Flussufer, um diese unerklärliche Unruhe durch das Wiedersehen mit den Seinen zu besänftigen. Er hatte frühzeitig geschrieben, wann er nach Hause kommen würde, und hoffte, die ganze Familie anzutreffen.

Noch hatte der Frühling den Winter nicht ganz vertrieben, sodass sein Vater als Zimmermann erfahrungsgemäß noch nicht viele Aufträge haben konnte. In Frühjahr, Sommer und Herbst zog er mit seiner Kolonne übers Land, manchmal bis über Preußens Grenzen hinaus, aber der Winter war die Jahreszeit der Ruhe, in der Haus und Werkzeuge in Ordnung gebracht wurden.

Das Haus in der Uferstraße, in dem die Adlers schon seit Generationen lebten – Jacobs Urgroßvater, auch Zimmermann, hatte es eigenhändig gebaut lag dicht bei der Elbe, von dem mächtigen Fluss nur durch Arnings Brauerei getrennt. Jacob lief beinah, sobald er die Uferstraße erreichte – und blieb abrupt stehen, als er um die letzte Ecke bog.

Von dem, was er vor sich sah, und noch mehr von dem, was er nicht sah, war er so betroffen, dass ihn fast ein großer, zweispänniger Wagen überrollt hätte, der leere Fässer zur Brauerei brachte. Erst der heiße Atem der Pferde in seinem Nacken machte ihm bewusst, dass die lauten Rufe, die wie von weiter Ferne oder durch den dämpfenden Schleier eines dichten Nebels zu ihm drangen, ganz nah hinter ihm von dem Kutscher ausgestoßen wurden und ihm galten.

Im letzten Moment machte Jacob einen rettenden Satz zur Seite. Der Wagen ratterte über das grobe Pflaster an ihm vorbei, und der schnauzbärtige Fahrer bedachte ihn mit einem Schwall unflätiger Flüche, mit denen er sonst wohl nur seine unwilligen Zugtiere antrieb.

Aber das störte Jacob nicht. Er nahm es kaum wahr. Er hatte nur Augen für den Platz, an dem bei seinem letzten Besuch noch sein Elternhaus gestanden hatte. Jetzt war es verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Stattdessen stand dort ein gewaltiges Lagerhaus, über dessen breitem Tor ein Werbeschild der Brauerei angebracht war: ein pausbäckiger, sichtlich zufriedener Mann mit einem großen Bierhumpen vor sich, daneben der Spruch ›Trink Arnings Bier, und wohl sei dir‹.

Jacob zwinkerte mit den Augen, aber es nützte nichts. Das Bild des Lagerhauses blieb. Er sah sich sogar suchend um, ob er sich in der richtigen Straße befand, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, in nur einem Jahr die Orientierung in seiner Heimatstadt verloren zu haben. Doch es gab keinen Zweifel: Das Haus seines Vaters, des Zimmermanns Heinrich Adler, war einem klobigen, hässlichen Lagerhaus gewichen.

Der junge, breitschultrige Mann mit der dunklen Schirmmütze und der großen Ledertasche, in der er seine gesamten Habseligkeiten aufbewahrte, fühlte sich wie frühmorgens, wenn man aus dem schönsten Schlaf gerissen wurde und erst nicht recht wusste, wo man sich überhaupt befand, noch beim alten Lehrherrn oder schon unterwegs zu einem neuen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie ein rauschender Wasserfall.

Wenn das Elternhaus nicht mehr da war, wo wohnte jetzt seine Familie? Warum war sie nicht mehr hier? Und weshalb hatte man ihm nicht Bescheid gegeben? Er schrieb doch immer nach Hause, wo er sich gerade aufhielt und wohin er demnächst ziehen würde.

Und wenn etwas Schlimmes geschehen war, hätten ihn dann nicht die Behörden benachrichtigen müssen? Schließlich musste er die Polizei in Elbstedt über seinen jeweiligen Standort unterrichten. Das gehörte ebenso zu seinen Pflichten wie die jährliche Rückmeldung und das Führen des Wanderbuches, das er stets auf dem Laufenden zu halten hatte.

Als er seine Gedanken einigermaßen geordnet hatte, beschloss er, das Nächstliegende zu tun, und sich einfach bei der Brauerei zu erkundigen, weshalb der Bierkönig, wie Conrad Arning respektvoll genannt wurde, auf dem Grundstück seines Vaters ein Lagerhaus errichtet hatte. Er hatte erst ein paar zögernde Schritte in Richtung des Brauereigeländes gemacht, als er eine Stimme in seinem Rücken leise seinen Namen rufen hörte.

»Jacob! Bist du es, Jacob Adler?«

Der junge Zimmermann drehte sich überrascht um und sah in das faltige Gesicht des Schusters Alfred Eckermann, dessen schmales Haus dem Grundstück der Adlers schräg gegenüberlag. Der alte Eckermann hatte seine abgewetzte Lederschürze umgebunden und hielt einen klobigen Stiefel ohne Absatz in der Hand. So stand er in der offenen Tür seiner im Erdgeschoss gelegenen Werkstatt, von Jacobs Erscheinen offensichtlich mitten in der Arbeit gestört.

»Herr Eckermann«, begann der Heimkehrer, hoch erfreut, dass endlich jemand mit ihm sprechen wollte. »Was ist hier geschehen? Das Haus! Wo ist meine Familie?«

»Ich will dir deine Fragen gern beantworten«, sagte Eckermann seltsam leise. »Aber nicht hier draußen. Komm herein, Junge!«

»Ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe«, erwiderte Jacob zögernd. »Ich möchte rasch zu meiner Familie. Können Sie mir nicht hier draußen sagen, was los ist, Meister Eckermann?«

»Nein!«, stieß der Schuster mit einem schlangenartigen Zischen hervor, damit die Schärfe seines Tons nicht zu sehr auffiel. »Komm schon rein!«

Mit dieser keinen Widerspruch duldenden Aufforderung zog er sich schnell in seine Werkstatt zurück. Jacob zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Je eher er das tat, desto eher würde er Antworten auf seine Fragen erhalten.

Er musste sich bücken, um durch die kleine Türöffnung die dick nach Leder, Leim und Öl riechende Schusterwerkstatt zu betreten. Durch die kleinen Butzenscheiben fiel nur unzureichend Licht, und es war ziemlich düster zwischen Tischen und Werkbänken, die mit Schuhen, Materialen und Werkzeugen voll standen. Ganz wie früher, kam es Jacob in den Sinn. Meister Eckermann war schon immer ein sparsamer Mann gewesen, der kein künstliches Licht entfachte, wenn es nicht unumgänglich war.

Aber sie blieben nicht hier. Eckermann schloss die Tür ab und hängte das von der Sonne gebräunte und ausgebleichte ›Geschlossen‹-Schild vor die Scheibe, die im oberen Türdrittel eingelassen war. Dann stiegen sie die schmale Treppe hinauf, die in das den gesamten ersten Stock ausfüllende Zimmer führte, das zugleich Wohnküche und Arbeitszimmer für Eckermanns Frau war. Sie saß vornübergebeugt an einem großen Tisch vor dem Fenster und führte Näharbeiten aus. Teils für die von ihrem Mann hergestellten Schuhe, teils an Kleidern, die sie im Auftrag fremder Leute erweiterte oder enger machte.

Nein, nichts schien sich verändert zu haben – bis auf das Fehlen von Jacobs Elternhaus und das abweisende Schweigen der Leute in Elbstedt.

Auch Frau Eckermann warf ihm diesen erschrockenen Blick zu, als er in die schlecht beheizte Stube trat. Aber als er genauer hinsah, lag noch etwas anderes in ihren Augen. Mitleid?

»Heinrichs Sohn ist zurück«, sagte Meister Eckermann unnötigerweise und ließ sich in dem alten Schaukelstuhl nieder, der genauso zu dem Schuster zu gehören schien wie seine Lederschürze. Umständlich stopfte der Mann sich eine alte, halb verkohlte Pfeife mit einem übel riechenden Kraut, was in Jacobs Augen nur geschah, um die unangenehme Mitteilung, die Eckermann ihm zu machen hatte, hinauszuzögern.

Jacob stand immer noch vor der Tür, seine Ledertasche in der Hand. Erst auf Geheiß der Frau, die sich am Herd zu schaffen machte, nahm er auf einem der Holzstühle Platz, die so schmal waren wie alles in diesem Haus.

»Deine Familie wohnt nicht mehr hier«, begann der Schuster schließlich, als seine Pfeife brannte und er nichts mehr finden konnte, um das Gespräch hinauszuzögern.

»Was heißt das?«, fragte Jacob. »Wo sind meine Eltern und meine Geschwister?«

In Eckermanns Gesicht zuckte es. »Weg.«

Jacob schüttelte den Kopf. »Warum nur habe ich das Gefühl, dass die ganze Stadt mir etwas verheimlichen will?«

»Weil niemand etwas Genaues weiß, Junge. Es ging alles sehr schnell. Als der Gendarm das Haus geräumt hatte, waren dein Vater und deine Geschwister bald darauf verschwunden. Sie wollten wohl nach Hamburg und von dort weiter. Niemand weiß, wohin. Man munkelt, sie sind nach Amerika gegangen.«

»Nach Amerika?«

»Vielleicht stimmt es, vielleicht auch nicht. Jedenfalls haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Kurz danach wurde das Haus abgerissen, und der Bierkönig hat dort sein neues Lager gebaut, das er schon lange geplant hatte. Es ging alles sehr rasch vonstatten.«

»Aber wieso hat Vater das erlaubt?«

»Er konnte es nicht verhindern. Conrad Arning besaß Schuldscheine in großer Höhe von deinem Vater. Als Heinrich die Schulden nicht begleichen konnte, hat der Bierkönig das Haus pfänden lassen.«

Immer wieder schüttelte Jacob fassungslos den Kopf. Sein Vater und Schulden? Er konnte es einfach nicht fassen und sagte das auch dem Schuster. »Ich habe nie etwas davon gehört, dass mein Vater in Geldschwierigkeiten gewesen ist.«

»Du warst lange weg, Junge. Da tut sich so einiges. Die Zeiten sind nicht mehr so gut wie noch vor ein paar Jahren. Ich musste kürzlich Thomas, meinen Gesellen, entlassen, weil ich nicht mehr genug Arbeit hatte, um seinen Lohn zu bezahlen. Auch das Geschäft deines Vaters lief nicht mehr so wie damals, als du auf Wanderschaft gegangen bist. Vielleicht hat er es dir verschwiegen, um dich nicht zu beunruhigen. Dann passierte auch noch diese dumme Geschichte mit der Kirche drüben in Langholz.«

Jacob hob seine Schultern an, und ließ sie wieder fallen. »Von einer dummen Geschichte weiß ich nichts. Beim letzten Weihnachtsfest war Vater ganz stolz, in diesem Jahr die Langhölzer Kirche bauen zu dürfen.«

»Das hat er auch getan, aber beim Einweihungsgottesdienst geschah das große Unglück. Der Dachstuhl stürzte ein und begrub viele Menschen unter sich. Die Kirche war wegen des besonderen Ereignisses mit Menschen vollgestopft gewesen. Etliche wurden verletzt, und fünf Menschen starben.«

Schweigen beherrschte das Zimmer, nur unterbrochen vom Pfeifen des Wasserkessels auf dem Herd und von den gedämpften Geräuschen, die der Wind vom Fluss herübertrug, wo ein Lastkahn angelegt hatte und nun mit Bierfässern beladen wurde.

Jacob benötigte Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, aber dennoch erschien es ihm unwirklich. Wie eine dieser Geschichten, die sie sich während der Wanderschaft vor dem Einschlafen erzählt hatten, um sich die Zeit zu vertreiben.

»Fünf Menschen tot?«, fragte er, als hätte er sich verhört. »Davon … davon hat Vater nichts geschrieben. Warum nur nicht?«

Meister Eckermann überlegte eine Weile, bevor er antwortete: »Mag sein, er hat sich geschämt.«

Das mochte tatsächlich sein, dachte Jacob. Sein Vater war immer ein stolzer Mann gewesen. Einen Fehler zuzugeben, war ihm fremd. Und er war auch selten in der Verlegenheit gewesen, denn in seinem Beruf machte er keine Fehler.

»Ich kann das alles nicht glauben, Meister Eckermann. Sie kennen meinen Vater länger als ich. Was er anpackt, hat Hand und Fuß. Dass ihm eine ganze Kirche eingestürzt sein soll …«

»Ich habe es auch nicht geglaubt, Junge. Aber die Tatsachen waren eindeutig. Natürlich gab es eine amtliche Untersuchung. Alle aus der Zimmermannskolonne haben ausgesagt, dass Heinrich so sorgfältig wie immer gearbeitet hat. Auch seine Baupläne wiesen keine Fehler auf. Deshalb ist er an einem Strafprozess noch einmal gerade so vorbeigekommen. Aber die Langhölzer konnte das nicht besänftigen, und sie verlangten Wiedergutmachung von ihm. Er hat sich als Ehrenmann erwiesen und es nicht auf eine Gerichtsverhandlung ankommen lassen. Stattdessen hat er sich gegenüber jedem Geschädigten schriftlich verpflichtet, für das Erlittene aufzukommen.«

»Und diese Schuldscheine hat Arning aufgekauft«, schlussfolgerte Jacob mehr, als dass er es fragte.

Eckermann nickte traurig. »Ja, so ist es.«

Die Frau des Schusters stellte große Keramikbecher auf den Tisch und füllte sie mit dampfendem Kaffee. Anschließend brachte sie ein Kännchen Milch, ein Schälchen Zucker, eine große Schale mit Zwieback und einen Topf selbst gemachter Pflaumenmarmelade, bevor sie sich zu den Männern setzte.

Jacob trank etwas von dem Kaffee, um sich aufzuwärmen. Doch er aß nichts, obwohl ein langer Tag und viele Meilen hinter ihm lagen. Was er in den letzten Minuten erfahren hatte, verdrängte jedes Hungergefühl.

»Wenn du willst, kannst du vorläufig bei uns wohnen, Junge«, durchbrach Eckermann das drückende Schweigen. »Du kannst in der Stube vom Thomas schlafen, unten neben der Werkstatt. Für einen Silbergroschen pro Nacht. Für noch einen Groschen kannst du morgens und abends mit uns essen.«

Jacob antwortete nicht, denn etwas ging ihm im Kopf herum. Etwas, das der Schuster vorhin gesagt hatte.

»Sie sprachen davon, mein Vater und meine Geschwister seien von Elbstedt weggegangen, Meister Eckermann. Was ist mit meiner Mutter?«

Der Schuster zögerte und wechselte unheilvolle Blicke mit seiner Frau, bevor er schleppend sagte: »Deine Mutter, Jacob, die ist nicht mitgegangen.«

»Ja, wo ist sie denn?«

Weil ihr Mann es nicht fertigbrachte, antwortete die Frau des Schusters: »Auf dem Friedhof, Jacob.«

Der junge Zimmermann sah in die mitleidig blickenden Züge der verhärmten Frau, bis sie hinter einem Vorhang aus Tränen verschwammen.

Jacob fühlte sich in einem Albtraum gefangen. Das alles konnte nicht wahr sein. So vieles auf einmal, und von nichts hatte er gewusst. Seine Mutter und seine Schwester Marthe hatten ihm regelmäßig geschrieben und ihm das Neueste aus der Familie und aus Elbstedt berichtet. Aber kein Wort von diesen schrecklichen Dingen war zu ihm gedrungen.

Kein Wort!

Als Jacob ruckartig aufsprang, stürzte der Stuhl um, auf dem er gesessen hatte. Er achtete nicht darauf und auch nicht darauf, dass er seine Tasche im Zimmer stehen ließ, als er die Treppe hinunterlief, die Werkstatt durcheilte, den von innen steckenden Schlüssel umdrehte und hinaus auf die Straße lief. Hier erst blieb er stehen, wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und atmete die frische Luft ein. Er fühlte sich, als sei er gerade der Hölle entronnen, die ihn mit tausendfachen Qualen zu peinigen versucht hatte.

Da rief der Teufel, in der Gestalt des Schusters, nach ihm. Jacob hörte nicht auf ihn, wollte nichts mehr hören. Er rannte einfach weg, egal wohin, durch die Straßen seiner Kindheit und Jugend, die ihm auf einmal seltsam fremd erschienen.

Quelle:

  • J. G. Kastner: Amerika – Abenteuer in der Neuen Welt. Band 1. Bastei Verlag. Köln. 26.06.2018