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John Sinclair Classics Band 16

Jason Dark (Helmut Rellergerd)
John Sinclair Classics
Band 16
Das Höllenheer

Grusel, Heftroman, Bastei, Köln, 10.04.2018, 66 Seiten, 1,80 Euro, Titelbild: Ballestar
Dieser Roman erschien erstmals am 25.03.1975 als Gespenster-Krimi Band 80.

Kurzinhalt:
Die Göttin Kalhori plant eine Herrschaft des Schre­ckens über die Menschen und schickt ihre Schergen aus, um ihre Rückkehr auf die Erde vorzuberei­ten. Ihre Gefolgsleute sind gesichtslose Wesen in Mönchskutten, die gnadenlos alles töten, was sich ihnen in den Weg stellt.

John Sinclair will die grausamen Pläne der Göttin durchkreuzen, doch dazu muss er zusammen mit seinem neuen Mitstreiter Mandra Korab ins Reich der Dämonen eindringen!

Leseprobe

Irgendwann in der Nacht kam Mary-Lou Nikuta nach Hause.

Sie schloss die Tür des kleinen Ein­familienhauses auf und streifte zuerst die Schuhe von den Füßen. Durch den dunklen Wohnraum ging sie zu der kleinen Treppe, die in das Obergeschoss führte.

Ihre rechte Hand umfasste das Ge­länder – und …

Mary-Lous Herz machte einen Sprung.

Zwischen ihren Fingern klebte eine glitschige Flüssigkeit.

Die Frau schluckte. Ekel überfiel sie. Sie wandte sich um und hastete zum Lichtschalter, drückte ihn herunter …

Der sternförmige Leuchter an der Decke flammte auf.

Mary-Lou starrte auf ihre Hand. Sie war blutverschmiert!

Wie lange Mary-Lou unbeweglich auf einem Fleck gestanden hatte, wusste sie nicht.

Erst später überfiel sie das Grauen.

Ihr Schrei gellte durch das verlas­sene Haus und endete in einem leisen Wimmern.

Wie magnetisch wurde ihr Blick von dem blutigen Geländer angezogen.

Das Blut zog sich wie ein dunkelroter Film über den gesamten Handlauf, bis zu dem ersten Knick, der den Beginn eines Ganges anzeigte.

»Ich – ich kann nicht mehr!«, stöhnte die Frau und schlug beide Hände vor das Gesicht.

Die blutige, rechte Handfläche schmierte über ihre Haut. Mary-Lou spürte die klebrige Flüssigkeit und riss die Hände angewidert zurück.

Schluchzend sank sie zusammen. Sie fiel auf den mit dicken Teppichen belegten Boden und vergrub ihr Gesicht in den angewinkelten Armen.

Sie hatte es geahnt! Der grässliche Fluch der Kalhori war Wirklichkeit geworden. Erst hatte sie es nicht wahr­haben wollen, aber jetzt…

Mary-Lou Nikuta hatte sich zum Spaß dieser Sekte angeschlossen. Einer Sekte, die eine schreckliche Dämonen­göttin aus dem fernen Tibet verehrte.

Mary-Lou hatte eigentlich nur vor­gehabt, etwas Außergewöhnliches zu erleben. Ihr ganzes Dasein war nach dem Tod ihres Mannes sinnlos gewor­den. Langeweile kroch in ihr Leben. Dann war sie durch Zufall auf die Sekte gestoßen. Jetzt hatte sie wieder eine Aufgabe gehabt. Sie war eingeweiht worden in geheimnisvolle fernöstliche Rituale, hatte sich mit den Lehren der Dämonengöttin Kalhori befasst und war schließlich zu einer Dienerin der Göttin geworden.

Doch dann verlangte man von ihr das erste Opfer.

Sie sollte einen Menschen töten.

Ein junges Mädchen!

Mary-Lou Nikuta hatte abgelehnt.

Und ihr war bewusst gewesen, dass dies einem Todesurteil gleichkam. Denn die Rache der Göttin war grauenhaft.

Zwei Wochen waren seitdem ver­gangen. Wochen, in denen sich nichts ereignet hatte.

Bis zu der heutigen Nacht.

Langsam hob die Frau den Kopf. Noch immer stierte sie aus weit geöff­neten Augen auf das blutverschmierte Treppengeländer, und ihr wurde über­deutlich bewusst, dass sie Kalhoris Rache nicht entgehen konnte.

Plötzlich hörte sie Schritte!

Mary-Lou erstarrte.

Die Schritte kamen aus dem Oberge­schoss, näherten sich mit einer nahezu brutalen Gleichmäßigkeit.

Mary-Lous Herz pochte rasend.

Wollte man sie jetzt holen? War die Stunde der Vergeltung gekommen?

Die Schritte verstummten.

Mary-Lous Atem ging keuchend. Hatte sie sich das alles nur eingebil­det? Spielten die überreizten Nerven ihr einen Streich?

Nein, das blutbesudelte Geländer blieb!

Mary-Lous Blicke wanderten höher, tasteten jede einzelne Stufe ab. Und dann sah sie den Mann!

Groß, drohend und unheimlich stand er vor der letzten Stufe. Das Licht reichte gerade aus, um alles genau er­kennen zu können.

Der Mann war ein Mönch! Ein Die­ner Kalhoris.

Er trug eine gelbe Kutte und hatte die Arme in die weiten Aufschläge seiner Ärmel geschoben. Der Mönch trug eine schreckliche Maske, die das Aussehen eines Vogels hatte. Über dem langen Schnabel wuchsen zwei riesige Augen, in denen rote Kreise flirrten. Der Mund war eine kleine, ovale Öff­nung. In unregelmäßigen Abständen quollen heiße Schwaden daraus hervor.

Dieser Mönch war eine Kreatur der Hölle!

Der Unheimliche begann zu spre­chen. In einer fremden, uralten Spra­che, die Mary-Lou Nikuta nie zuvor ge­hört hatte und doch plötzlich verstand.

»Du hast der Göttin den Gehorsam verweigert. Und deshalb wird Kalhori dich in ihr finsteres Reich nehmen. Du wirst sterben und doch nicht sterben. Die Qualen des Dämonenreichs wer­den dir zuteilwerden, und du wirst es bereuen, eine Abtrünnige geworden zu sein!«

Der Mönch setzte sich in Bewegung. Langsam nahm er die Stufen. Wie ein programmierter Roboter. Jedenfalls kannte er nur ein Ziel: der Göttin zu dienen.

Mary-Lou Nikuta schüttelte den Kopf. Ihr dunkles Haar wirbelte hin und her. Sie hatte beide Handflächen auf den Boden gestützt und konnte das Unheimliche nicht begreifen.

Dicht vor der Frau blieb der Mönch stehen.

Seine Hände glitten aus den weiten Ärmeln. Schwarze, verkohlte Haut kam zum Vorschein. Seine Hände sahen aus, als wären sie verbrannt worden. Die Finger waren lang und extrem kräftig, regelrechte Mordwerkzeuge.

Mary-Lou Nikuta sah nur diese Fin­ger. Sie spürte sie schon um ihren Hals und hatte plötzlich das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»Steh auf!«, befahl der Mönch.

Die Frau gehorchte.

Sie bebte an allen Gliedern, lehnte mit dem Rücken gegen die Tür und dachte doch nicht einen Moment an Flucht.

Die rechte Hand des Mönchs ver­schwand unter seiner gelben Kutte. Als sie wieder hervorkam, hielten die Mörderfinger einen spitzen Stab um­klammert.

Der Stab war durchsichtig und fun­kelte im Lampenlicht in unzähligen Farben.

»Es ist der Stab der Rache«, sagte der Mönch. »Er ist Jahrtausende alt und von der Göttin selbst erschaffen worden. Durch diesen Stab wirst du als Mensch die Hölle der Dämonen kennen lernen, wirst in einem ewigen Feuer dahinsiechen.«

Der Mönch hob den Arm.

Jetzt endlich erwachte Mary-Lou aus ihrer Erstarrung.

»Nein!«, flüsterte sie. »Ich will nicht sterben. Bitte, lass mich leben! Ich werde alles tun, ich werde alles …«

»Zu spät, Abtrünnige!«

Der Stab glitzerte vor Mary-Lous Augen. Sie sah die Spitze, scharf wie ein Diamant.

Mit einer verzweifelten Bewegung warf Mary-Lou Nikuta sich vor, prallte mit einem letzten Aufbäumen gegen die Gestalt des Unheimlichen.

Der Mönch wurde von dem plötz­lichen Angriff überrascht. Er wich automatisch zurück.

Dadurch bekam die Frau seine Maske zu fassen.

Mit einem Ruck riss sie sie ab!

Das Entsetzen sprang sie an wie ein Tier.

Der Mönch hatte kein Gesicht!

Eine blaugraue schwammige Flä­che bot sich den Augen der Frau. Und plötzlich begann die Fläche zu strah­len, wurde immer heller und schien mit einem leisen Knall zu zerplatzen.

Aber das sah Mary-Lou bereits nicht mehr. Bewusstlos lag sie am Boden.

Ihre Nerven hatten nicht mehr mitgespielt.

Der Mönch beugte sich über die leblose Frau. Dann stieß er mit dem gläsernen Dolch zu.

Die Göttin Kalhori hatte ihre Rache vollendet.

 

 

Schneeflocken tanzten wie kleine, glit­zernde Punkte durch die Luft.

Es war kalt, und dazu fegte noch ein schneidender Februarwind über London. Wer in dieser Nacht nicht unbedingt hinaus musste, blieb in der Wohnung.

Anders die beiden Männer.

Sie standen in einer Einfahrt, eini­germaßen geschützt vor dem kalten Wind. Sie trugen dicke, fellgefütterte Wintermäntel und hatten die Kragen hochgeschlagen.

»Wenn wir uns hier umsonst die Füße anfrieren, kündige ich dir die Freund­schaft«, sagte der große, blondhaarige Mann und unterdrückte gewaltsam ein Niesen.

Sein Begleiter schüttelte den Kopf. »Sei doch nicht so verdammt ungedul­dig. Wenn ich sage, dort drüben ist es, dann stimmt das. Mein Informant ist zuverlässig.«

»Wie heißt noch das Sprichwort? Irren ist menschlich.«

»Bei dir vielleicht.«

»Da hast du sogar recht, mein lieber Bill«, erwiderte John Sinclair. »Ich ma­che den Fehler nicht noch einmal und suche mir dich doch als Freund aus.«

John Sinclair und Bill Conolly be­obachteten das Haus schon über zwei Stunden. Bill hatte gehört, dass sich dort eine Sekte versammeln sollte, die irgendeinen Dämon oder den Teufel an­betete. Und John Sinclair interessierte sich immer für solche Dinge.

John Sinclair war Inspektor bei Scotland Yard. Er war praktisch die Ein-Mann-Feuerwehr dieser Organi­sation und wurde nur dort eingesetzt, wo normale kriminalistische Mittel versagten. Immer wenn etwas Über­sinnliches im Spiel war, trat John Sinc­lair in Aktion. Er hatte in seiner kurzen Laufbahn schon die haarsträubendsten Abenteuer erlebt, die ein normal den­kender Mensch kaum begreifen konnte. Dabei war John Sinclair oft nur knapp mit dem Leben davongekommen, und es war immer eine Frage, ob er auch den nächsten Fall überstehen würde, denn wer sich mit der Welt der Geister und Dämonen anlegt, bleibt meistens der zweite Sieger.

John Sinclair war groß, sportlich durchtrainiert und hatte blondes, kurz geschnittenes Haar. Seine Augen blickten meist etwas spöttisch, und um seine Mundwinkel lag immer ein jungenhaftes Lächeln.

Sein Freund Bill Conolly, mit dem er in dieser zugigen Toreinfahrt stand, war Reporter von Beruf. Er arbeitete nach seiner Heirat als freier Mitarbeiter bei allen großen Magazinen der Welt, und was John Sinclair als Beruf hatte, war bei ihm Hobby. Sehr zum Leid­wesen seiner jungen, außerordentlich hübschen Frau Sheila, die auch schon in manches Abenteuer mit hineingezo­gen worden war.

Das Haus, das die beiden Männer beobachteten, lag ln einer schmalen Straße im Londoner Stadtteil Soho. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

Die Häuser waren schmal und uralt. Die Fassaden waren zum Teil abgeblät­tert, sodass das Mauerwerk durchkam.

In der Nähe des Hauses, das sie be­obachteten, brannte eine alte Laterne, deren Schein jedoch noch nicht einmal den Boden erreichte.

Bis jetzt war noch niemand in das Haus gegangen. Nur einmal war ein Betrunkener daran vorbeigeschlichen.

Noch eine halbe Stunde bis Mitter­nacht.

Personen

  • Mary-Lou Nikuta
  • John Sinclair, Inspektor bei Scotland Yard
  • Bill Conolly, Reporter
  • Gordon Fleisher, Kuttenträger
  • Paddy, Betrunkener
  • Polizeiarzt
  • Polizeibeamter
  • Nachtportier
  • Sir James Powell, Superintendent
  • Professor Bannister
  • Mandra Korab
  • junges Mädchen
  • Mönche
  • Hoang Tu, Mongole
  • Dalai Lama

Orte

  • London
  • Dehli
  • Zhigatse

Quellen:

  • Jason Dark: John Sinclair Classics. Geisterjäger John Sinclair. Band 16. Bastei Verlag. Köln. 10. 04. 2018
  • Thomas König: Geisterwaldkatalog. Band 1. BoD. Norderstedt. Mai 2000