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Diane Teil 1 – Kapitel 2

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Zweites Kapitel

Die Heldin unserer Geschichte findet am frühen Morgen ein Abendessen und ein Bett.

Der Mietwagen hielt vor einem der kleinen Gasthöfe vierten oder fünften Ranges, wie man sie in den Vorstädten Berlins findet. Dieser war noch einer der stattlichsten. Das kleine einstöckige Haus, mit frischer hellblauer Farbe bemalt, lag in der Mitte eines Gärtchens, dessen Umzäunung ein zierliches Gitter bildete, hinter dessen ebenfalls hellblau bemalten Stäben man eine Fülle roter und gelber Frühtulpen in Blumentöpfen glänzen sah. Das Schild der Garküche bildete ein stolzer weißer Schwan, der sein Gefieder in einem Becken voll Seifenschaum badete. Nichts konnte übermütiger sein, als der Blick dieses poetischen Vogels, mit dem er die einkehrenden Gäste von seiner Höhe willkommen hieß. Sowohl das Schild als auch das ganze Häuschen waren erst neu aus der schöpferischen Hand des Anstreichers hervorgegangen. Der Leutnant stieg aus und setzte ziemlich unsanft den Messinghammer an der Tür in Bewegung. Eine Magd öffnete und bemerkte, da sie den Offizier begrüßte, in einem höflichen Ton, dass so früh keine Speisen verabfolgt würden.

»Ich will Frau Sempel sprechen«, rief der Leutnant barsch. »Schläft sie noch?« »Schlafen?«, entgegnete das Mädchen mit einem verschämten Lächeln, »wir sind schon seit zwei Stunden wach, ich und die Madame, und im Garten hinter dem Haus beschäftigt. Treten Euer Gnaden ins Gastzimmer, ich will die Madame rufen.«

Der Leutnant und sein Schützling nahmen in dem hellen, freundlichen Zimmer an einem der einfachen rot gefärbten Tischen Platz, die zur Bewirtung der täglichen Mittag- und Abendgäste des Gasthofes dienten. Nach wenigen Minuten trat eine korpulente kleine Frau herein, die ein Messer in der Hand hielt und in der aufgewundenen weißen Schürze Küchenkräuter sehen ließ.

»I je«, rief sie, hinter sich sprechend, »du hast wahrlich recht, Lene, es ist der junge Herr Graf. Und zu dieser Stunde! Was befehlen Ihro Gnaden? Womit kann ich dienen? Ei, ei, so früh …!«

»Wie geht’s, Frau Sempel?«

»Zu danken, liebwertester Herr. Wie es nun eben einer alten Frau gehen kann. Lene, wer hat das Bettelkind hereingelassen? Um Vergebung, Herr Graf – Kleine, dein Platz ist nicht da …«

»Lassen Sie, Frau Sempel«, sagte der Leutnant, »grade dieses Kindes wegen bin ich hier.«

»Dieses Kindes wegen?«, rief die Gastwirtin, und ließ vor Verwunderung einen Teil ihrer grünen Kräuter fallen.

»Es ist ein armer Findling, der niemand hat, welcher sich seiner annehmen mag. Der Zufall hat gewollt, dass ich ihr Beschützer einstweilen werden sollte.« Der Leutnant erzählte jetzt kurz das, was wir von unserer Heldin schon wissen. Aber er fand bei Frau Sempel nicht die bereitwillige Aufnahme seines Berichts, die er erwartet hatte.

»Herr Graf«, begann sie nach einer Weile, nachdem ihre kleinen, stechend braunen Augen das Kind gemustert hatten, »der Kondukteur des Wagens ist, mit Verlaub, ein arger Gauner. Er spielt mit, der Himmel weiß welch einem Gesindel unter einer Decke, und man hat Ihnen den kleinen zerlumpten Vogel mit guter Manier aufgebürdet. Das Ganze ist eine unverschämte Bettelei, verlassen Sie sich drauf. Man weiß, dass Sie ein wohlhabender junger Kavalier von Stand sind, ja, ja, das weiß man …«

»Der Kondukteur«, erwiderte der Leutnant, »wollte das Kind durchaus nicht nehmen …«

»Abgekartetes Spiel! Ganz wie ich gesagt habe«, rief die Wirtin. »Wir kennen das! Und das mit dem Brief ist auch nur eine Lüge gewesen. Das Kind hat und sollte hier auch niemand haben, als Sie, Herr Graf. Ich will keine ehrliche Frau sein, wenn ich nicht diese ganze Teufelei klar durchschaue! Ist es nicht ein Gräuel, einen so lieben, blutjungen Herrn, der selbst noch von der Welt wenig weiß, so zu betrügen! Ihm ein Kind anzuhängen! Einem solchen Kavalier!«

»Schweig!«, rief der Leutnant, indem eine schwache Röte des Unwillens und der Scham sein jugendliches, schönes fast noch mädchenhaftes Gesicht färbte. »Wenn ich betrogen worden bin, so ist es einmal geschehen und nicht mehr zu ändern!«

»Dass sich Gott erbarm!«, rief die Wirtin. »Ich will sogleich hingehen und den Spitzbuben von Kondukteur zur Rede stellen.«

»Du wirst ihn nicht mehr finden«, sagte der Leutnant. »Er musste mit einem anderen Wagen sogleich weiter und kehrt erst vielleicht nach mehreren Tagen wieder heim. Unterdessen muss für die arme kranke Kleine gesorgt werden. Nimm sie bei dir auf, Mutter. Was es kostet, will ich zahlen.«

»Will ich zahlen!«, wiederholte Frau Sempel in großem Erstaunen. »Sie wollen, Graf Sejan, Sie wollen für das Bettelkind zahlen?«

»Ja, ich bin nun einmal entschlossen, Mutter. Die Kleine hat es mir angetan!«

Bei diesen Worten blickte der Leutnant in die bittend auf ihn gerichteten Augen des Mädchens, in denen noch Tränen hingen. Sie hatte ihren gesunden Arm um den seinen geschlungen und berührte mit ihrem Lockenhaupt seine Epauletten.

»Wollen Sie mich also behalten?«, rief sie. »Das ist gut!«

»Wie heißt du, Kleine?«, fragte er, indem er zu ihrer Bitte bejahend den Kopf neigte.

»Man nennt mich Diane.«

»Das ist dein Taufname, allein dein Familienname?«

Die Kleine schüttelte den Kopf.

»Sie hat keinen anderen«, seufzte Frau Sempel. »Dass sich Gott erbarm, sie hat keinen anderen als den einfältigen heidnischen Namen.«

»Und du weißt nicht, wer deine Eltern sind?«

Die Kleine schüttelte abermals das Haupt.

»Aber den Mann kanntest du doch, der dich in die Kutsche brachte?«

»Er gab mir Bonbons«, entgegnete das Mädchen nach einem kleinen Nachdenken, »und ich sah ihn in einem Zimmer, wo eine Menge weiße große Pomadebüchsen standen.«

»Es wird der Apotheker gewesen sein«, bemerkte Frau Sempel.

»Du sagtest, dass du auf der Landstraße gingst«, fragte der Leutnant. »Von wo kamst du und wo wolltest du hingehen?«

»Ach!«, rief die Kleine und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Wann werde ich endlich etwas zu essen erhalten und dann zu Bett gehen?«

»Sie will nicht weiter gefragt sein!«, gab der junge Offizier lachend von sich.

»Das eine sollst du gleich bekommen«, rief die Wirtin. »Ich will die gestern übrig gebliebene Brühe geschwind warm machen lassen. Lene, rücke das Bett zurecht, oben in der kleinen Gaststube unterm Dach, wo der arme Doktor, der Zahnarzt, wie hieß er doch, gewohnt hat, der nicht bezahlen konnte, weil sich niemand im ganzen Viertel von ihm die teuren neuen Zähne wollte einsetzen lassen.«

Die Anstalten zur Aufnahme unserer Heldin in dem Gasthaus Zum Schwan waren bald getroffen. Sie nahm ihre mäßige Mahlzeit ein und begab sich dann zur Ruhe, nachdem sie ihrem Beschützer eine gute Nacht gewünscht, der sie auf ihre bleiche Wange küssen wollte, doch von der Wirtin daran gehindert wurde.

»Nein, Herr Graf«, rief sie, »das Kind kommt aus unreinen Händen. Ehe ich erlaube, dass Sie sie küssen, muss sie erst meine Wäsche passiert haben. So ist es in Ordnung!«

Der Jüngling lächelte, empfahl der Alten nochmals, recht wohl für das arme Kind zu sorgen, stieg dann wieder in den Mietwagen und fuhr in die Stadt zurück.

Als er das Haus verlassen hatte, hielt Frau Sempel mit ihrer vertrauten Lene noch eine lange Beratung. Lene bemerkte, dass seitdem der Gasthof Zum Schwan unter seinen jetzigen verbesserten Umständen bestehe, es keinen so ungewöhnlichen Vorfall als diesen gegeben habe.

Frau Sempel gab ihr hierin Recht, und nachdem sie eine lange Abhandlung über schurkische Kondukteure und leichtgläubige junge Herren von Stand gehalten hatte, fügte sie zum Schluss die Ansicht bei, dass da die Sachen nun einmal so ständen, den Befehlen des Grafen Folge geleistet werden, das Kostgeld der Kleinen so gering wie möglich, denn Frau Sempel war eine ehrliche Frau, angeschlagen, und das arme Mädchen zu einem tugendhaften christlichen Wandel angehalten werden müsse.

»Und dann, Lene«, setzte die Gebieterin hinzu, indem sie mit dem langen Kräutermesser eine drohende Pantomime machte, »der Herr Graf will, dass niemand etwas von der ganzen Sache erfahre. Ich werde also sagen, das kleine Ding sei mir von armen Verwandten zugeschickt worden. Das wird alle Leute befriedigen.«

Die letztere Bedingung kam Lene nichts weniger als gelegen. Sie hatte als erste und einzige Kellnerin des Gasthauses die Verpflichtung, die Stammgäste täglich mit Neuigkeiten bestmöglichst zu unterhalten, und das Abenteuer des Leutnants hätte, wenn man es ausbrüten durfte, auf Monate Stoff zum Gespräch gegeben. So aber musste dieser interessante Gegenstand beiseite bleiben, und wenn sich in Lenes Herzen einiger Groll gegen das angenommene Kind nach und nach sammelte, so war die erste Ursache hier in diesem ihr auferlegten mysteriösen Stillschweigen zu suchen.

Frau Sempel hatte den Tag über keine Zeit zu Grübeleien. Ihr kleines Gasthaus gehörte zu den besuchtesten des Vorstadtviertels, und da kein vornehmer französischer Koch, keine ausländische Köchin, sondern Frau Sempel mit ihrer Magd Lene allein den stattlichen Raum der Küche einnahmen, so war für diese beide alle Hände voll zu tun. War jedoch das Geschäft des Tages vollendet und saßen die stilleren Gäste bei ihrer Flasche Bier in der Gaststube, keine anderen Dienstleistungen mehr fordernd, als das Verabfolgen einer Zigarre, eines Fidibus oder einer Zeitung, alles Geschäfte, die Lene besorgte, und dabei noch Zeit zu einigen Späßen nach beliebter Manier fand, zog sich Frau Sempel in ihr Zimmer zurück, legte ihre Schürze und Haube ab, ordnete ihr Haar zur Nacht, begoss ihre Blumen am niedrigen Fenster und nahm dann, indem sie sich in ihren weichen Polsterstuhl versenkt hatte, einen alten zerlesenen Band der Bibliothek zur Hand, in welchem sie mit großem Eifer ein Stündchen vor dem zu Bettgehen las.

Obgleich Diane eine Bewohnerin des Hauses geworden war, fand sie in dieses Heiligtum der Frau Sempel doch erst nach einigen vorhergegangenen Prüfungen Zugang. Das Mädchen war nun schon acht Tage da, und noch war ihretwegen kein Verdruss im Haus vorgefallen. Lene hatte auf der Polizei die Anzeige von dem Dasein eines armen Kindes machen müssen, das Frau Sempel aus Mildtätigkeit zu sich genommen hatte. Nachdem dies geschehen war, fiel es niemand mehr ein, sich um unsere Heldin zu kümmern. Sie lebte in dem Dachstübchen des Zahnarztes, das Frau Sempel ihr eingerichtet hatte und für das sie eine mäßige Miete anrechnete. Der Arm des Kindes war von einem Doktor untersucht und verbunden worden. Er erklärte, dass damit eine starke äußere Verletzung, wie von einem Stockschlag herrührend, vorgefallen sei, allein das Kind wusste von einer solchen ihm angetanen Misshandlung nichts.

Eines Abends trat sie in das Zimmer, als Frau Sempel eben einen Brief zusiegelte und mit großer Mühe, eine wohlgeschriebene Adresse ihm zuzufügen, im Begriff stand. Sie wechselte die Feder öfter und schien mit keiner zufrieden.

»Der Barbierlehrling«, rief sie endlich, »schneidet mir die Federn immer nachlässiger. Meine Handschrift wird durch seine Schuld fast unleserlich. Kannst du auch schreiben, Kleine?«

»Ich habe es gelernt, aber es ist mir, als könnte ich es nicht mehr«, antwortete das Kind, indem es aufmerksame und forschende Blicke auf den Brief unter Frau Sempels Händen richtete.

»Wir wollen mit dem Schulmeister sprechen, der alle Sonntage bei mir speist«, sagte Frau Sempel. »Aber warum starrst du mich so an?«

»Liebe Mama«, rief das Kind lebhaft, »der Brief ist am Ende wohl derselbe, den ich verloren habe.«

»Kind, wie kann das derselbe sein. Ich habe ihn ja eben geschrieben.«

»Ach Gott!«, seufzte die Kleine.

Frau Sempel zog sie zu sich und fragte, indem ihr bereits hoch gerötetes freundliches Gesicht einen besonderen Ernst annahm: »Kind, hast du wirklich jemals einen Brief zu besorgen gehabt? Rede die Wahrheit, du weißt, jede Lüge werde ich strafen.«

»Gewiss, Ma’m! Ich hatte einen Brief zu besorgen; allein ich verlor ihn.«

»Ich glaube kein Wort von alle dem«, murmelte Frau Sempel. »Und kannst du dich nicht auf den Namen der Person besinnen, an die der Brief gerichtet war?«

»Heute Nacht habe ich darüber nachgesonnen, und es ist mir, als wenn er Berlin geheißen.«

»Das war der Name der Stadt.«

»Welcher Stadt?«

»Nun, der Stadt, in welcher wir wohnen«, rief Frau Sempel verwundert. »Du wirst doch wissen, dass wir in Berlin leben?«

»Ich wusste es nicht, aber jetzt, da ich es weiß, will ich es mir merken.«

Frau Sempel seufzte und schüttelte den Kopf. Sie siegelte jetzt ihren Brief zu. Derselbe war an den Apotheker des Städtchens Müncheberg gerichtet, wo Diane sich mutmaßlich einige Zeit aufgehalten haben musste. Die Gastwirtin hatte den Apotheker ersucht, ihr die genaueren, das Kind betreffenden Umstände zu melden und zugleich die Adresse des verloren gegangenen Briefes anzugeben. Das Schreiben war in artigen Ausdrücken abgefasst, denn Frau Sempel hatte sich erkundigt und erfahren, dass Herr Sauer, so hieß der Apotheker des Städtchens, ein achtbarer Mann, und von ihm daher kein Betrug zu erwarten sei.

»Wir wollen die Sache schon aufs Klare bringen«, sagte die Gastwirtin selbstgefällig. »Herr Sauer wird auf meinen frankierten Brief antworten, und wir werden dann sehen – ja, wir werden sehen. Er wird sich freuen, einen so wohlgeschriebenen Brief zu erhalten, und sowohl nach der Handschrift als auch nach dem Inhalt, kann er wohl glauben, dass er es mit einer Dame zu tun hat.«

Sie zeigte den Brief mit einer triumphierenden Miene dem Kind und schien dessen Bewunderung zu erwarten. »Und das habe ich noch mit einer schlechten Feder geschrieben«, setzte sie hinzu. »Aber was sagst du dazu?«

»Ich kann nicht lesen, was darauf steht, Ma’m«, erwiderte die Kleine.

»Du kannst es nicht lesen? Wahrhaftig! Doch der Grund wird sein, dass du wohl überhaupt nicht Geschriebenes lesen kannst, denn sonst wäre meine Handschrift die Erste, die dir verständlich wäre. Armes Kind, ich muss deinetwegen mit dem Schulmeister sprechen. Du musst in die Schule gehen!«

»In die Schule, Ma’m?«

»Ja. Der Mann heißt Weinhold und ist, wie sie es nennen, ein Kandidat, der auf eine Anstellung wartet.« Gewiss ist es, dass er ein Studierter ist, aber die Herren haben ihn öfters im Examen durchfallen lassen. Seitdem hat er den Mut verloren und unterrichtet so unter der Hand einige Kinder; denn eigentliche Erlaubnis dazu hat er nicht. Er macht für mich hier und da außer dem Haus ein kleines Geschäft ab, dafür habe ich ihm alle Sonntag Mittag unentgeltlich einen Platz an meinem Tisch eingeräumt, und er darf so viel Bier trinken, wie er immer will. Er trinkt jedoch nie übermäßig, denn es ist ein bescheidener junger Mann, ja, sehr bescheiden. Du wirst ihn sehen, Phillis, denn Morgen ist sein Tag.«

»Phillis?«, rief das Mädchen erstaunt.

»Oder Diane, ich wusste, dass es so etwas war«, entgegnete Frau Sempel seufzend. »Warum führst du nicht einen ordentlichen Namen, Kind. Katharina, Barbara, Luise, auch Friederike, das wäre so etwas. Ich habe dir einstweilen meinen Namen geliehen, und dich auf der Polizeiliste als eine Sempel eintragen lassen, und zwar habe ich dich Katharina genannt.«

Das Kind sah die Gastwirtin groß an und erwiderte nichts.

»Überhaupt«, fuhr diese fort, »solltest du bei uns bleiben, das heißt bei mir. Was noch sehr zweifelhaft ist, so musst du dich ansehen, wie zu diesem Haus gehörend, und dann darfst du nicht müßiggehen, sondern frühzeitig anfangen, dein Brot selbst zu verdienen, sodass der gute, junge Graf das Kostgeld nicht lange mehr zu zahlen braucht. Ich weiß, dass er sich mit dir eine große Last aufgebürdet hat. Ein junger Herr, der nicht so unbekümmert und weichherzig, wie er ist, hätte sich nimmer mehr in einen solchen Handel eingelassen. Er hätte dich auf der Straße stehen lassen, und du hättest gleich den Vögeln unter dem Himmel dein Futter suchen müssen. Verstehst du, was ich sage, Kind?«

»Ja, Mama. Wer ist denn der junge Herr, der mich hierher brachte?«

»Die Frage hättest du schon längst tun sollen«, sagte die Wirtin verweisend. »Ich will sie dir jetzt beantworten: Er ist der Sohn vornehmer Eltern. Sein Vater war General bei dem hiesigen Militär, und wenn er an der Wache vorbeiging, mussten jedes Mal alle Soldaten heraus, unters Gewehr. Selbst mir machten die munteren und artigen Burschen zuweilen die Honneurs, wie man es nennt, wenn ich mit dem kleinen Jungen auf dem Arm im Wagen des Generals und mit dessen Diener in Livree spazieren fuhr. Ich war damals eine junge recht hübsche Frau und lebte erst im zweiten Jahr der Ehe mit meinem Franz, der Koch beim Grafen war. Du musst wissen, dass ich Amme bei allen drei Söhnen des guten Grafen gewesen bin. Zwei starben als unmündige Kinder, nicht halb so alt, wie du jetzt bist. Der dritte Knabe blieb leben, und ist jetzt mit siebzehn Jahren königlich preußischer Leutnant und ein sehr schöner junger Herr.«

»Gewiss, das ist er«, entgegnete Diane.

»So, findest du das auch schon?«, rief Frau Sempel mit einem listigen Zwinkern ihrer kleinen lebhaften braunen Augen, indem sie dabei dem Kind auf die Schultern klopfte. »Du bist doch nicht so einfältig, wie ich glaubte. Aber zeig mal deine Hand her. Was hast du da für eine kleine, weiße rundliche Hand, mein Kind!«

»Warum ist er nicht wiedergekommen, er versprach es doch?«, fragte die Kleine.

»Der Graf, meinst du? Er wird morgen sicherlich kommen. Dann werde ich dir das neue Kleidchen anlegen und das bunte kleine Tuch dazu. Du musst dem Grafen entgegen gehen und ihm zum Willkommensgruß die Hand küssen.«

»Wird er nicht mir die Hand küssen?«

»O Himmel, Kind, das wird er gewiss nicht!«, schrie Frau Sempel laut auf. »Wie kommst du nur auf solche Gedanken?«

»Als ich noch in einem schönen, großen Saal wohnte«, rief Diane und hielt den kleinen Finger wie sinnend an die Stirn, »hat man mir immer die Hand geküsst.«

»Als du noch wo wohntest?«, fragte die Gastwirtin.

»In einem großen, schönen Saal, wo abends Lichter brannten«, sagte das Kind. »Es waren viele, viele Menschen um mich herum, aber es mag schon lange Zeit her sein.«

»Gewiss sehr lange «, erwiderte die Wirtin, »wenn du nicht gar alles das geträumt hast, oder böse Menschen dir anbefohlen haben, dergleichen den Leuten vorzuschwatzen. Geh nun zu Bett Kind, ich will zu meinem Buch greifen, denn ich kann nicht einschlafen, ohne wenigstens einige Seiten gelesen zu haben. Das habe ich noch von meinem Ammendienst. Damals habe ich oft ganze Nächte lang an der Wiege gesessen und eitel Räubergeschichten und Romane gelesen. Tags darauf erzählte ich den größeren Knaben, was ich Merkwürdiges gefunden hatte. Graf Sejan hat von mir die meisten und besten Geschichten gehört, und der gute dankbare Junge, er weiß viele derselben noch, und erzählt sie mir, und wir lachen dann zusammen und denken der guten alten Zeit. Denn seitdem, liebes Kind, musst du wissen, hat sich sehr vieles verändert. Der alte General starb und hinterließ viele Schulden. Ich und mein Franz hatten uns etwas erübrigt und kauften uns diese Gasthofgelegenheit. Aber seit Jahr und Tag koche ich allein, denn meinen Franz haben sie auch aus dem Tor hinausgetragen.«

Diese Erinnerungen stimmten das Herz der Witwe so weich, dass sie am Schluss ihrer Erzählung in ein lautes Schluchzen ausbrach. Die kleine Diane schmiegte sich mit dem Instinkt eines Kindes, das Tränen nicht fließen sehen kann, ohne selbst zu weinen, an die Alte, und dieser Beweis kindlicher Teilnahme rührte die gute Frau nur noch mehr. Die Pflegemutter und das Adoptivkind vermischten ihre Tränen miteinander, während es in der Vorstadtgasse still wurde, und die kleine, schrillende Pfeife des Nachtwächters aus der Ferne die zehnte Stunde verkündete.