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Die Tauscher 19

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 19

Auf dem Heimweg hatte Florian das unangenehme Gefühl, als würde er von allen Passanten mit scharfen Blicken fixiert. Er riskierte es, ein Taxi zu nehmen, weil die Fahrer mehr auf Kleidung und Gepäck als auf das Gesicht achteten. Er saß im Fond, die Hutkrempe tief heruntergezogen und hörte auf die Radiodurchsagen, die der Fahrer angestellt hatte. An mehreren Hauptstraßen waren Straßensperren errichtet worden, vor dem Betreten einiger Stadtviertel wurde gewarnt. Auf den ersten Blick schien die Stadt unverändert – rasender Verkehr, sich drängelnde Menschenmassen, Reklame, Hupkonzerte, glänzende Geschäfte. Aber auf den zweiten Blick wirkte alles noch hektischer als sonst, in der Luft lag eine Spannung, als hätte man die Stadt unter Strom gesetzt. Am Himmel quollen Wolkengebirge mit glänzenden weißen Flanken auf. Die schwüle Luft mit ihrem Benzingeruch klebte auf der Haut.

In seiner Wohnung setzte sich Florian auf das Sofa. Hier war er vor einigen Tagen aufgewacht und hatte nicht gewusst, wer er war und wo er war. Bei der Erinnerung daran, begann sein Herz zu klopfen. Er wusste nicht mehr genau, wie er sich in diesem Moment gefühlt hatte, aber angenehm war es nicht gewesen. Er raffte sich auf und ging in einen Raum, von dem er genau wusste, dass er ihn seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Hier war Fräulein Levinsohns Reich. In der Luft war sogar noch ein Hauch ihres Parfüms. Es gab Hammerstain einen Stich ins Herz. Der Raum war tadellos aufgeräumt, ein Fremdkörper in der ansonsten ziemlich chaotischen Wohnung. Jede freie Wandfläche war mit Aktenschränken vollgestellt. Florian ging die alphabetische Sortierung durch. A bis Zs wie ´Zschoppe, Reinhold` nahm ungefähr die Hälfte des Archivs ein. Akten mit Zu den Rest. Sie waren chronologisch geordnet.

Sara Levinsohn hatte mit ameisenhaftem Eifer wirklich alles zusammengetragen, was auf irgendeine Weise mit Alfred Simon Zucker in Zusammenhang stand. Sie spielte die Assistentin von Silwester Hammerstain, aber tatsächlich hatte sie ein ganz anderes Spiel betrieben. Eines, das er nicht kannte, nicht durchschaute und das Sara Levinsohn nun unter das Fallbeil bringen konnte.

Das Telefon klingelte. Es war Hermann-Israel Levinsohn V.

»Die Staatsanwaltschaft hat sich mit mir in Verbindung gesetzt und mir mitgeteilt, dass auf Grund Ihrer Einwände meine Schwester auf Kaution aus der Haft entlassen wird. Ich wollte Ihnen herzlich danken.«

»Werden Sie die Kaution zahlen?«, fragte Florian unverblümt, ohne auf die Dankesworte einzugehen.

Aus dem Hörer kam Schweigen, dann ein tiefer Seufzer.

»Es ist eine ganz beträchtliche Summe. Aber ja, wir werden sie natürlich aufbringen. Auch wenn das nicht leicht sein wird.«

»Ich dachte, die Levinsohn-Dynastie zahlt so was aus der Portokasse.«

H-I stieß ein bitteres Lachen aus. »Das denken andere auch. Aber abgesehen davon, dass die Kaution in diesem Fall bewusst hoch angesetzt worden ist, was ich auch verstehen kann – die finanziellen Verhältnisse unserer Familie werden stets stark überschätzt.« H-I zögerte einen Moment. »Ich vermute, dass auch die unglückliche Abreise meiner Schwester Sara aus Wien damit im Zusammenhang steht. Aber sie hat nie darüber geredet. Mit Ihnen vielleicht, aber nicht zur Familie.«

»Falls Sie etwas darüber gesagt hat, habe ich es vergessen«, sagte Florian. H-I verstand den Satz falsch und antwortete:»Ihre Diskretion weiß ich sehr zu schätzen.«

Florian schaute auf die Uhr. Die Haftentlassung Fräulein Levinsohns konnte noch an diesem Tag stattfinden. Er machte einige Telefonate und suchte sich dann ein Taxi. Gegenüber Traut hatte er so getan, als hielte er einen Anschlag auf Sara Levinsohn für unwahrscheinlich. Jetzt kamen ihm Zweifel. Sicherlich, die Erben des Zucker-Imperiums hatten sich nur gegenseitig im Blick. Aber es gab da andere – diejenigen, die die ganze Sache ins Rollen gebracht hatten. Vielleicht hatten die Fräulein Levinsohn im Visier und er hatte ihnen direkt in die Hände gespielt. Vielleicht war das genau der Grund, warum er überhaupt aus dem Sanatorium entkommen konnte und vielleicht war die hilfsbereite Retterin nicht für ihn, sondern für den netten Dr. Spellberg hilfreich gewesen? Wenn das so war, hatte Spellberg wirklich gut gespielt und alles bestens arrangiert. Oder aber, es gab noch eine Partei, die ihre Fäden zog.

Florian merkte, wie sich langsam ein Eisklumpen in seinem Bauch ausbreitete. Die ganze Sache begann, ihm über den Kopf zu wachsen. Er war in etwas hineingeraten, das ihm das Leben kosten konnte. Sein Leben, das er seit dem Aufwachen auf dem Sofa kaum etwas mehr sein eigenes nennen konnte.

Er knirschte mit den Zähnen. Die Diagnose von Dr. Spellberg ging ihm wieder einmal durch den Kopf. War das nur eine raffinierte Lüge des Doktors gewesen? Oder war es die Wahrheit, war er wirklich zwei Personen? Hatte ihm Dr. Spellberg die Wahrheit gesagt, weil diese Wahrheit schon niederschmetternd genug war, gefährlicher als eine Giftspritze?

Aus der Ferne klang dumpfes Donnergrollen. Die Hitze war kaum noch erträglich, die Luft über dem Asphalt flimmerte und auf der Fahrbahn schimmerten silberne Seen. Dann schoben sich die Wolken vor die Sonne, wurden dunkler und nahmen ein tintiges Blau an.

Vielleicht gab es ja eine andere Sicht auf die Wahrheit und Dr. Spellberg hatte nur versucht, ihn von dieser Sicht abzulenken?

»Schwachsinn«, dachte Florian, »ich bin Silwester Hammerstain. Und wenn es diesen verdammten Florian gibt, werde ich ihn dazu bringen, meine verdammten Erinnerungen wieder rauszurücken. Keine Ahnung wie, aber der Kerl wird parieren.«

Das städtische Zuchthaus lag wie eine düstere Zwingburg inmitten eines Wäldchens. Die massiven Mauern und wuchtigen Wachttürme erhoben sich drohend hinter den schütteren Baumwipfeln. Der Frauentrakt lag an der hinteren Seite. Das Taxi musste die Anlage umrunden, sie fuhren minutenlang an der Mauer wie an einer dunkelgrauen Gebirgswand vorbei, bis sie zu einem Eingangstor gelangten.

Florian stieg aus und meldete sich an der Pforte.

»Warten Sie. Es dauert noch«, wurde ihm befohlen. Der Umgangston des Personals kannte offensichtlichen keinen Unterschied zwischen Gefangenen und dem Rest der Menschheit.

Der Taxifahrer schaltete den Motor aus und verschanzte sich hinter seiner Zeitung. Florian setzte sich auf das Trittbrett und beobachtete das Tor. Durch einen tunnelartigen Durchgang, der von mehreren Gittern gesichert war, konnte er auf einen engen Hof blicken. Es war, als würde dieser Ort Hoffnungslosigkeit ausdünsten wie eine Granate das Kampfgas.

Nach einer scheinbar endlosen Zeit betraten drei Personen den Hof und schritten zum Ausgang. Die schmächtige Gestalt zwischen den beiden Uniformierten war Sara Levinsohn. Die Gruppe verschwand wieder aus dem Blickfeld und es dauerte erneut eine Weile, bis sich in der Einfahrt eine kleine Tür öffnete. Dann wurde die äußere Gittertür aufgeschlossen und Sara Levinsohn stand auf der Straße. Sie trug einen knielangen grauen Kittel und hatte einen Pappkarton in der Hand. Zögernd ging sie auf Florian zu.

»Ihr neuer Stil gefällt mir«, grinste der, »minimalistisch und doch ausdrucksstark.«

Dann stand er mit hängenden Armen da, weil Sara Levinsohn den Karton fallen ließ und in Tränen ausbrach. Florian knetete unsicher die Finger und legte dann den Arm um das weinende Bündel.

»Das war gelogen«, gestand er, »Sie sehen absolut katastrophal aus.«

»Immerhin bin ich noch einteilig«, schluchzte Fräulein Levinsohn.

»Ich werde dafür sorgen, dass es so bleibt«, versprach Florian, »keine Abtrennung von Kopf und Rest, großes Ehrenwort.« Er zupfte sein Einstecktuch aus dem Jackett und Fräulein Levinsohn trompete ausführlich hinein.

»Sie sollten dieses triefende Teil nicht mehr einstecken«, sagte sie dann mit roter Nase.

Der Taxifahrer schien sich nicht um seine Passagiere zu kümmern und konzentrierte sich auf den Verkehr.

»Ich bringe Sie erst einmal nach Hause«, entschied Florian, »wo wohnen Sie überhaupt.«

»Ich brauche Kleidung und muss mich frisch machen. Aber …« Sara Levinsohn schaute zur Seite, »… könnte ich bitte in Ihrer Wohnung übernachten, in meinem Büro, ich möchte nicht, ich kann nicht …«

»Ich bin nicht einmal sicher, ob ich selbst in meiner Wohnung übernachten kann«, murmelte Florian. Er überlegte und war sich dann sicher, dass keine Gefahr bestand. Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, ein entlaufener gefährlicher Irrer zählte wenig, wenn in der Stadt Tausende dieser Sorte tobten.

Trotzdem schickte er Sara Levinsohn vor, um die Lage zu erkunden. Florian drückte sich in der Nähe herum, bis die Lichter in den Wohnungsfenstern dreimal an und wieder ausgeschaltet wurden. Er rannte über die Straße, während die ersten Regentropfen mit lautem Klatschen auf den Asphalt trafen. Florian hetzte die Treppe hoch und verfluchte die Tatsache, dass er so schlecht in Form war. Sara Levinsohn wartete hinter der Wohnungstür und ließ ihn hinein.

Sie zogen die Vorhänge zu. Das Gewitter tobte, manchmal flackerten die elektrischen Lampen. Fräulein Levinsohn trug einen flotten Hosenanzug, aber es war ihr anzusehen, dass sie abgenommen hatte.

»Und nun?«, fragte sie.

»Eine Idee?«, erwiderte Florian.

»Ich habe zuerst gefragt.«

»Waren Sie es?«

Fräulein Levinsohn sprang aus ihrem Sessel auf. »Natürlich nicht, welch eine Frage.«

»Wenn es so natürlich wäre, wie Sie sagen, dann würde sich kein Fallbeil zwischen Ihren Kopf und Ihre Schultern drängen wollen.«

»Halten Sie mich für schuldig?«

Florian schaute Fräulein Levinsohn aus schmalen Augen an. Ein schwerer Donnerschlag erschütterte das Haus, das Licht verlosch für einige Sekunden. Die Frau stieß einen erschreckten Schrei aus.

»Habe ich Grund, Ihnen zu trauen?«, fragte Florian. Er beantwortete sich die Frage selbst. Nein, lautete die Antwort. Er hatte keinen Grund dafür und einige dagegen. Und nur die leise Stimme seiner Intuition bewahrte ihn in diesem Moment davor, seine Assistentin – oder was immer sie war – vor die Tür zu setzen.

»Ich habe Zucker nicht umgebracht.«

»Das war jetzt aber nicht die Antwort auf meine Frage.«

»Es war die richtige Antwort auf die wichtige Frage«, stellte sich die Levinsohn stur. Und dann fügte sie leiser hinzu: »Ich wollte Sie wieder von diesem Gelände herunterholen, das ist alles, was ich wollte.«

Dann, als käme ihr der Gedanke erst jetzt, stemmte sie die Arme in die Hüften und schob das Kinn vor. »Warum haben Sie mich zehn Tage in diesem Wanzenloch schmoren lassen?«

»Weil ich zehn Tage abwesend war. Und jetzt werde ich steckbrieflich als entlaufener Psychopath gesucht. Aber zumindest das letztere wird Sie nicht überraschen, weil Sie mich schon immer so einschätzten.«

Fräulein Levinsohn klappte im Sessel zusammen und starrte hilflos vor sich hin.

Florian seufzte. »Nein, ich traue Ihnen nicht über den Weg, selbst wenn ich Sie nicht unbedingt für eine Mörderin halte. Sie sind eine elende Nervensäge, das ist die verschärfte Variante einer Mörderin.« Er stand auf und beugte sich flüsternd zu Sara Levinsohns Ohr. »Zucker haben Sie nicht umgelegt. Ich weiß das, obwohl ich nicht weiß, warum ich es weiß. Und warum ich Ihnen nicht über den Weg traue – Sie wissen es, ich weiß es. Und bei passender Gelegenheit werden wir zwei Hübschen diese Sache zu Ende diskutieren. Bis dahin bringen wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand der Dinge.«

Sara Levinsohn hatte nicht viel beizutragen. Sie hatte sich mit dem Steuergestänge des Drehflüglers beschäftigt, dann wurde es schwarz um sie und als sie erwachte, war die Polizei schon vor Ort und sie lag neben Alfred Zuckers Leiche.

Im Grunde hatte auch Florian wenig zu erzählen. Als er die seltsame Gestalt in dem kantigen Schutzanzug erwähnte, die ihn in Schlaf versetzt hatte, wurde Fräulein Levinsohn aufmerksam. »Das könnte ein Mechanthrop gewesen sein«, meinte sie.

»Ein was?«

»Ein Mechanthrop, ein Mechanomensch. Stellen Sie sich doch nicht dümmer an, als Sie sind. Sie kennen doch diese Maschinen, die ein wenig wie Menschen aussehen und die einfache Arbeiten erledigen können, solange ihre Röhren in der Steuerungseinheit nicht durchbrennen.«

»Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Florian. Dabei war er sicher, dass er schon einmal davon gehört hatte. Oder zumindest von etwas ähnlichem, das vielleicht anders genannt wurde.

»Ich kenne auch nur einige Versuchsmodelle, die allesamt nicht sehr erfolgreich waren. An der Universität in Prag hat so ein Ding, ich glaube, es hieß Golem Sieben, das halbe Institut zerlegt, weil die Steuerungseinheit defekt war. Es sind immer diese elenden, empfindlichen Röhren, die Probleme machen und die durch Vibrationen alle naselang kaputt gehen. Was ist mit Ihnen?«

Florian krümmte sich auf seinem Stuhl. Es war, als müsste er diesen Gedanken aus sich herauswürgen. Röhren.

»Transistor«, brachte er schließlich heraus.

»Was?«

»Es heißt immer noch ´Wie bitte`, und ich fragte, warum man keinen Transistor einsetzt.«

»Was immer Sie damit meinen«, antwortete Fräulein Levinsohn ziemlich empört; »so etwas existiert nicht. Es gibt kein Ding, das Tansistor heißt.«

»Transistor.«

»Egal. Gibt es nicht!«

´Warum dann`, fuhr es Florian durch den Kopf, ´warum habe ich dann in Dr. Spellbergs Büro einen Transistor gesehen? Dieses kleine Röhrchen, das ich vom Boden aufgehoben habe, war ein Transistor, das weiß ich, wenn ich auch keine Ahnung habe, warum ich das weiß.`

Sara Levinsohn schaute ihn misstrauisch an. »Sie haben so ein Glitzern in den Augen«, stellte sie fest.

»Schlimm?«

»Eher ungewohnt. Vor drei Jahren, als ich bei Ihnen neu anfing, da habe ich das bei Ihnen öfter gesehen. Dann wusste ich ´Hallo, Meister Hammerstain hat einen Einfall`. Aber in den letzten Jahren war es eher trübe hinter Ihrer Denkerstirn.«

»Warum haben Sie es dann mit mir ausgehalten?«

»Sie lenken ab, Herr Hammerstain.«

´Nein, Sie lenken ab, Fräulein Levinsohn`, dachte Florian. Laut sagte er: »Nichts, was spruchreif ist. Eher so ein Hauch von einer Ahnung. Und außerdem hatte ich eben das Gefühl, dass ich anfange, mit mir selbst zusammenzuarbeiten.«

»Das muss ich jetzt aber nicht verstehen, oder?«

»Ich verstehe es ja selbst nicht genau. Aber es gefällt mir.«

»Und nun?«

»Gehen wir schlafen. Sie bekommen das Sofa. Und wehe Sie schnarchen!«

Dann stutzte Florian. Der Gedanke, der ihm soeben gekommen war, leuchtete ein: Er war es, der die Nacht auf dem Sofa verbringen musste. Dort wo er aufgewacht war, als die Probleme begannen. Oder wohl eher, als ihm langsam deutlich wurde, welche Probleme er hatte.

»Planänderung«, erklärte er, »ich nehme das Sofa.«

»Mir egal, wo der Herr zu nächtigen beliebt«, antwortete Fräulein Levinsohn schnippisch und bemühte sich merklich, zu ihrer Normalform aufzulaufen, »ich hatte für mich schon mein Feldbett in meinem Büro eingeplant.«

»Schön, dass ich in meiner Wohnung, in der Ihr Feldbett in Ihrem Büro steht, schlafen darf«, raunzte Florian.

Statt einer Antwort kam »Ich darf zuerst ins Bad«, von Sara Levinsohn. Sie rief es aus dem Badezimmer.

Florian schaltete das Licht aus und zog die Vorhänge zur Seite. Das Gewitter war weitergezogen und grummelte aus der Ferne. Am Horizont flackerten unaufhörlich Blitze, aber direkt über ihm war der Himmel klar. Die Luft war unglaublich frisch, als wäre sie gerade eben aus der Wäsche gekommen. Die Dächer und Straßen glänzten vor Nässe, die Lichter spiegelten sich und es schien, als gäbe es eine verborgene zweite Stadt, die mit der ersten auf geheimnisvolle Weise verknüpft war. Der Gedanke verursachte für einen Moment Schwindel, aber dann dröhnte ein Doppelstockzug über die nahegelegene Brücke und rückte wieder alles zurecht. Aus der Ferne klangen Sirenen.

»Wir haben ziemlich viele Baustellen, nicht wahr.«

Florian zuckte zusammen. Er hatte die Levinsohn nicht kommen gehört, wahrscheinlich, weil gerade die Straßenbahn durch die Straße schepperte.

Er drehte sich um. Fräulein Levinsohn hatte sich bis zur Nasenspitze in einen Bademantel gehüllt, der ziemlich hübsch aussah und auch ziemlich teuer. Sie schaute ihn hilfesuchend an.

»Zuerst werden Sie sich morgen bei der Polizei melden«, sagte Florian, »und dann müssen wir uns darum kümmern, dass Ihre gewohnte Kopf-Schulter-Verbindung nicht gestört wird. Und dann ist da noch die Sache mit dem Einbruch. Da wollte der kürzlich hingeschiedene Alfred Simon Zucker ja wohl, dass ich die Finger von dem Fall lasse.« Hammerstain grinste boshaft. »Jetzt wird es ihm egal sein. Zumindest ihm.«

»Wie meinen Sie das?«

»Da haben noch ganz andere Personen die Finger im Spiel, da bin ich sicher. Ja, und dann ist da natürlich noch der freundliche Dr. Spellberg, der nicht so ganz koscher ist und die Sache mit der Rakete. Habe ich was vergessen? Vielleicht die Tatsache, dass die meisten Menschen in dieser Stadt total meschugge sind, passend zu ihrem Wohnort? Aber das wäre eine der weniger dringlichen Aufgaben.«

Fräulein Levinsohn nickte versonnen und ging. Dann aber drehte sie sich noch einmal um. »Was war mit der Rakete?«

Nun war es an Florian, sie anzustarren. Er gab einen kurzen Bericht über seine Entdeckung, bevor er für mehr als eine Woche aus dem Verkehr gezogen wurde.

»Ist das nicht seltsam?«, fragte Fräulein Levinsohn.

»Welche von den Seltsamkeiten meinen Sie?«

»Na ja, dass die mitten in der Nacht einen Raketentest machen, ist doch schon seltsam, oder?«

Florian zupfte sich an seinem Kinnbart. »Warum sollen ernsthafte Forscher nicht auch mitten in der Nacht arbeiten? Obwohl … na ja. Schlafen müssen die wohl auch mal. Denke ich mir zumindest.«

Er gähnte ausführlich. »Also, was haben wir? Eine angeblich schon einmal aufgestiegene Rakete, die sich keinen Millimeter bewegen kann. Probeläufe der Triebwerke, obwohl die ganz offensichtlich perfekt funktionieren. Und dann diese seltsame Zeiten, an denen die Tests durchgeführt werden.«

Florian betrachtete den abgetretenen Teppich unter dem Schreibtisch.

»Und was sagt der große Meister?«, stichelte Sara Levinsohn.

»Der große Meister sagt, dass es gar keine Rakete gibt. Es gibt nur ein Ding, das so aussieht. Tatsächlich ist es ein Teil einer Maschine«, antwortete Florian.

»Aber getrunken haben Sie nicht wieder?«

Florian ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich habe mich gefragt, wozu diese Öffnung im Boden direkt unter den Triebwerken gut sein soll. Natürlich könnte man sagen, dass dadurch die heißen Abgasstrahlen eingefangen und unschädlich gemacht werden sollen. Aber dafür ist so eine aufwendige Konstruktion gar nicht nötig. Also muss es einen anderen Grund geben. Und jetzt kenne ich den Grund. Die heißen Abgase schießen durch die Öffnung und dort treiben sie eine Turbine an.«

Fräulein Levinsohn war immerhin so beeindruckt, dass sie zum Sofa hüpfte und sich dort mit hochgezogenen Beinen hinhockte.

»Turbine«, wiederholte sie und klang nicht überzeugt, »und was soll so eine Turbine? Muss ja überhaupt ein Riesending sein, bei der Energie der heißen Gase, die dort produziert werden.«

Florian überlegte. Für einen Moment war er selbst unsicher, ob seine Überlegungen stimmen konnten. Dann hatte er die Lösung. »Energie, das ist der Punkt. Die Turbine könnte einen Dynamo treiben, wie in einem normalen Kraftwerk. Nur dass die Sache einige Nummern stärker ist und zugleich nicht so auffallend, als wenn dort ein Turbinenhaus stände.«

»Und warum machen diese Heinis diesen ganzen Aufwand, wenn in jedem Zimmer so ein Ding auf der Wand sitzt?« Fräulein Levinsohn deutete auf die Steckdose.

»Weil sie soviel Strom zapfen würden, dass der Rest der Stadt im Dunkeln säße. Und vielleicht würde das nicht einmal reichen. Wo doch sowieso einmal in der Woche irgendein Stadtviertel stundenlang ohne Strom ist, weil die Kraftwerke nicht mehr genügend Leistung bringen können. Und natürlich, weil sie nicht auffallen wollen, das ist der zweite Punkt.«

»Also gibt es dort unterirdisch oder ganz in der Nähe auf dem Gelände irgendeine Maschine, die solche ungeheuren Mengen von Energie verbraucht. Aber was könnte das sein? Und wozu?«

»Finden wir es heraus. Zuerst einmal sollte man herausbekommen, wer jetzt Besitzer dieses Geländes ist. Da könnten Sie Ihre Beziehungen mal spielen lassen. Und jetzt darf ich ins Badezimmer, ja?«

»Für meinen Geschmack sind das zu viele Baustellen«, flüsterte Fräulein Levinsohn und verschwand eilig in ihrem Büro, als müsste sie in Deckung gehen vor all diesen Problemen.

Florian warf einen Blick in sein Schlafzimmer. Der Raum war ungelüftet, die Luft zum Schneiden dick, als hätte der Mief nach Schweiß, Rauch und Alkohol sie wie ein Geliermittel verfestigt. Die Sammlung von leeren Flaschen war beeindruckend. Offensichtlich schluckte Florian alles, wenn es nur vorhanden und hochprozentig war. Florian presste die Lippen aufeinander und schloss die Tür. Hier hatte er also gehaust. Vielleicht sollte er den Kerlen, die ihm die Erinnerung kupiert hatten, sogar dankbar sein. Oder hatte er sich diese Sache mit der Pille nur eingeredet und glaubte allmählich selbst daran?

Er legte sich auf das Sofa und zog die dünne Decke bis zum Kinn. Der Schlaf kam so schnell, dass Florians Gedanke in der Mitte zerteilt wurde.

Im Traum lief er über eine düstere endlose Ebene. Er war nicht allein, er spürte einen Begleiter direkt neben sich, aber wenn er sich umdrehte, um ihm ins Gesicht zu blicken, war der andere schon ein Stück um ihn herumgegangen und blieb immer unsichtbar.

Florian kam an ein tiefes Loch, das wie ausgestanzt in der Ebene lag. Er beugte sich vor, sah in eine grundlose schwarze Tiefe und wurde von Schwindel erfasst. Er wollte zurücktreten, da stieß ihn der andere vorwärts. Florian stürzte, aber dabei empfand er keine Angst, sondern war sicher, dass er im richtigen Moment genau das richtige tat.

Ein Lautsprecherwagen weckte Hammerstain auf. Eine enthusiastische Männerstimme forderte ihn auf, filterlose Lanomi-Zigaretten zu rauchen, weil diese ein Hochgenuss und zudem gesundheitsförderlich seien. Er schlug die Augen auf und gähnte. An den Traum der letzten Nacht konnte er sich nicht erinnern – schon wieder etwas, was ihm durch die Finger geglitten war – aber er musste angenehm gewesen sein, denn zum ersten Mal seit geraumer Zeit fühlte sich Hammerstain ausgeschlafen und munter.

Aus der Ferne erklang ein Knattern. Zuerst waren es einige Knalle, die von einer Fehlzündung stammen konnten. Aber dann wurden es mehr und mehr, in immer schnellerer Abfolge, bis sich die harten Schläge wie ein Netz auf alle anderen Geräusche legten. Es dauerte, bis Hammerstain den Lärm eingeordnet hatte. Es musste sich um eine Schießerei handeln. Dann erklangen Polizeisirenen und das Hämmern einer schweren Maschinenwaffe mischte sich in das Geknatter.

»Was ist das?«, fragte Fräulein Levinsohn erschrocken. Sie war in diesem Moment aus dem Büro gehuscht, während Hammerstain noch döste und auf den Lärm lauschte.

»Ein 12,5 Millimeter Maschinengewehr auf Dreibeinstativ. Die Staatsmacht sorgt für Ordnung.«

»Aber das ist ganz in der Nähe.«

»Ein paar hundert Meter sind noch dazwischen.«

Hammerstain schlug träge die Augen auf. »Vielleicht würden wir eine Kugel abkriegen, wenn direkt auf uns gefeuert würde. Aber das wäre eher Zufall.«

»Von Zufällen habe ich inzwischen eine spezielle Meinung«, sagte die Levinsohn, »was nehmen wir zum Frühstück? Frischen Orangensaft oder den Cocktail mit 90 Promille?«

Hammerstain schob die Beine vom Sofa und überlegte einen Moment. »Ich bleibe beim Saft«, entschied er. Dann, nach einem Blick auf die Uhr, fügte er an: »Wir werden uns demnächst auf den Weg machen. Sie müssen sich bis zehn Uhr an der nächsten Polizeiwache gemeldet haben.«

Fräulein Levinsohn verlor an Farbe. »Was ist, wenn die mich gleich wieder festhalten?«

»Dann wäre das nicht gut. Ist aber eher unwahrscheinlich. Wir haben ein wenig Zeit, bis wir der Polizei etwas vorlegen müssen.«

»Und was?«

»Wenn ich es weiß, erfahren Sie es«, sagte Hammerstain.

Draußen rauschte der Verkehr wie gewohnt. Die Schüsse waren verstummt und schienen nun so weit entfernt wie ein abgebranntes Feuerwerk.

Auf der Straße hielt sich Fräulein Levinsohn nahe der Hauswände. Sie verschränkte die Arme, als wäre ihr trotz der Sommerhitze kalt und trippelte hastig mit gesenktem Kopf neben Hammerstain.

»Ist das die richtige Richtung?«, erkundigte sie sich.

»Drei Straßen weiter ist ein kleines Revier«, bestätigte Hammerstain, »Sie brauchen keinen Auftritt im Präsidium hinzulegen.«

Hammerstain kam kaum dazu, seinen Satz zu beenden und sich über seine genauen Kenntnisse zu wundern, als er von der anderen Straßenseite gerufen wurde.

Ein schlaksiger Mann mit knochigem, vogelartigem Gesicht winkte zu ihm hinüber. Dann streckte er den Kopf vor, als wollte er mit der gebogenen Nase Körner picken und überquerte hüpfend die Straße.

Professor Grünwang, fuhr es Florian durch den Kopf, vom paraphysikalischen Institut.

Grünwang baute sich vor ihm auf und betrachtete ihn wie ein besonders kurioses Ausstellungsstück.

»Wie geht es Ihnen, Herr Hammerstain?«, erkundigte er sich dann und übersprang jede Form von Begrüßung.

»Ging schon besser«, behauptete Hammerstain, »Im Moment werde ich angeglotzt wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Das irritiert mich irgendwie.«

Fräulein Levinsohn war einige Schritte weiter stehengeblieben und deutete mit dem Finger auf ihre Armbanduhr.

»Entschuldigung, ich würde Ihnen auch die Tätowierung auf meinem verlängerten Rückgrate zeigen. Aber im Moment pressiert es«, sagte Hammerstain und schritt aus.

Grünwang ließ sich nicht abschütteln und blieb an seiner Seite, was ihm angesichts seiner enorm langen Beine leicht fiel. Die Hose schlackerten und ließen vermuten, dass der Professor untere Extremitäten im Besenstielformat haben musste.

»Immer noch derselbe Sarkasmus, freut mich, dass es Ihnen gut geht«, erklärte Grünwang ebenso frohgemut wie rätselhaft.

»Haben Sie diese halsbrecherische Straßenüberquerung gerade eben gemacht, um meinen Humorfaktor zu testen?«

Grünwang schwieg und verlor auf den nächsten Metern ein wenig seine bisher strahlende Laune.

»Ich wollte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit aus unserem Institut Unterlagen entwendet wurden«, brachte er dann heraus.

»Materiell oder inhaltlich?«

»Wie bitte?«

»Wurden diese Unterlagen gestohlen oder wurden sie unrechtmäßig kopiert?«, wiederholte Florian geduldig.

Grünwang starrte auf den Gehweg. Einige Male machte er hüpfende Schritte, um nicht auf eine der Pflasterfugen zu treten.

»Aufgefallen ist mir die Sache, als ich vor einigen Tagen in den Tresor mit den Plänen und Formelbüchern schaute. Es ist so, dass man bei der Fülle der Unterlagen sehr genau Ordnung halten muss, sonst kommt man in Teufels Küche. Ich meine, man wäre gezwungen, stundenlang zu suchen. Also gibt es ein System aus Buchstaben und Zahlen, nach dem die Papiere abgelagert werden. So hat man schnell Zugriff, weil die Buchstaben die Baugruppen angeben und die Zahlen die entsprechenden kleineren Bauteile. Nun ja, vor einigen Tagen bemerkte ich dann, dass da ein gewisses Durcheinander war.«

»Und?«

»Da ich persönlich genau diese Unterlagen kurz vorher abgelegt hatte – und zwar korrekt, weil ich schließlich der Erfinder dieses Ablagesystems bin – und weil kein Mitarbeiter in diese Unterlagen schauen musste, gibt es nur eine Schlussfolgerung.«

»Jemand hat die Unterlagen aus dem Tresor geholt. Und beim Wiedereinräumen geschlampt.«

»So sehe ich das auch«, nickte Grünwang. Inzwischen waren sie in eine Querstraße eingebogen. Das Polizeirevier war nicht zu übersehen, denn vor dem Haus stapelten sich Sandsäcke und schwere Betonblöcke verengten die Fahrbahn und zwangen die Autos zu langsamer Fahrt.

Fräulein Levinsohn eilte über die Treppe zum Eingang hoch, während Hammerstain und Grünwang draußen warteten, von den Wachposten misstrauisch beäugt.

»Schlamperei bedeutet Zeitdruck. Zeitdruck bedeutet Angst, erwischt zu werden. Wer hat Zugang zu dem Tresor?«

Grünwang kniff die Augen zusammen und zählte in Gedanken noch einmal die Mitarbeiter durch. »Es sind gerade sechs Personen, wir sind ja ein kleines Institut. Mich habe ich nicht im Verdacht, ein Kollege ist seit längerem zur Kur, zwei sind seit einer Woche auf einem Kongress. Bleiben zwei, aber die haben mir bestätigt, dass sie nicht an den Unterlagen waren. Und das gäbe auch keinen Sinn, weil wir zur Zeit an anderen Dingen arbeiten.«

»Also hat ein Außenstehender einen Blick auf die Pläne geworfen und sie eventuell kopiert. Um was ging es?«

»Um die Maschine zur transdimensionalen Portation. Um das Versuchsmodell, das Sie ja auch kennen.«

»Tue ich das?«, fragte Hammerstain uninteressiert.

Grünwang warf ihm einen kurzen abschätzenden Blick zu und hob dann die Achseln. »Oder auch nicht«, machte er einen Rückzieher, »jedenfalls war das der Grund, warum ich Sie davon in Kenntnis setzen wollte.«

»Seien Sie froh, dass sich überhaupt jemand für diese Forschungen interessiert«, knurrte Hammerstain, »haben Sie weitere Untersuchungen in die Wege geleitet?«

»Nein, noch nicht«, kam Grünwang nun ins Stottern, »ich war mir nicht sicher und deswegen wollte ich Sie auch um Rat fragen.« Er zögerte kurz: »Zumal ein neuer Mitarbeiter verschwunden ist und sich nicht wieder zeigte, nachdem er sich einmal kurz bei mir vorgestellt hatte.«

»Wer war das?«

»Ein Kemal Soundso von einem Forschungsinstitut in Konstantinopel, das in einer ähnlichen Richtung forscht wie wir. Praktischer und theoretischer Physiker und zugleich Kenner der esoterischen Schriften.«

Grünwang bemerkte, wie sich Hammerstains Augenbrauen in Richtung Haaransatz bewegten. »Kein Spott«, sagte Grünwang streng, »gerade in unserem Bereich der Forschung über Dimensionsverschränkungen sind solche alten Theorien von hohem Wert.«

»Schön, dass wir das geklärt haben.«