Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die Geschichte vom Werwolf Teil 20

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 20
Wer lebte? Wer war tot?

In demselben Augenblick, wo die Seele des jungen Kavaliers den Körper verließ, richtete sich Thibaut, wie durch schreckliche Träume aus dem unruhigen Schlaf gerüttelt, in seinem Bett auf.

Er war ganz von Flammen umgeben, seine Hütte stand im Feuer.

Anfangs glaubte er, es sei die Fortsetzung seines schrecklichen Traumes, aber er hörte ganz deutlich rufen: »Tod dem Hexenmeister, dem Werwolf!« Er sah daher wohl ein, dass etwas Schreckliches gegen ihn unternommen wurde.

Die Flammen kamen immer näher und erreichten sein Bett. Noch einige Sekunden und er war verloren. Die geringste Verzögerung würde ihm jede Flucht unmöglich gemacht haben.

Thibaut sprang von seinem Lager auf, ergriff einen ganz neuen Jagdspieß und stürzte zur Hintertür hinaus.

Als man ihn aus der brennenden, rauchenden Hütte hervorkommen sah, wurde das Geschrei noch heftiger, und einige Schüsse wurden auf ihn abgefeuert. Thibaut hörte die Kugeln pfeifen.

Es waren Leute in der Livrée des Wolfsjägermeisters.

Thibaut erinnerte sich der Drohung, welche der Baron de Vez gegen ihn ausgestoßen hatte. Er war also vogelfrei, man konnte ihn niederschießen wie ein Raubtier!

Zum Glück für ihn traf keine Kugel und er entkam glücklich den Flammen. Er war nun mitten in dem dunklen Wald. Die ringsum herrschende Stille wurde nur durch das Schreien und Toben der Dienerschaft des Junkers de Vez unterbrochen.

Er setzte sich unter einen Baum und stützte den Kopf in die Hand. Er hatte seit achtundvierzig Stunden so viel erlebt, dass er wohl Ursache zum Nachdenken hatte. Aber die letzten vierundzwanzig Stunden, wo er ein anderes Leben gelebt hatte, schienen ihm ein Traum, und er würde nicht behauptet haben, dass die ganze Geschichte mit dem Baron Raoul, mit der Gräfin Jane und dem Grafen Montgobert wirklich wahr sei.

Es schlug zehn auf der Kirche zu Oigny. Zehn Uhr und um halb zehn lag er noch in der Gestalt des Barons Raoul sterbend im Pfarrhaus zu Puiseur.

»Ich muss wissen, wie ich daran bin«, sagte er aufstehend. »In einer halben Stunde kann ich in Puiseur sein. Ich will mich überzeugen, ob der Baron Raoul wirklich tot ist.«

Ein klägliches Geheul beantwortete diese Frage, welche Thibaut an sich selbst richtete. Er sah sich nach allen Seiten um: Seine treue Leibwache war wieder da.

Er rief seiner Meute ein Willkommen zu und ging, von derselben gefolgt, in der Richtung von Puiseur fort.

Die Diener des Junkers de Vez sahen einen Mann von einem Dutzend Wölfe begleitet, wie eine Vision vorübereilen. Sie bekreuzigten sich und waren mehr als bisher überzeugt, dass Thibaut ein Hexenmeister sei. Bei den ersten Häusern des Dorfes angekommen, blieb er stehen und entließ seine Wölfe mit den heftigsten Verwünschungen gegen die Menschheit. Er rief seinen Begleitern sogar nach, niemanden zu schonen, dessen sie habhaft werden könnten.

Die Wölfe zerstreuten sich, vor Freude heulend, in allen Richtungen.

Thibaut ging weiter. Er kam bald an das Pfarrhaus. Er schaute durch das Fenster und sah vor dem Bett eine brennende große Kerze. Über das Bett war ein Tuch gebreitet und unter diesem Tuch bemerkte man die Umrisse einer menschlichen Gestalt.

Das Haus schien leer. Wahrscheinlich war der Pfarrer fortgegangen, um bei der Ortsbehörde den Sterbefall anzuzeigen.

Thibaut trat ein und rief den Pfarrer.

Er erhielt keine Antwort. Wenn der Pfarrer geantwortet hätte, so würde Thibaut gesagt haben, er habe sich verspätet, und noch eine Stunde weit zu gehen, und würde ihn um ein Stück Brot gebeten haben.

Thibaut ging auf das Bett zu. Unter dem Tuch lag wirklich eine Leiche. Es fragte sich nur, ob der Tote der junge Baron von Vauparsonds war.

Thibaut sah sich im Zimmer um. Er erkannte alle Gegenstände: das Bett, auf welchem er vor einer Stunde gelegen, den Lehnstuhl, auf welchem der Pfarrer gesessen und gebetet, und die Wanduhr, welche die verhängnisvolle Stunde geschlagen hatte.

Er hob das Tuch auf – es war wirklich der Baron Raoul. Sein schönes regelmäßiges Gesicht war ruhig und ernst, wie in Marmor gehauen. Auf den ersten Anblick hätte man glauben können, er schlafe, aber bei aufmerksamerer Betrachtung erkannte man, dass ihn der Todesengel abgerufen hatte.

Thibaut hatte die Tür hinter sich offen gelassen und glaubte leichte Fußtritte zu hören. Er stellte sich hinter den Vorhang, der hinten im Alkoven eine Tür verhüllte, welche ihm im Falle der Überraschung einen Ausweg bot.

Eine schwarz gekleidete, verschleierte Dame blieb zögernd vor der Tür stehen. Ein anderer Kopf schaute ins Zimmer.

»Ich glaube, Madame können eintreten, es ist niemand da. Ich will an der Tür Wache halten.«

Die schwarzgekleidete Dame trat ein, ging langsam auf das Bett zu, blieb stehen, um den Schweiß von ihrer Stirn zu wischen und hob dann mit entschlossener Hand das Tuch, welches Thibaut wieder auf das Gesicht des Toten hatte fallen lassen.

Thibaut erkannte die Gräfin.

»Ach!«, sagte sie, »man hatte mich nicht getäuscht: Er ist es wirklich!«

Dann sank sie auf die Knie und betete. Tränen stürzten aus ihren Augen und sie begann laut zu schluchzen.

Endlich stand sie auf und küsste die bleichen Lippen des Toten.

»O, mein geliebter Raoul,« sagte sie, »wer wird mir deinen Mörder nennen, und mir behilflich sein, mich zu rächen?«

Kaum hatte die Gräfin diese Worte gesprochen, so trat sie mit einem Schrei zurück. Sie glaubte eine Stimme gehört zu haben, welche rief: »Ich!« Und der grüne Vorhang schien sich bewegt zu haben.

Die Gräfin war keineswegs zaghaft, sie nahm die vor dem Bett brennende Wachskerze und schaute hinter den Vorhang.

Es war niemand da. Sie sah nichts als eine verschlossene Tür.

Sie stellte das Licht wieder an seinen Platz, nahm aus einer kleinen Brieftasche eine goldene Schere, schnitt dem Toten eine Haarlocke ab, küsste ihm noch einmal die Lippen und entfernte sich.

In der Tür begegnete ihr der Pfarrer. Sie zog ihren Schleier wieder vors Gesicht und trat einen Schritt zurück.

»Wer sind Sie?«, fragte der Geistliche.

»Die Trauer«, antwortete sie.

Der Pfarrer trat auf die Seite und ließ sie fortgehen.

Die beiden Frauen waren zu Fuß gekommen; sie nahmen wieder denselben Weg, den sie gekommen waren.

Es war nur eine Viertelstunde von Puiseux nach Montgobert.

Als sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, sprang ein Mann hinter einem Baum hervor und trat ihnen in den Weg.

Lisette schrie laut auf; die Gräfin hingegen ging unerschrocken auf den Unbekannten zu.

»Wer seid Ihr?«, fragte sie.

»Derselbe, der Ihnen mit Ich antwortete, als Sie fragten, wer Ihnen den Mörder entdecken und zur Rache behilflich sein werde.«

»Ihr könnt mir also sagen, wie und von wem Raoul den Todesstoß erhalten hat?«

»Ja, das kann ich.«

»Und Ihr könnt mir behilflich sein, mich zu rächen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Wann Sie wollen.«

»Kann es sogleich sein?«

»Wir sind hier an einem unpassenden Ort.«

»Wo könnten wir einen passenderen Ort finden?«

»In Ihrem Zimmer, zum Beispiel.«

»Wir können nicht zusammen ins Schloss gehen.«

»Das ist wahr. Aber ich kann durch die Maueröffnung in den Park kommen. Jungfer Lisette kann mich in dem Schweizerhäuschen erwarten, wo der junge Baron sein Pferd zu lassen pflegte. Sie kann mich durch die Wendeltreppe hinauf in Ihr Zimmer führen. Wenn Sie in Ihrem Toilettezimmer sind, so werde ich Sie erwarten, wie der Baron Raoul.«

Den beiden Frauen wurde ganz bange zumute.

»Wer seid Ihr, und woher wisst Ihr alle die näheren Umstände?«, fragte die Gräfin.

»Das werde ich Ihnen sagen, wenn’s Zeit ist.«

Die Gräfin war einen Augenblick unschlüssig, aber nach kurzem Besinnen erwiderte sie: »Gut, Ihr könnt durch die Maueröffnung in den Park kommen. Lisette soll Euch erwarten.«

»Ach, Madame!«, sagte die Kammerjungfer, »ich traue mich nicht, diesen Mann zu holen.«

»Nun, dann gehe ich!«, entgegnete die Gräfin.

»Das lässt sich hören«, sagte Thibaut. »Die Dame hat das Herz auf dem rechten Fleck.«

Er stieg in eine am Wege befindliche Schlucht hinauf und verschwand.

Lisette war einer Ohnmacht nahe.

»Stütze dich auf meinen Arm«, sagte die Gräfin. »Wir wollen gehen. Ich bin neugierig, was mir der Mann zu sagen hat.«

Die Dame und die Zofe nahmen den Weg über den Meierhof. Niemand hatte sie fortgehen sahen, niemand sah sie zurückkommen.

Die Gräfin begab sich in ihr Zimmer und wartete.

Zehn Minuten danach erschien Lisette bleich und zitternd.

»Ach, Madame!«, sagte sie, »es war nicht der Mühe wert, ihn zu holen.«

»Warum nicht?«, fragte die Gräfin.

»Weil er den Weg so gut kennt wie ich … Ach! Wenn Sie wüssten, was er zu mir gesagt hat! Er ist gewiss der leibhafte Gottseibeiuns!«

»Lass ihn hereinkommen«, sagte die Gräfin.

»Da bin ich!«, entgegnete Thibaut.

»Lass uns allein«, sprach die Gräfin zu ihrer Kammerjungfer.

Lisette entfernte sich, die Gräfin blieb mit Thibaut allein.

Thibaut hatte durchaus nichts Beruhigendes in seinem Wesen. Aus seinem Gesicht und seinem ganzen Benehmen sprachen Beharrlichkeit und Willenskraft. Es war leicht zu erkennen, dass seine Absichten nicht die besten waren. Der Mund war zu einem dämonischen Lächeln verzerrt, aus den Augen sprühte ein unheimliches Feuer. Statt seine brandroten Haare zu verbergen, ließ er sie mit Vorsatz sehen.

Trotzdem sah ihn die Gräfin entschlossen an.

»Meine Kammerjungfer sagte, dass Ihr den Weg zu meinem Zimmer kennt, seid Ihr denn schon hier gewesen?«

»Ja, Madame, einmal.«

»Wann denn?«

»Vorgestern.«

»Zu welcher Stunde?«

»Von zehn bis zwölf Uhr abends.«

Die Gräfin sah ihn forschend an. »Das ist nicht wahr!«, sagte sie.

»Soll ich Ihnen sagen, was hier vorgefallen ist?«

»Zu der eben genannten Stunde?«

»Ja.«

»Lasst hören«, sprach die Gräfin kalt.

Thibaut fasste sich ebenso kurz wie die Gräfin.

»Der Baron Raoul kam durch die Tür«, sagte er, auf die Mitteltür zeigend, »und Lisette ließ ihn allein. Sie kamen aus dieser Seitentür und fanden ihn kniend. Ihr Haar war aufgelöst und von drei Diamantnadeln zusammengehalten. Sie trugen einen Schlafrock von rosefarbenem Taffet mit Spitzen besetzt, feine, seidene Strümpfe, Pantoffeln von Silberstoff und eine Perlenkette um den Hals.«

»Der Anzug ist genau beschrieben«, sagte die Gräfin. »aber Ihr könnt durch das Schlüsselloch gesehen haben.«

»O, ich war Ihnen näher, Madame«, erwiderte Thibaut höhnisch lachend. »Ich will Ihnen genau sagen, was gesprochen wurde, und was zwischen Ihnen und Ihrem Geliebten vorgefallen ist.«

»Ich höre«, sagte die Gräfin.

»Sie machten dem Baron Raoul dreierlei Vorwürfe: erstens, dass er sich in den Korridoren zu lange aufhalte und Ihre Kammerjungfer küsse; zweitens, dass man ihn um Mitternacht auf dem Weg zwischen Erneville und Villers-Cotterets gesehen, und drittens, dass er auf dem Ball beim Herzog von Orleans, wo Sie nicht waren, viermal mit Madame de Bonneuil getanzt habe.«

»Weiter.«

»Auf alle diese Beschuldigungen gab der Baron Raoul befriedigende oder unbefriedigende Antworten. Sie begnügten sich damit, denn Sie verziehen ihm und ließen Ihre Arme auf die Schultern des Knienden sinken … Hier auf dieser Stelle war es. Da kam Lisette ganz bestürzt und rief ihm zu, er solle schnell fliehen, da der Graf ins Schloss gekommen sei.«

»Lisette hat recht«, erwiderte die Gräfin lachend. »Ihr seid wirklich der Gottseibeiuns, und ich sehe, dass wir Geschäfte miteinander machen können … Weiter.«

»Der Baron Raoul wollte nicht fliehen, aber Sie schoben ihn in Ihr Toilettezimmer. Lisette führte ihn über den Korridor, durch zwei oder drei Zimmer, dann eine Wendeltreppe hinunter. Aber unten an der Treppe fanden die Fliehenden die Tür verschlossen. Sie gingen nun in ein kleines Zimmer des Erdgeschosses. Lisette öffnete das Fenster, der Baron Raoul sprang hinaus, eilte zu der Schweizerhütte und bestieg sein Pferd. Aber als er fortreiten wollte, zeigte es sich, dass dem armen Tier die Sehnen durchschnitten waren. Da fasste er im Stillen den Vorsatz, dem Grafen, wenn er ihn fände, ebenfalls die Sehnen zu durchschneiden, denn es empörte ihn, dass das edle Tier so verstümmelt war. Dann eilte er zu Fuß durch die Maueröffnung. Aber kaum trat er ins Freie, so fand er den Grafen mit gezogenem Degen. Der Baron hatte seinen Hirschfänger … der Kampf begann.«

»War der Graf allein?«

»Warten Sie nur … Der Graf schien allein zu sein. Bei dem dritten oder vierten Ausfall gab sich der Graf eine Blöße und erhielt einen Stich durch die Schulter. Er sank auf die Knie nieder und rief: ›Hierher, Lestocq!‹ Da erinnerte sich der Baron seines Schwurs und durchschnitt ihm die Sehnen an der Kniekehle, wie der Graf dem herrlichen Pferd die Sehnen durchschnitten hatte. Aber in dem Augenblick, als er sich aufrichtete und abwandte, stieß ihm Lestocq den Hirschfänger in den Rücken … Das Übrige können Sie erraten.«

»Redet. Ich wünsche alles zu hören.«

»Der Graf begab sich, von seinem Jäger geführt, ins Schloss und ließ den Baron hilflos liegen. Er kam wieder zur Besinnung, rief einige vorübergehende Bauern, die ihn auf eine Tragbahre legten und forttrugen. Die Absicht der Leute war, ihn nach Villers-Cotterets zu bringen. Aber in Puiseur wurden seine Schmerzen so heftig, dass er den weiteren Transport nicht ertragen konnte. Man legte ihn auf das Bett, wo Sie ihn gesehen haben, und wo er um halb zehn Uhr abends den Geist aufgab.«

Die Gräfin stand auf, ging schweigend zu ihrem Schmuckkästchen, nahm die Perlenschnur, die sie tags zuvor getragen hatte, heraus und überreichte sie Thibaut.

»Was ist das?«, fragte er.

»Nehmt«, sprach sie, »die Perlen sind fünfzigtausend Livres wert.«

»Wollen Sie sich rächen?«, fragte Thibaut.

»Ja«, antwortete die Gräfin.

»Die Rache ist teurer als diese Perlen.«

»Wie teuer denn?«

»Erwarten Sie mich morgen Abend, und ich will es Ihnen sagen.«

»Wo soll ich Euch erwarten?«, fragte die Gräfin.

»Hier.«

Gegen alle Erwartung schien die Gräfin über die Frechheit des Bauern nicht entrüstet zu sein.

»Gut, ich werde Euch erwarten«, sagte sie in ihrer lakonischen Weise. »Auf morgen also.«

»Ja, auf morgen.«

Thibaut entfernte sich. Die Gräfin legte die Perlen wieder in das Kästchen, hob einen doppelten Boden auf, nahm ein Fläschchen, welches eine opalfarbene Flüssigkeit enthielt, und einen kleinen, mit Edelsteinen besetzten Dolch heraus, steckte Fläschchen und Dolch unter ihre Kopfkissen, kniete nieder, betete eine Weile und warf sich in vollen Kleidern auf ihr Bett.