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Die Geschichte vom Werwolf Teil 9

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 9
Thibauts Wünsche

Die Müllerin war fast ebenso erschrocken wie Landry selbst, als sie sah, welchen Eindruck die sich nähernden Militärpersonen auf ihn machten.

»Ach, mein Gott!«, sagte sie, »was gibt es denn, armer Landry?«

»Ja, was gibt es?«, fragte Thibaut ebenfalls, obschon mit etwas zitternder Stimme.

»Was es gibt?«, erwiderte Landry. »Letzten Donnerstag traf ich den Werber im Gasthof zum »Dauphin«, und in meiner Verzweiflung ließ ich mich anwerben.«

»In einem Augenblick der Verzweiflung!«, sagte die Müllerin. »Warum verzweifeltet Ihr denn?«

»Ich verzweifelte«, erwiderte Landry, der all seinen Mut zusammennahm, »weil ich Euch liebte.«

»Und deshalb wolltet Ihr Soldat werden?«

»Habt Ihr nicht gesagt, Ihr wollet mich fortjagen?«

»Habe ich Euch denn fortgejagt?«, fragte die Müllerin mit einem Ausdruck, der unmöglich zu verkennen war.

»Ach, mein Gott!«, sagte Landry, »Ihr würdet mich also nicht fortgeschickt haben?«

»Armer Junge!«, sagte die Müllerin mit einem Lächeln, über welches Landry in einem anderen Augenblick entzückt gewesen wäre, welches aber nur seinen Schmerz verdoppelte. »Aber vielleicht habe ich noch Zeit, mich zu verstecken.«

»Dich verstecken!«, sagte Thibaut. »Das wäre vergebens.«

»Warum nicht?«, entgegnete die Müllerin. »Ich will es versuchen. Komm, armer Landry.«

Sie führte den Burschen mit den Zeichen der lebhaftesten Teilnahme hinaus.

Thibaut schaute ihnen nach. »Die Sachen stehen schlecht«, sagte er. »Zum Glück haben die Werber feine Nasen. Sie werden ihn schon finden.«

Er sagte dies, ohne zu bedenken, dass er einen neuen Wunsch aussprach.

Die Witwe schien Landry in der Nähe versteckt zu haben, denn sie kam nach einigen Sekunden zurück. Das Versteck mochte trotzdem recht gut sein.

Ein paar Minuten, nachdem die Müllerin ganz außer Atem wieder in die Stube gekommen war, erschien der Sergent der Werber mit einem seiner Begleiter in der Tür.

Zwei waren draußen geblieben, vermutlich um Landry zu ergreifen, falls er einen Fluchtversuch machen würde.

Der Sergent und sein Begleiter traten ohne Komplimente ein, wie Leute, die in ihrem Recht sind. Der Unteroffizier sah sich in der Stube um, stellte den rechten Fuß in die dritte Position und hielt die Hand an den Hut.

Die Müllerin wartete nicht, bis der Sergent sie anredete. Sie bot ihm mit ihrem freundlichsten Lächeln Erfrischungen an.

Ein solches Anerbieten wird von keinem Werber abgelehnt.

Während sich die Soldaten den Wein schmecken ließen, fragte die Witwe um die Ursache ihres Erscheinens in der Mühle.

Der Sergent antwortete, er suche einen Müllerburschen, der, nachdem er mit ihm auf die Gesundheit Sr. Majestät getrunken und Handgeld genommen hatte, nicht wieder erschienen sei. Der Müllerbursche habe erklärt, er heiße Landry und sei in der Mühle zu Cayolles bei der Witwe Polet im Dienst. Er sei daher gekommen, um seinen Rekruten zu holen.

Die hübsche Müllerin, in der Voraussetzung, dass eine Lüge erlaubt sei, wenn man eine gute Absicht dabei habe, antwortete, sie kenne Landry nicht und kein Müllerbursche dieses Namens sei in ihren Diensten gewesen.

Der Sergent antwortete, sie habe die schönsten Augen von der Welt und einen nicht minder hübschen Mund, allein dies sei gar kein Grund, dass er ihren Augen und ihrem Mund aufs Wort glauben müsse. Zugleich erklärte er der schönen Witwe, dass er Haussuchung halten werde.

Die Haussuchung begann. In fünf Minuten kam der Sergent zurück und ersuchte die Müllerin um ihren Zimmerschlüssel.

Die Müllerin war ganz beleidigt über eine solche Zumutung. »Glaubt Ihr denn«, sagte sie, »ich gehöre zu den Müllerinnen, die ihre Dienstleute unter ihrem Bett verstecken?«

»Nein«, antwortete der Sergent, »aber Landry könnte einer von den Müllerburschen sein, die sich unter dem Bett ihrer Müllerin verstecken.«

Die schöne Witwe sträubte sich mit allen Kräften, aber der Sergent ließ nicht nach und sie musste endlich den Schlüssel herausgeben.

Fünf Minuten danach kam der Sergent wieder und führte Landry am Kragen herein.

Bei diesem Anblick wurde die Witwe leichenblass.

Thibaut fühlte sein Herz ungestüm pochen, denn er sah wohl, dass der schwarze Wolf dabei im Spiel gewesen war.

»Es scheint, mein Junge«, sagte der Sergent spottend, »dass wir lieber der Schönheit als dem König dienen. Ich finde es ganz begreiflich, aber wenn man das Glück hat, auf dem Gebiet Sr. Majestät geboren zu sein und auf seine Gesundheit getrunken zu haben, so muss man dem König auch dienen. Du wirst mir also folgen, mein schöner Kamerad, und wenn du einige Jahre in der französischen Garde gedient hast, so kannst du wieder unter deine erste Fahne zurückgehen. Vorwärts! Marsch!«

»Aber«, sagte die Müllerin, »er ist noch nicht zwanzig Jahre alt, man hat nicht das Recht, ihn früher zu nehmen.«

»Das ist wahr«, sagte Landry, »ich bin noch nicht zwanzig Jahre.«

»Wann werdet Ihr es?«

»Erst morgen.«

»Gut«, sagte der Sergent, »wir wollen Euch diese Nacht unter ein Bündel Stroh legen, wie eine Mispel, morgen früh werdet Ihr reif sein.«

Landry weinte, die Witwe bat, beschwor, ließ sich von den Werbern küssen, ließ sich die plumpen Späße derselben gefallen und bot sogar hundert Taler, um ihn loszukaufen. Alles war vergebens. Man band dem armen Landry die Hände, ein Soldat nahm das Ende des Strickes und so ging es fort, nachdem der arme Rekrut der schönen Müllerin beteuert hatte, er werde sie auch in der Ferne immer lieben, und ihr Name werde, falls er sterben sollte, das letzte Wort auf seiner Zunge sein.

Die schöne Witwe setzte angesichts einer solchen Katastrophe alle Rücksicht beiseite. Sie schloss Landry zärtlich in ihre Arme.

Als die kleine Truppe hinter den Bäumen verschwunden war, wurde der Schmerz der Müllerin so heftig, dass sie in Ohnmacht fiel und zu Bett gebracht werden musste.

Thibaut bereitete ihr die sorgsamste Pflege. Die große Zärtlichkeit, welche die Witwe seinem Vetter erwiesen hatte, machte ihn zwar um den Erfolg seiner Werbung etwas besorgt, aber er freute sich doch, das Übel mit der Wurzel ausgerottet zu haben und hegte gute Hoffnung.

Als die Witwe wieder zur Besinnung kam, war der Name Landry das erste Wort, welches sie sprach.

Thibaut heuchelte lebhaftes Mitleid.

Die Müllerin fing zu schluchzen an. »Der arme Landry!«, sagte sie bitterlich weinend. »Was wird aus ihm werden? Er ist zu schwach, zu zart, er wird Gewehr und Tornister nicht tragen können … Ja, es ist ein großer Kummer für mich. Aber Ihr habt vielleicht bemerkt, Thibaut, dass ich ihm gut war. Er war ein herzensguter Mensch, kein Trinker, kein Spieler, er hatte keinen Fehler. Er würde meinem Willen nie zuwidergehandelt, nie seine Frau tyrannisiert haben. Dies wäre ein großes Glück für mich gewesen, nach den beiden Leidensjahren, die ich mit Polet verlebt habe. Ach! Es ist sehr traurig für eine unglückliche Frau, alle ihre Hoffnungen so verschwinden zu sehen!«

Thibaut glaubte eine günstige Gelegenheit zu haben, sich zu erklären, denn er wähnte, ein Frauenzimmer weine nur, um getröstet zu werden. Er glaubte indes, nur auf einem Umweg sein Ziel erreichen zu können.

»Ich verstehe Euren Schmerz und teile ihn«, antwortete er, »denn Ihr könnt denken, dass ich meinem Vetter vom Herzen gut war. Aber man muss sich in das Unabänderliche fügen. Glaubt Ihr nicht, schöne Müllerin, dass Ihr einen Ersatz für Landry finden könnt?«

»Einen Ersatz?«, erwiderte die Witwe. »Nein, wo sollte ich einen so guten und verständigen jungen Mann finden? Er hatte ein so einnehmendes, sanftes Gesicht, er war so anständig in seinem Benehmen, so umsichtig und fleißig … Nein, nein, ich sage Euch ganz aufrichtig, die Erinnerung an ihn wird mir die Lust nehmen, mich nach einem anderen umzusehen, und ich werde wohl mein ganzes Leben Witwe bleiben.«

»Landry war sehr jung«, entgegnete Thibaut.

»Das ist gerade kein Fehler«, meinte die Witwe.

»Wer weiß, ob er später diese liebenswürdigen Eigenschaften behalten hätte. Tröstet Euch, schöne Müllerin, und schlagt ihn Euch aus dem Sinn. Ihr braucht keinen Gelbschnabel, sondern einen tüchtigen Mann, der alle guten Eigenschaften Landrys besitzt, zugleich aber gesetzt genug ist, dass Ihr nicht zu fürchten habt, Eure schönen Täuschungen könnten einst schwinden und Ihr hättet am Ende einen ausschweifenden, rohen Mann.«

Die Müllerin schüttelte den Kopf, aber Thibaut fuhr fort.

»Kurz, Ihr braucht einen Mann, der Euch schützend zur Seite steht und zugleich Eure Wirtschaft gut betreibt.

Ihr dürft nur ein Wort sagen, schöne Müllerin, und Ihr werdet einen Mann finden, wie Ihr ihn braucht.«

»Und wo sollte ich ein solches Wunder von einem Mann finden?«, fragte die Müllerin, indem sie sich aufrichtete und Thibaut gleichsam herausfordernd ansah.

Thibaut gab diesen letzten Worten eine nicht ganz richtige Deutung. Er hielt die Gelegenheit für günstig und beschloss sie zu benutzen, um seine Absichten zu erkennen zu geben.

»Ich gestehe«, erwiderte er, »dass ich an mich dachte, als ich sagte, Ihr brauchtet nicht weit zu gehen, um einen für Euch passenden Mann zu finden. O, mit mir«, fuhr er fort, während ihn die Müllerin mit drohenden Blicken ansah, »mit mir hättet Ihr nicht zu fürchten, tyrannisiert zu werden. Ich würde mich glücklich schätzen, Euer Gatte zu werden, ich würde nur eine Pflicht und einen Wunsch kennen: die Pflicht, Euch zu gehorchen, den Wunsch, Euch zu gefallen! Und was euer Vermögen betrifft, so kann ich es durch gewisse Mittel vergrößern, die ich Euch später nennen werde …«

»Was!«, erwiderte die Müllerin, ihn mit Entrüstung unterbrechend, »Ihr wollt sein Freund sein und erbietet Euch seine Stelle in meinem Herzen einzunehmen! Ihr wollt mich treubrüchig machen! Fort von hier, Elender! Ich sollte meine Knechte rufen und dich unter das Mühlrad werfen lassen!«

Thibaut wollte antworten, aber ungeachtet seiner gewöhnlichen Zungenfertigkeit fand er kein Wort zu seiner Rechtfertigung.

Die Müllerin ließ ihm freilich keine Zeit dazu. Sie ergriff einen Krug und warf ihn dem neuen Verehrer an den Kopf. Zum Glück wandte Thibaut den Kopf links, der Krug streifte nur seine Haare und zerschellte am Kamin.

Die Müllerin nahm in ihrem Zorn einen Schemel und warf mit derselben Gewalt nach ihm. Dieses Mal wandte Thibaut den Kopf rechts, und der Schemel zerbrach einige Fensterscheiben.

Auf den Lärm hin eilten die Müllerburschen und die Mägde herbei. Sie sahen, wie die Frau des Hauses ihrem Gast alles, was ihr in die Hand kam, Flaschen, Teller, Salzfässer, an den Kopf warf.

Zum Glück für Thibaut war die schöne Witwe so aufgebracht, dass sie nicht reden konnte.

Als Thibaut sah, dass die Müllerin Verstärkung erhielt, wollte er fliehen und eilte auf die Tür zu, welche die Werber offen gelassen hatten. Aber als er den Hof betrat, kam ein Schwein, welches, durch den Lärm aus seiner Ruhe aufgeweckt, in den Stall eilen wollte, in vollem Lauf auf ihn zu und warf ihn um.

»Der Teufel hole dich, verwünschtes Tier!«, rief Thibaut, der sich mühsam aufrichtete und seine mit Kot beschmutzten Sonntagskleider betrachtete.

Kaum hatte er diesen Wunsch ausgesprochen, so schien das Schwein plötzlich toll zu werden. Es lief wie ein Wütender auf dem Hof umher und zertrümmerte alles, was ihm in den Weg kam.

Die Dienstleute, welche herbeigeeilt waren, glaubten, die Tollheit des Schweines sei die Ursache des Lärms und liefen ihm nach. Aber vergebens versuchten sie das Tier zu überwältigen. Es warf die Müllerburschen und Mägde nacheinander um, bis es endlich eine Bretterwand, welche die Mühle von der Schleuse trennte, so leicht durchbrach, als ob es eine Papiertapete gewesen wäre, und sich unter das Mühlrad stürzte. Hier verschwand es wie in einem Abgrund.

Unterdessen war die Müllerin der Sprache wieder mächtig geworden.

»Fallt über Thibaut her!«, rief sie ihren Leuten zu, denn sie hatte den Fluch gehört und mit Erstaunen gesehen, wie derselbe in Erfüllung gegangen war. »Schlagt ihn nieder! Er ist ein Zauberer, ein Hexenmeister, ein Werwolf!« Mit dieser letzten Benennung gab sie Thibaut den furchtbarsten Namen, den man im Gebirge einem Menschen geben kann.

Thibaut, dem nicht ganz wohl zumute wurde, benutzte den ersten Augenblick des Schreckens, den dieser Zuruf der Müllerin in ihren Leuten erweckte. Er lief mitten durch die Müllerburschen und Mägde hindurch. Während der eine eine Mistgabel, der andere eine Schaufel suchte, eilte er zur Hoftür hinaus und lief mit einer Leichtigkeit, welche die schöne Müllerin in ihrem Verdacht noch bestärkte, einen steilen, für unzugänglich gehaltenen Berg hinauf.

»Nun, warum lauft Ihr ihm nicht nach?«, eiferte die Müllerin. »Warum lasst Ihr ihn fort? Warum schlagt Ihr ihn nicht tot?«

Aber die Leute schüttelten die Köpfe und sagten: »Wer kann dem Werwolf etwas anhaben?«