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Der Welt-Detektiv Band 6

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Fantomas – Kapitel 12.2

Monsieur Louis ließ sich nicht täuschen: Henri Verbier dachte offenkundig an seine charmante junge Tischnachbarin.

Kaum hatte Mademoiselle Jeanne ihr Zimmer in der fünften Etage des Hotels erreicht und das Fenster geöffnet, um einen Blick über das herrliche Panorama, welches sich unter ihr ausbreitete, zu werfen und die windstille Nachtluft einzuatmen, als ein leichtes Anklopfen an der Tür zu hören war. Henri Verbier trat in den Raum, ihrer Einladung folgend.

»Mein Zimmer ist neben dem Ihren«, sagte er. »Als ich Sie so verträumt am Fenster stehen sah, dachte ich, dass Sie vielleicht geruhen würden, eine ägyptische Zigarette zu rauchen. Ich habe einige aus Kairo mitgebracht. Es ist ein milder Tabak, ein echter Damentabak.«

Das Mädchen lachte und nahm eine der eleganten Zigaretten aus dem Etui, welche ihr Henri Verbier anbot.

»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie an mich denken«, sagte sie. »Eigentlich rauche ich nicht, aber ich lasse mich manchmal dazu verführen.«

»Wenn ich aus Ihrer Sicht freundlich zu Ihnen gewesen bin, könnten Sie mir sehr leicht Ihre Dankbarkeit zeigen«, erwiderte Henri Verbier, »und mir erlauben, ein paar Minuten hierzubleiben und mit Ihnen eine Zigarette zu rauchen.«

»Auf jeden Fall«, sagte Mademoiselle Jeanne. »Ich liebe es, nachts ein wenig Zeit an meinem Fenster zu verbringen und die Luft zu genießen, bevor ich zu Bett gehe. Sie können verhindern, dass ich müde werde, und mir alles über Kairo erzählen.«

»Ich befürchte, dass ich sehr wenig über Kairo weiß«, sagte Henri Verbier. »Sehen Sie, ich verbrachte fast die ganze Zeit im Hotel. Aber da Sie so nett und freundlich wirken, wünschte ich, Sie würden mir einige Dinge sagen können.«

»Aber ich bin doch eine unwissende junge Frau.«

»Sie sind eine Frau, und das ist genug. Hören Sie, ich bin hier ein Neuankömmling und ich bin mir durchaus bewusst, dass mein Eintreffen und meine Position mir einige Feinde einbringen werden. Nun, vor wem sollte ich auf der Hut sein? Wer ist es unter den Mitarbeitern, vor dem ich mich in acht nehmen sollte? Ich frage umso mehr besorgt, weil ich Ihnen sage, dass ich keine persönlichen Kontakte zu den Behörden habe. Ich bekam nicht die gleiche Chance, die Sie haben.«

»Woher wissen Sie, dass ich irgendwelche Kontakte hatte?«, fragte das Mädchen.

»Mein Gott, ich bin davon überzeugt«, antwortete Henri Verbier. Er hatte seine Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt und näherte sich schrittweise der jungen Kassiererin. »Ich glaube, dass so eine wichtige Position, die Sie innehaben, absolute Integrität und Kompetenz erfordert. Ihre Arbeit ist nicht anstrengend, aber das bedeutet nicht, dass sie jedem anvertraut würde.«

»Sie haben recht, Monsieur Verbier. Ich hatte eine Vorstellung bei der Direktion des Hauses und konnte mit erstklassigen Referenzen aufwarten.«

»Sind Sie schon lange im Geschäft? Zwei Jahre, drei Jahre?«

»Ja«, antwortete Mademoiselle Jeanne bewusst zurückhaltend, ohne ausführlicher darauf einzugehen.

»Ich frage nur, weil ich glaube, dass ich Sie irgendwo schon mal gesehen habe. Ich erkenne Ihre Augen!« Henri Verbier lächelte und schaute das Mädchen vielsagend an. »Mademoiselle Jeanne, in Sommernächten wie diese und bei einem so reizvollen Anblick, kommt da bei Ihnen nicht ein gewisses Gefühl auf?«

»Nein. Was meinen Sie?«

»Oh, ich weiß nicht. Aber sehen Sie, ich bin leider ein sentimentaler Kerl und leide wirklich sehr darunter, immer in der einsamen Isolierung ohne jede Zuneigung zu leben. Es gibt Zeiten, da fühle ich mich, als ob Liebe eine absolute Notwendigkeit wäre.«

Die Kassiererin schaute ihn ironisch an. »Das ist alles Dummheit. Liebe ist einfach nur bescheuert und der schlimmste Fehler, gegen den man sich schützen sollte. Liebe bedeutet für die arbeitenden Menschen, wie wir es sind, immer Elend.«

»Sie sind es, die dumm ist«, protestierte Henri Verbier weltmännisch, »oder Sie sind verschmitzt. Nein, Liebe ist für uns arbeitenden Menschen dumm. Im Gegenteil! Es ist das einzige Mittel, welches wir zur Erreichung des perfekten Glücks besitzen. Liebende sind reich!«

»Sie schwelgen im Glück, welches sie im Hunger sterben lässt«, spottete sie.

»Nein, nein«, antwortete er. »Nein. Schauen Sie: Sie und ich arbeiten hart, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Nun, nehmen wir an, dass Sie nicht über mich lachen und wir beide ein Liebespaar wären. Wäre es nicht an der Zeit, das Leben zu genießen, da wir uns dies verdient haben?«

Als das Mädchen darauf nicht reagierte, nahm Henri Verbier, welcher ein erfahrener Verehrer und die ganze Zeit näher an sie herangerückt war, sodass sich ihre Schultern berührten, ihre Hand. »Ist das nicht süß«, sagte er. »Ich sollte Ihre kleinen Finger in meine … etwa so. Ich sollte zärtlich auf sie schauen und sie an meine Lippen führen …«

Aber das Mädchen riss sich weg. »Lassen Sie mich los! Das verbitte ich mir! Haben Sie mich verstanden?« Und dann, um die Schärfe ihrer Zurechtweisung abzuschwächen und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, sagte sie: »Es beginnt kalt zu werden. Ich werde mir einen Umhang über die Schultern legen.« Sie rückte etwas vom Fenster ab, um einen Umhang vom Wandkleiderhaken zu nehmen.

Henri Verbier beobachtete sie, ohne sich dabei zu bewegen. »Wie unfreundlich Sie sind«, sagte er vorwurfsvoll, das böse Funkeln in ihren Augen ignorierend. »Kann es wirklich falsch sein, einen Kuss an einem so schönen Abend wie diesen zu genießen. Wenn es Ihnen kalt ist, Mademoiselle Jeanne, gibt es eine bessere Art und Weise, um warm zu werden, als sich einen Umhang über die Schultern zu legen – sich in den Armen eines anderen auszuruhen.«

Er streckte seine Arme aus, als er sprach, bereit, um das Mädchen aufzufangen, als es den Raum durchquerte. In dem Augenblick, sie in die Arme zu nehmen, wie er es vorgeschlagen hatte, wich sie ihm mit einer plötzlichen Wendung aus und verpasste ihm, rasend vor Wut, einen gewaltigen Schlag an die Schläfe. Mit einem erdrückenden Stöhnen fiel Henri Verbier bewusstlos zu Boden.

Mademoiselle Jeanne starrte ihn einen Moment lang an, selbst etwas über die Situation verblüfft. Mit einer erstaunlichen Schnelligkeit sprang die junge Kassiererin zum Fenster und schloss es eilig. Sie nahm ihren Hut vom Kleiderhaken, setzte diesen mit einer einzigen Geste auf, öffnete eine Schublade und entnahm dieser eine kleine Tasche. Nach einer Minute lauschte sie, um sicher zu sein, dass sich niemand auf dem Korridor befand, öffnete die Tür, ging aus dem Zimmer, verschloss dieses und rannte die Treppe hinunter.

Zwei Minuten später ging Mademoiselle Jeanne lächelnd am Portier vorbei und wünschte diesem eine gute Nacht.

»Au revoir!«, sagte sie. »Ich gehe hinaus, um noch ein wenig die frische Luft zu genießen.«

***

Langsam, als ob aus einem seltsamen Traum auftauchend, begann sich Henri Verbier von seiner kurzen Bewusstlosigkeit zu erholen. Zunächst konnte er nicht verstehen, was mit ihm geschehen war, warum er auf dem Boden lag, warum sein Kopf so sehr schmerzte oder warum seine blutunterlaufenden Augen alles wie durch einen Nebel sahen. Er rappelte sich allmählich in eine sitzende Haltung hoch und schaute sich im Zimmer um.

»Niemand hier!«, murmelte er. Dann, als ob der Klang seiner eigenen Stimme ihn wieder zum Leben erweckt hatte, stand er auf, eilte zur Tür und rüttelte an ihr. »Verschlossen!«, knurrte er wütend. »Und ich kann rufen, bis ich schwarz im Gesicht bin! Niemand wird nach oben kommen. Ich bin eingesperrt!« Er wandte sich dem Fenster zu, um nach Hilfe zu rufen. Aber als er am Spiegel über dem Kaminsims vorüberging, sah er sein eigenes Spiegelbild – die Beule an der Stirn, mit einem winzigen Riss in der Haut, aus welchem ein wenig Blut tröpfelte. Er trat nahe an das Spiegelglas heran und betrachtet die Wunde genauer. »Obwohl ich Juve bin«, murmelte er, »habe ich mich von einer Frau niederschlagen lassen.«

Juve hin, Juve her – er hatte sich geschickt getarnt. Der Inspecteur stieß einen jähen Fluch aus, ballte die Fäuste und knirschte vor Wut mit den Zähnen. »Verdammt! Ich verfluche jene Frau, die mir diesen Schlag versetzt hat!«