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Der Schwur – Zweiter Teil – Kapitel 7

Der-SchwurDer Schwur
Historischer Roman aus dem mexikanischen Unabhängigkeitskrieg

Zweiter Teil
Ein moderner Odysseus

Kapitel 7
Sieg der Pflicht über die Liebe

Die Einnahme der Insel la Roqueta hatte dann auch die endliche Übergabe des Schlosses zur Folge. Mit dem Tag, an dem der Pfarrer von Caracuaro sein Dorf in Begleitung zweier Diener verlassen hatte, war ihm nun der ganze Süden der Provinz Mexiko vom Stillen Ozean bis auf sechzehn Wegstunden von der Hauptstadt Neuspaniens unterworfen. Freilich hatten erst zweiundzwanzig gewonnene Schlachten diesen Erfolg herbeigeführt.

Während sich nun der mexikanische General vorbereitet, seine Eroberungen bis in dieselbe Provinz Oajaca, wo wir zuerst seine Bekanntschaft gemacht haben, auszudehnen, wollen wir ihm dorthin voraneilen, um den Nebelschleier von anderen Begebenheiten, die sich dort in demselben Jahr 1812, zutrugen, wegzublasen.

Es war ein glühender Junimorgen, die Regenzeit war noch nicht eingetreten, die Sonne brannte mit versengenden Strahlen auf der staubigen Ebene von Huajapam. Ein Gürtel entfernter Hügel, dessen Bläue sich fast mit dem unwandelbaren Azur des mexikanischen Himmels vermischte, diente dazu, eines jener Bilder der Verwüstung und der Trauer einzurahmen, die das zerstörende Genie des Menschen sich manchmal mit teuflischem Erfindungsdrang herzustellen gefällt.

Soweit nur immer das Auge reichte, sah man auf der einen Seite zahlreiche Reiter die verwüstete Ebene durchstreifen, inmitten ausgeplünderter Wohnhäuser oder noch rauchender Brandruinen. Die Hufe der Rosse zerstampften reiche Ähren, die nur noch auf die Hand der erschreckten und in die Flucht gejagten Schnitter harrten. Der im weitesten Sinne des Wortes niedergetretene Boden bot nur noch einen wirren Haufen geknickter und umhergestreuter Halme dar, die der Reiter verschmäht hatte, seinem Pferd als Fütterung zu reichen.

Dichte Gruppen schwarzer Geier, die nach allen Richtungen herumzogen, zeigten die Plätze an, aus denen Leichname von Menschen und Tieren ihrer Gefräßigkeit überlassen waren.

Auf einer anderen Seite flatterte das spanische Banner auf dem Zelt eines Lagers der königlichen Armee. Die Biwakfeuer verglommen nach und nach, und das Gewieher der Pferde vermischte sich mit dem dumpfen Gerassel der Trommel oder den schmetternden Tönen der Trompeten.

Jenseits des spanischen Lagers, etwa zwei Flintenschüsse von ihren äußeren Verschanzungen entfernt, erhoben sich über den niedrigen Häusern einer kleinen Stadt die von den Bomben halb zerstörten Dome der Kirchen. Diese Stadt oder eigentlich dieser Flecken war in der Gewalt der Insurgenten.

Starke Erdwälle verbanden die einzeln liegenden Häuser miteinander, die zum größten Teil schon zusammengestürzt waren, und bildeten dem royalistischen Lager gegenüber nur eine Reihe unvollständiger Befestigungswerke. Der zwischen dem Flecken und dem spanischen Lager leer gebliebene Teil der Ebene war mit verstümmelten Leichnamen bedeckt.

Der Name des Fleckens ist Huajapam und sein Verteidiger war der Colonel Don Valerio Trujano, der den Flecken schon seit hundert Tagen mit ungefähr dreihundert Mann gegen eine Macht von fünfzehnhundert Spaniern unter den Befehlen des Brigadiers Bonavia, Gouverneur von Oajaca, und der Kommandeure Caldelas und Regules verteidigten.

Der frühere Maultiertreiber, der, wie sich der Leser erinnern wird, im Angesicht der Überschwemmung und im Kampf gegen die Gewalt der Fluten sein de prokundis und sein in manos tuas angestimmt hatte, ohne Zweifel eine religiöse, schwärmerische Stimmung auch den Belagerten eingeflößt, denn von Zeit zu Zeit drang der Schall eines religiösen Gesangs, der aus dreihundert Kehlen zum Himmel emporstieg, aus dem Innern der traurigen und zerstörten Stadt in das Lager der Royalisten.

In jener Zeit, wo die Priester den Altar mit dem Schlachtfeld vertauschten, wo nichts in ihren Handlungen, in ihren Worten mehr an den früheren Stand erinnerte, bot Trujano das Bild eines der strengsten Typen unserer Religionskriege dar. Er glich jenen asketischen Helden, die, das Vater unser murmelnd, mit dem Schwert in der Faust erbarmungslos alles vor sich hinwürgten und Bibelverse auf den Lippen in die Schlacht stürzten.

Dies war das Bild, das an jenem Morgen die Ebene von Huajapam darbot, überall verheerte Felder, Ruinen, Leichname und das royalistische Banner der dreifarbigen Fahne der Insurrektion gegenüber.

Werfen wir zuerst einen Blick in das royalistische Lager.

Mit Beginn des Tages führten zwei Reiter einen Mann mit sich und betraten das Lager an der der Stadt entgegengesetzten Seite.

Dieser Mann, der ebenfalls zu Pferd war, trug die Bekleidung eines Hirten, den großen mit Wachsleinwand überzogenen Sombrero, die Jacke und die ziegelroten hirschledernen kurzen Hosen. An der Satteltasche war der Zarag befestigt und an seinen Stiefeln trug er lange eiserne Sporen. Das noch von der Ansicht und der Ausdünstung der aus dem Teil der Ebene, den es eben passiert hatte, ausgestreuten Leichnamen erschrockene Pferd ließ von Zeit zu Zeit ein sonderbares Hecheln vernehmen.

Die beiden Reiter, welche die Einheitskleidung der Dragoner trugen, und der Hirte durchritten einen Teil des Lagers und hielten vor einem ziemlich umfassenden Zelt an, neben dem einer der diensttuenden Soldaten des Obersten ein nicht minder schönes und mutiges Pferd, wie das, welches herankam, striegelte.

»Euer Name, Freund?«, fragte der Bursche den Hirten.

»Julian«, erwiderte dieser. »Ich bin ein Diener der Hazienda del Valle und überbringe dem Obersten, wenn er der Bewohner des Zeltes ist, eine für ihn sehr wichtige Nachricht.«

»Gut«, sagte der Bursche, »ich will den Oberst benachrichtigen.«

Man traf eben im Lager Vorbereitungen, den fünfzehnten Angriff auf die vom Obersten Trujano verteidigte Stadt zu unternehmen, und Don Rafael Tres-Villas hatte sich in große Uniform geworfen, um einem Kriegsrat beizuwohnen, der vor dem Sturm abgehalten werden sollte, als der Bursche in sein Zelt trat.

Bei dem Wort Botschaft, das der Bursche des Obersten aussprach, konnte dieser eines jähen Zitterns nicht Herr werden und nicht verhindern, dass eine fahle Farbe seine Stirn bedeckte.

»Es ist gut«, antwortete Don Rafael mit einer Stimme, die seine innere Regung verriet. »Ich kenne den Menschen, ich bürge für ihn. Man soll ihn freilassen – noch einen Moment, dann mag er eintreten.«

Der Bursche ging hinaus, um die Antwort seines Herrn zu überbringen. Die Dragoner, die den Hirten bis dahin transportiert hatten, entfernten sich und ließen ihn allein den Moment erwarten, seine Mitteilung an den Mann zu bringen.

 

***

 

Wir dürfen hier mit einigen Worten das aus der Geschichte Don Rafaels seit seinem Ausbruch nach Oajaca nachholen, was durchaus nötig zur Erkenntnis beiträgt.

Als der durch den Tod seines Vaters hervorgerufene Schmerz sich ein wenig gelegt hatte und als die tödliche Unruhe, die er empfand, seitdem er die schreckliche Verpflichtung, die seinen innersten Gefühlen widerstritt, auf sich genommen hatte, anfing, in eine dumpfe Ruhe überzugehen, konzentrierten sich alle seine Gedanken nur auf einen Punkt, den nämlich, nach Oajaca zu gehen, dort den Kommandanten der Provinz, den Brigadegeneral Don Bernardino Bonavia, aufzusuchen, und von ihm einen Trupp zu erlangen, mit dem er sich zur Verfolgung der meuchlerischen Insurgenten auf den Weg machen könne.

Der General empfing ihn mit außerordentlichen Ehrenbezeugungen. Zum Unglück für ihn waren aber der Geist der Widerspenstigkeit und die Gärung in der Stadt so groß, dass die fünfhundert Mann, die er unter seinen Befehlen hatte, kaum ausreichten, Oajaca im Zaum zu halten. Es gelang Don Rafael nicht, Bonavia zu veranlassen, seine ohnehin schon so geringen Streitkräfte noch zu schwächen.

Ein spanischer Hauptmann, Don Juan Antonio Caldelas, organisierte zu gleicher Zeit, da er die Gefahren, denen seine Landsleute ausgesetzt waren, fürchtete, eine Guerilla auf seine Kosten zugunsten der spanischen Sache, und zwar in einem nur eine kurze Strecke von Oajaca entfernten Ort. Don Rafael, nach Rache dürstend, nahm keinen Anstand, sich mit ihm zu verbinden. Der Hauptmann Caldelas traf alle Vorkehrungen, um gegen Antonio Valdes zu marschieren.

Caldelas hatte nicht wie Don Rafael Beweggründe zu einer persönlichen Abneigung gegen den Parteigänger. Er wollte, indem er sein Streifkorps sprengte, den Geist der Empörung vernichten, zu dessen Verbreiter und Stütze Valdes sich gemacht hatte. Deshalb stellte er die Handvoll Leute, die unter seinen Befehlen standen, bereitwillig zu Diensten der Rache Rafaels. Beide marschierten nun gegen die Insurgenten und holten sie bei dem Hügel Chacahua ein, wo der Hüter sich verschanzt hatte. Ungeachtet des tapferen Widerstandes, den die Spanier fanden, gelang es ihnen, die Insurgenten aus ihrer Stellung zu vertreiben, ohne sich aber der Person des Anführers bemächtigen zu können.

Vierzehn Tage vergingen in vergeblichen Verfolgungen, bis am Ende dieser Frist die Leute des Valdes denselben nach einem blutigen Gefecht, in dem sie geworfen worden waren, an dem zum Voraus im Falle einer Niederlage bestimmten Sammelplatz nicht wiedersahen.

Sie hörten nichts mehr von ihrem Anführer, der von jenem Augenblick ab verschwunden war, ohne je wieder auf dem Schauplatz zu erscheinen. Valdes floh, als er das glühende und raue Schnaufen eines ihn im gestreckten Galopp verfolgenden Pferdes hörte. Der Braune des Hauptmanns Tres-Villas hatte ihn in einigen Sätzen erreicht.

Ein kurzer Kampf entspann sich zwischen beiden. Bald aber wurde der Hirte trotz seiner Gewandtheit im Reiten von einer kräftigen Faust aus dem Sattel gerissen und so gewaltsam zur Erde geworfen, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich dem Lasso des Hauptmanns in seinen unauflöslichen Verschlingungen, mit denen es ihn umgab, zu entwinden und zu verhindern, dass er ihm an den Schweif seines Pferdes gebunden, fortschleifte.

Nach Verlauf einiger Minuten eines rasenden Ritts war Valdes tot und selbst seine ergebensten Kampfgenossen hätten die entstellten Züge ihres Anführers nicht wiedererkennen können, wenn nicht eine Hand über seinem an dem Tor der Hazienda del Valle angenagelten Kopf den Namen des Banditen und des Mannes, der diesen Kopf vom Rumpf trennte, geschrieben hätte.

Als nun die wilden Leidenschaften des Capitanos durch den Tod des ersten, den Mahnen seines Vaters dargebrachten Schlachtopfers ein wenig zur Ruhe gekommen waren, gewannen Gefühle, die der Durst nach Rache in den Hintergrund gedrängt hatte, nach und nach die Oberhand. Rafael fühlte das Bedürfnis, seine Handlungsweise, die dem Anschein nach in den Augen der Bewohner der Hazienda nicht zu entschuldigen war, zu rechtfertigen, aber ein gerechter Stolz verhinderte ihn daran. Sollte ein Sohn, der seinen Vater zu rächen hat, noch gehalten sein, die Erfüllung einer heiligen Pflicht zu rechtfertigen? Sollte er um Verzeihung bitten, weil er der Feind einer Sache geworden war, die ferner nicht mehr die seine sein konnte?

Dieses stolze Schweigen, in das er sich hüllte, sollte den Untergang seiner Hoffnungen vollenden und die Schranke, die sich plötzlich zwischen seiner Liebe und ihm erhoben hatte, noch unübersteigbarer machen.

Die Nachricht vom Tod Valdes’, die ein Reisender, der auf seinem Weg die Hazienda erreichte, zugleich mit dem Inhalt der Inschrift, die den Urheber nannte, überbrachte, traf dort wie Blitz aus heiterem Himmel ein. Unglücklicherweise hatte der Reisende seinen Worten das nicht mitteilen können, was er selbst nicht wusste: den Tod des Don Luis Tres-Villas, der die Ursache dieser blutigen Wiedervergeltung war.

Von diesem Moment an betrachteten die Bewohner der Hazienda den Hauptmann nicht anders als einen Verräter, der unter dem Deckmantel des reinsten Patriotismus seine glühenden Sympathien für die Unterdrücker des Landes, das ihn hatte geboren werden sehen, verbarg.

Nun übernahm die Liebe Gertrudis’ die Rechtfertigung, die Don Rafaels Stolz verschmähte.

»Mein Vater!«, sagte sie mit einem Ton, der die Tiefe des Schmerzes, der sie getroffen hatte, verriet. »Ist es denn unmöglich, dass von einem Tag zum anderen bei uns eine Nachricht anlangen kann, in der uns Don Rafael die Beweggründe seiner Handlungsweise auseinandersetzt?«

»Selbst in dem Fall«, erwiderte Don Mariano, »wenn er uns dies auseinandersetzen würde, wäre er darum weniger ein Verräter an seinem Vaterland? Nein, nein, er weiß, dass ihn nichts freisprechen kann, und er wird es selbst nicht zu versuchen wagen, sich sein unwürdiges Benehmen verzeihen zu lassen.«

Die Nachricht blieb in der Tat aus und Gertrudis war nun darauf angewiesen, ihre Tränen im Stillen zu unterdrücken. Dennoch hatte die kühne Herausforderung der Insurrektion, die seine Hand auf das Tor der Hazienda del Valle geschrieben hatte, etwas zu Ritterliches, um nicht noch wenigstens einige Zeit der Sache des Abwesenden das Wort zu reden.

Einen Augenblick lang hatte sie sogar gesiegt, als man schließlich erfuhr, dass der Kopf des Insurgentenhäuptlings nur den Platz ausgefüllt hätte, den früher das greise Haupt seines Vaters eingenommen hatte, dass Blut nur Blut sühnt.

Wenn in diesem Augenblick der Hauptmann vor sie hingetreten wäre, so würde Don Mariano auch jetzt nicht in die Verbindung mit einem an der heiligen Sache der mexikanischen Unabhängigkeit Treulosen gebilligt haben. Aber eine offene, aufrichtige Erklärung hätte ihn wenigstens in den Augen des Haziendabesitzers und seiner Tochter insofern gerechtfertigt, dass sie ihn von jedem Verdacht von Treulosigkeit und Verrat freigesprochen hätten. Da es ihm aber gänzlich unbekannt war, dass der Tod seines Vaters erst nach dem des Antonio Valdes zu Ohren der Bewohner der Hazienda gedrungen war, so versäumte er somit aus ganz entschuldbarer Art den ohne sein Wissen gebotenen günstigen Anlass.

Die beiden royalistischen Hauptmänner, Caldelas und Don Rafael, hatten aus der Hazienda del Valle, die befestigt und mit der einen Kanone, die ihnen der Kommandant der Provinz hatte zukommen lassen, armiert worden war, eine Art Zitadelle gebaut, die allen Streitkräften der Insurgenten trotzen konnte. Don Rafael, der fortwährend mit größter Hartnäckigkeit die beiden anderen Mörder seines Vaters, Arroyo und Bocadro, verfolgte, überließ die Sorge der Bewachung gänzlich den Händen Caldelas.

Der Capitano Tres-Villas, der ganz der Stimme seines Herzens folgte, hatte endlich einen Vermittlungsweg zwischen denen, die einerseits seine Liebe, andererseits sein Stolz vorzeichneten, ausfindig gemacht. Den Gedanken einer Nachricht verwerfend, beschloss er, sich persönlich zur Hazienda zu begeben. Durch die Glut seiner Vergeltung hingerissen, hatte der Hauptmann, um nicht bei dem Wiedersehen Gertrudis in seinen Vorsätzen wankend zu werden, jede Erklärung mit ihr und ihrem Vater bis zur Erfüllung eines Teiles seines Gelübdes, das ihm seine kindliche Liebe abgenötigt, verschoben.

Sein verzweifelter Kraftaufwand hatte bis jetzt nur dazu geführt, die Truppe der beiden Mörder Mann für Mann zugrunde zu richten. Sie selbst entgingen stets seinen Nachstellungen. Endlich verbreitete sich ungefähr zwei Monate nach dem Tod Valdes’ das Gerücht, dass Arroyo und Bocadro die Provinz verlassen hätten, um mit den Trümmern ihrer Horden zum Heer Hidalgos zu stoßen.

Nun kehrte auch Don Rafael zur Hazienda del Valle zurück, die noch von Caldelas bewacht wurde. Während seiner Abwesenheit war ein Befehl vom Generalkommandanten der Armee des Vizekönigs eingelaufen, der ihn aufforderte, seine Stelle im Regiment der Königin-Dragoner wieder einzunehmen.

Bevor er diesem Befehl nachkam, beschloss Don Rafael, obgleich er schon lange beim Regiment hätte sein sollen, sich einen Tag mit den Angelegenheiten seines Herzens zu befassen und sich zu der Hazienda las Palmas zu begeben, um hier seinen Hochmut vor seiner Liebe zu beugen.

Jetzt war eine Rechtfertigung schon viel schwieriger, als sie es vor zwei Monaten in den Augen Don Mariano Silvas gewesen wäre. Der Schein hatte sich in Wirklichkeit, der Argwohn in Gewissheit verwandelt, und Don Rafael war in seinen Augen nichts, als ein gemeiner Abtrünniger. Einige Worte bildeten und drückten die Meinung Don Rafaels aus, und diese Worte klangen in jedem Augenblick in den Ohren Doña Gertrudis wie eine dunkle, schon in Erfüllung begriffene Vorbedeutung wider.

»Beweine nicht den Niedergang Don Rafaels«, sagte Don Mariano, wenn er es versuchte, den Tränenquell seiner Tochter versiegen zu lassen. »Er hinterging seine Geliebte, wie er sein Vaterland hinterging …«

Seltsame Sache in den Augen des Vaters! Die Tränen seiner Tochter flossen dann reichlicher und bitterer.

So groß war die Zuneigung, die Don Mariano ehemals dem jungen Offizier gewidmet hatte, so groß waren die Schätze der Zärtlichkeit, die in Gertrudis’ Herzen für ihn aufgespeichert waren, dass er ohne Zweifel, wenn er mit erhobener und von versnobt erfüllter Pflicht triumphierender Stirn in die Hacienda gekommen wäre, die Freimütigkeit seines Blickes und die Biederkeit seiner Worte bald die unheilvollen Wolken zerstreut haben würde.

Bedauerlicherweise hatte das Schicksal entschieden, dass er, wenigstens als Freund, die gastfreundliche Schwelle von las Palmas nicht mehr überschreiten sollte.

Obgleich die Entfernung zwischen den beiden Besitzungen del Valle und las Palmas nicht mehr als eine Stunde betrug, so hielt es Don Rafael, der in der ganzen Gegend als einer der erbittertsten Feinde der Insurrektion verschrien war, von der Findigkeit geboten, sich auf dem Weg von einem halben Dutzend seiner Leute begleiten zu lassen.

Diese Vorsicht war keineswegs unnütz.

Rafael und seine Eskorte gelangten, nachdem sie die Hügelkette, deren Gipfel die Terrassen der Hazienda beherrscht, an das Tor, das ehemals an dieser Seite zum Ausgang gedient hatte. Jetzt war es zugemauert und Don Rafael daher gezwungen, die Runde um die Hazienda zu machen, um zu dem Eingang der Esplanade zu gelangen. Kaum war er um die Ecke des Gebäudes passiert, als sich plötzlich seine kleine Truppe von allen Seiten von einem Dutzend Reitern mit grimmigen Gesichtern umringt sah.

»Tod dem Verräter! Tod dem Schakal!«

In demselben Augenblick, als diese Rufe das Ohr des erstaunten Don Rafael erreichten, streifte einer der Angreifer mit der Brust seines Pferdes die Seite dessen, welches der Offizier ritt, dass es sich mit seinem Reiter überschlug.

Jetzt wäre es um Don Rafael beinahe geschehen gewesen, wenn es ihm nicht bei seiner Geschicklichkeit, die sich mit der herkulischen Kraft, die ihm innewohnte, paarte, gelungen wäre, sich von den Steigbügeln loszumachen und mit einem Sprung auf das Pferd eines seiner Begleiter zu schwingen, der eben erdolcht aus dem Sattel stürzte.

Durch die Stimme ihres Anführers, den sie tot geglaubt hatten, wieder belebt, durchbrachen die fünf Überlebenden, ungeachtet des Missverhältnisses hinsichtlich der Zahl, die Reihe der Angreifer und schlugen sich in die Berge, wohin ihnen die Insurgenten nicht zu folgen wagten.

Ein Toter und das verlorene Pferd Don Rafaels waren die materiellen Verluste, die der Hauptmann bei dem Versuch erlitten hatte, die zwei Monate seines Schweigens zu rechtfertigen. Er schlug nun den Weg zur Hazienda del Valle wieder ein.

Groll und Betroffenheit erfüllten sein Herz. Dieselbe Hazienda las Palmas, deren hoch gefeierter und gern gesehener Gast er einst gewesen war, enthielt für ihn nur Feinde, die nach seinem Blut dürsteten.

»Es ist sonderbar«, sagte einer der Reiter der kleinen Trupps, die Rafael in einiger Entfernung folgte. »Man behauptete, dass Arroyo und Bocadro das Land verlassen hätten, und wenn ich mich nicht täusche …«

»Ja, sie waren es«, erwiderte ein zweiter Reiter, »ich habe sie wiedererkannt, habe mich aber gehütet, es dem Hauptmann zu sagen. Er ist so verbissen auf sie, dass wir ihn nicht hätten zur Flucht bewegen können, wenn er gewusst, welche Leute er vor sich hatte.«

Während dieser Zeit kehrten die in ihren Hoffnungen getäuschten Angreifer in die Hazienda zurück.

»Dreifacher Narr, der ich war«, sagte zu einem seiner Gefährten ein Mann mit wildem und gemeinem Gesicht und mit ebenso kolossalen Gliedern, wie sein Stierhals. »Anstatt ihn in die Hazienda eindringen zu lassen, wo wir ihn in unserer Gewalt gehabt hätten – und Arroyo denkt, er war es wirklich«, vollendete er seine Floskel mit einer bezeichnenden, furchtbaren Geste.

»Don Mariano würde es nicht zugegeben haben«, erwiderte sein Gefährte, der ebenso dürr, wie der Erstere unförmig war, aber zugleich listig und wild wie ein Marder aussah.

Dieser Mann war Bocadro, der Gefährte Arroyos.

»Wir würden ihn nicht nach seiner Erlaubnis gefragt haben«, entgegnete Arroyo mit grimmigem Gesicht, »ebenso, wie wir nicht mehr in Tätigkeit Don Marianos stehen. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo die Knechte die Herren ihrer Herren werden müssen. Was kümmere ich mich um die Gleichsetzung des Landes. Was ich will, ist Lebenssaft und Plünderung!«

Bei diesen Worten, welche die wahre Geisteshaltung des wilden Insurgenten verrieten, flammte ein Blitz der Wut in seinen Augen auf.

»Nun werden wir fliehen müssen«, fügte er hinzu, »denn, wenn der wütende Hauptmann vernimmt, dass wir hier sind, so hält ihn nichts von der Welt ab, wieder zu kommen und Feuer an alle vier Ecken der Hazienda anzulegen, um uns lebendig zu braten!«

»Dreifacher Narr, der ich bin, auf dich gehört zu haben.«

»Wer konnte es denn voraussehen, dass er uns entwischen würde?«, erwiderte Bocadro, vor dem Ausdruck des Gesichts seines Gefährten erschrocken.

»Du!«, brüllte der Bandit.

Und von seiner Wut hingerissen, seinen größten Gegenspieler entwischen zu lassen haben, zog Arroyo seinen Dolch und versetzte Bocadro mit dem Griff desselben einen so gewaltigen Stoß vor die Brust, dass dieser wie eine leblose Masse mit einem Schmerzensgezeter vom Pferd stürzte.

Während er es seinem Gefährten überließ, sich so gut, wie er es vermochte, wieder auszuhelfen, schien sich der Guerillero eines anderen besonnen zu haben. Er trieb sein Pferd durch das Tor der Hazienda, sprang im Hof aus dem Sattel und verschwand im Gebäude, seinen Karabiner in der Hand.

Einige Minuten später ritt Don Rafael nachdenklich den Hang hinauf, der auf den Gipfel des Hügels führte, als überraschend ein Schuss, der von der Terrasse der Hazienda abgefeuert wurde, seinen nächsten Begleiter tödlich getroffen niederstreckte.

Ein bitteres Lächeln spielte um die Lippen Don Rafaels und stechendes Weh durchzuckte sein Herz, indem er diesen Weggang mit dem verglich, der ihn vor zwei Monaten begleitet hatte. Die Kugel hatte gerade den Reiter getroffen, der es für klug gehalten hatte, seinem Hauptmann den Namen zweier seiner Gegner zu verschweigen.

»Das ist Arroyo, der den Schuss abgefeuert hat«, rief unwillkürlich der, welcher geglaubt hatte, den Banditen wiedererkannt zu haben.

»Arroyo ist in der Hazienda und Ihr habt es mir nicht gesagt?«, rief der Hauptmann mit wütendem Tonfall. Sein Bart sträubte sich wie die Mähne eines Löwen, der über seine Beute herfallen will.

»Ich wusste nicht … ich war meiner Sache nicht gewiss …«, stammelte der Reiter.

Es fehlte wenig und Don Rafael hätte ihn in der Aufwallung seines Ärgers noch schnöder behandelt, als Arroyo seinen Gefährten. Solange bezwang er sich, schickte aber, ohne die Folgen, die daraus entstehen konnten, zu bedenken, den am besten berittenen Reiter seiner Begleitung zur Hazienda del Valle mit dem Auftrag, ihm, ohne eine Minute zu verlieren, ungefähr fünfzig gut bewaffnete Leute mit einigen Petarden zuzuführen, um das Tor der Hazienda zu sprengen.

Der Reiter jagte im Galopp davon, und Don Rafael erwartete nun, indem er sich mit seinen drei übrig gebliebenen Leuten hinter einer Krümmung des Wegs, welche ihm Schutz gegen die Kugeln gewährte, postierte, die Rückkehr seines Boten.

Nach und nach kühlte sich sein siedendes Blut ab und er dachte über den Auftritt der Feindseligkeit, den er gegen den Vater Gertrudis’ auszuführen im Begriff stand, in trübem Hinbrüten nach.

Ein heftiger Kampf entspann sich in seinem Innern zwischen ganz entgegengesetzten Befürchtungen, die sich fast mit gleicher Macht erhoben.

Gleichviel, ob er bei seinem Entschluss beharrte oder nicht, es schien ihm eine Tempelschändung, was er zu unternehmen im Begriff stand. Dennoch sprach die Stimme der Verpflichtung ebenso gebieterisch wie die der Leidenschaft in der Tiefe seines Herzens. Welcher von beiden sollte er gehorchen?

Noch war der ebenso lange wie heftige Kampf zwischen den beiden einander widerstrebenden Gefühlen nicht ausgekämpft, als die Bedeckung anlangte. Was nun auch daraus werden mochte, jetzt konnte Don Rafael nicht mehr zurück. Dieses Mal trug noch die Pflicht den Sieg davon.

Der Offizier zog seinen Degen und setzte sich an die Spitze seines Detachements. Auf ein Zeichen von ihm blies der Trompeter einen Marsch und benachrichtigte so die Bewohner der Hazienda, dass ein Kavalleriekorps die Hügelkette überschreite.

Einige Minuten darauf stellte sich das Kommando in Reihe und Glied vor der Esplanade auf. Ein Spanier ritt vor. Von Neuem schmetterte die Trompete. Der Parlamentär forderte Don Mariano im Namen des Capitanos der königlichen Armee Don Rafael Tres-Villas auf, die beiden Halunken, Arroyo und Bocadro, tot oder lebend auszuliefern.

Nach dieser Aufforderung blieb Don Rafael unbeweglich im Sattel, mit bleicher Stirn und klopfendem Herzen erwartete er die Antwort.

Das tiefste Schweigen diente ihm als solche.